Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 55
Reize der Populärkultur
ОглавлениеDie Verbreitung der Massenkultur schien erfreulichere Aspekte ins moderne Leben hineinzubringen, denn sie bot den schwer arbeitenden Massen erschwingliche Zerstreuung und Freizeitbeschäftigung. Es gehört zu den Folgen rascher Urbanisierung, dass eine säkulare Populärkultur, die vorwiegend in Gaststätten, Vereinen, öffentlichen Shows und Paraden gepflegt wurde, die traditionellen ländlich-agrarischen und religiösen Volksbräuche nach und nach verdrängte. Während des späten 19. Jahrhunderts bescherten die Perfektionierung von Erfindungen wie der Linotype-Setzmaschine, des Grammophons, des Filmprojektors und des Radioempfängers nie dagewesene sinnliche Erfahrungen, wenn auch zunächst nur den Eliten, die sich nun auf neuartige Weise informieren und unterhalten lassen konnten. Als die Massenproduktion diese Gerätschaften so stark verbilligte, dass sie das große Publikum erreichten, entstand eine stetig wachsende Kulturindustrie, die nicht nur den Gebrauch dieser Dinge demokratisierte, sondern auch Inhalt und Stil dessen, was da vermittelt wurde.1 Dass der Lebensstandard der Unterschichten sich verbesserte und ihre Mußezeit allmählich zunahm, setzte eine Entwicklung neuer Freizeitaktivitäten in Gang. Man konnte Großveranstaltungen mit Profisportlern verfolgen oder die Angebote des Massentourismus wahrnehmen; die Palette der Erholungsmöglichkeiten erweiterte sich zusehends. All dies kostete eine Menge Geld, versprach aber auch prächtige Profite. Doch wie stand es bei den ganzen Veränderungen um die Gefahr politischer Einflussnahme, wie um das intellektuelle Niveau? Befriedigende Antworten auf diese Fragen sollten sich nicht leicht finden.
Eine wichtige Innovation war die Entwicklung der Massenpresse, mit der man die Öffentlichkeit aufklären, aber auch agitieren konnte. Dank der zunehmenden Alphabetisierung wuchs die Zahl der Leser, die Linotype-Setzmaschine erleichterte die Herstellung, das Schalten von Werbung senkte die Kosten, und Nachrichtenagenturen wie AP, Reuters, Havas oder W. T. B. lieferten den Inhalt. In den großen Städten wetteiferten Dutzende von Morgen- und Abendzeitungen miteinander, die auf verschiedenen Niveaus Informationen, Unterhaltung und Kommentare boten. Der Zusatz von Grafiken, Karikaturen und Fotografien verstärkte den visuellen Reiz der illustrierten Magazine. Während Boulevardblätter wie die Daily Mail oder die Berliner Zeitung ihr Massenpublikum mit schrillen Schlagzeilen und primitiven Inhalten in Erregung versetzten, wobei sie eklatante Vorurteile pflegten, präsentierten sich seriösere Periodika wie die London Times, Le Temps oder das Berliner Tageblatt mit einer zurückhaltenden Aufmachung, verlässlichen Informationen und anspruchsvollen Reflexionen.2 Für ihre täglichen Kunden schufen diese Zeitungen einen neuen geistigen Raum und erweiterten deren Horizont; der Blickwinkel weitete sich vom Wohnviertel auf die ganze Stadt und von der Region auf das ganze Land.
Der erste Apparat, der Musik und gesprochenes Wort zu den Leuten nach Hause brachte, ohne dass es einer Live-Darbietung bedurfte, war der Plattenspieler. Als Ersatz für mechanische Klaviere oder Spieldosen erfand Thomas Alva EdisonEdison, Thomas Alva 1878 den Phonographen, in dem ein Diamant in Wachszylinder geritzte Rillen abtastete und diese so in Schallwellen umwandelte. Ein Jahrzehnt später präsentierte Emil BerlinerBerliner, Emil ein weniger sperriges Aufnahmemedium, das sich dann durchsetzte: eine flache rotierende Scheibe aus Schellack mit standardmäßig 78 Umdrehungen pro Minute, die optimale Klangwiedergabe ermöglichte. Sie verbesserte sich während der 1920er Jahre weiter durch den Einsatz neu entwickelter technischer Hilfsmittel: Mittlerweile nahm man über Mikrofone auf und benutzte zum Antrieb der Grammophonteller Elektromotoren. Die großen Plattenfirmen wie Columbia, Victrola, Pathé und Deutsche Grammophon boten ihren Kunden ein breites Spektrum an Platten, in dem alle Musikrichtungen vertreten waren, von Opern und anderem Klassischem für den Connaisseur bis hin zu Vaudeville-Schlagern fürs Ladenmädchen. Wer Musik um sich haben wollte, musste nicht mehr mühsam ein Instrument erlernen; dank der Leistungsfähigkeit mechanischer Gerätschaften konnte er sich die exquisitesten künstlerischen Darbietungen ins Haus holen. Doch nachdem die Tonträgerindustrie einmal entdeckt hatte, dass sich Volkstümliches besser verkaufte als anspruchsvolle Kompositionen, setzte sie einen neuen Schwerpunkt und produzierte vorzugsweise banale Hits, um die Massen zu unterhalten.3
Die Kinematografie war eine weitere Technik, die dem Publikum neue Phantasiewelten eröffnete. Neben Fotografien, die letztlich Standbilder wie die Erzeugnisse der alten laterna magica blieben, gab es nun auch bewegte Bilder. Ein Verfahren, Letztere auf Zelluloid zu bannen, hatte Edison bereits erfunden, und in Lyon entwickelten die Brüder LumièreLumière, Nicolas und Louis Jean eine Apparatur, mit der sich das Festgehaltene auf eine Leinwand projizieren ließ. Der erste – noch recht kurze – kinematografische Film wurde 1895 in einem BerlinerBerlin Varieté vorgeführt. Regisseure experimentierten mit der Kapazität des neuen Mediums, zeigten Szenen aus dem Alltagsleben, erzählten aber auch schon Geschichten wie Edwin S. PorterPorter, Edwin S. 1903 in seinem Streifen The Great Train Robbery. Der Schlüssel zum Erfolg lag im Aufbau ganzer Studios, in denen sich Filme herstellen ließen. Ebenso notwendig waren Betriebe, die zahlreiche Kopien des Filmes fertigten, die dann wiederum an spezielle Filmtheater verteilt werden mussten. Diese Lichtspielhäuser konnten es sich leisten, niedrigere Eintrittspreise zu nehmen als die – personalintensiveren – traditionellen Bühnen, an denen Schauspieler aus Fleisch und Blut agierten, was den Kinos einen Massenandrang bescherte. Während Hollywood für die große Konsumentenschar spannende Western, glamouröse Variety-Shows und lustige Charlie-Chaplin-Komödien produzierte, war manchen kontinentalen Studios, etwa denen der UFA in BabelsbergBabelsberg, auch künstlerische Qualität ein Anliegen; dies bezeugen namentlich expressionistische Filme wie Das Kabinett des Doktor Caligari.4 Ab Ende der 1920er Jahre waren die Streifen dann nicht länger stumm. Nun sah man die Akteure nicht nur, sondern hörte sie auch, weshalb die ersten Tonfilme in der amerikanischen Umgangssprache talkies hießen. Spätestens jetzt liebte das Publikum das neue Medium, weil es täuschende Wirklichkeitsnähe mit imaginär-fiktiven Inhalten verband.
Indem er seine Programme direkt in die Heimstätten der Menschen sendete, wirkte sich auch der Rundfunk auf die kulturellen Gewohnheiten aus. Guglielmo MarconiMarconi, Guglielmo und andere hatten die Technologie auf der Grundlage der drahtlosen Telegrafie entwickelt; erste Versuche fanden um 1900 in England statt. Nicht sofort wurde sie ein Massenmedium, denn die notwendigen Transmitter waren kostspielig, die Signalreichweite blieb begrenzt, und die Hörer mussten komplizierte Detektoren kaufen. Seinen wahren Durchbruch erlebte der Rundfunk erst in den 1920ern, dann aber entwickelte und verbreitete er sich ziemlich rasch. In Europa wurde das Problem, wie die Dienstleistung zu finanzieren sei, gelöst, indem man Gebühren von den Nutzern erhob. Die Obrigkeiten begriffen nur zu gut, welche Möglichkeiten ihnen das Medium bot; so ließen sich etwa Nachrichten und Kommentare in ihrem Sinne einfärben und schattieren. Deshalb sicherten sich die Regierungen die rechtliche Kontrolle über die Anstalten, wofür sie einschlägige öffentliche Körperschaften gründeten, z. B. die British Broadcasting Corporation (BBC). Anfangs konnte man nur in größeren Städten Radio hören; entsprechend rechneten die Rundfunkmacher mit einem eher elitären Publikum und brachten kulturell wertvolle Inhalte. Als jedoch die Empfänger preiswerter wurden und immer mehr Menschen einen erwarben, mussten die Sender ihre Programme dem simpleren Geschmack der Massen anpassen. Diktatoren wie Stalin und Mussolini unterstützten den Ausbau drahtloser Übertragung besonders eifrig, denn durch das Radio konnte ihre Propaganda viel mehr Leute erreichen als durch Printmedien.5
Dass vielen jetzt mehr Mußezeit und mehr Geld zur Verfügung standen, trieb auch die Entwicklung der Massenfreizeitkultur voran; besonders das öffentliche Sportwesen expandierte. Dessen Anfänge lagen in den britischen Privatschulen, wo man schon länger zu wissen glaubte, dass athletische Wettbewerbe den Charakter stählten. Nun bemerkte man, dass sie außerdem geeignet waren, Zuschauende zu unterhalten. Während die Eliten kostspielige Aktivitäten wie Tennis, Segeln und Reiten bevorzugten, entschieden die weniger gut Betuchten sich lieber für preiswertere Betätigungen wie Wandern, Schwimmen, Fahrrad- oder Kajakfahren. Die Olympische Bewegung, die den »Amateursportler«, der nur um der Sache und nicht um des eigenen Vorteils willen »dabei« sei, in den Mittelpunkt rückte, sprach eher die oberen Klassen an, während Spektakel wie Boxen, Radrennen und Fußball die Volksmassen herbeilockten. Die gewaltigen Ticketeinnahmen, die bei solchen Großereignissen zusammenkamen, erlaubten den Akteuren, ins Profilager zu wechseln und nur noch für Wettkämpfe zu trainieren. Erfolgreiche Athleten wie der deutsche Boxer Max SchmelingSchmeling, Max oder der italienische Radrennfahrer Fausto CoppiCoppi, Fausto wurden Stars, bewundert von Tausenden Fans. Dass dem Sport ein beträchtliches Propagandapotenzial innewohnte, begriffen auch die Diktatoren und förderten ihn kräftig. Um nationalistische Leidenschaften anzufachen, ließen sie ihre Länder an internationalen Wettkämpfen teilnehmen, so an den Olympischen Spielen und der Fußballweltmeisterschaft, und wenn ihre Athleten Preise und Medaillen heimbrachten, deuteten sie dies als Beweise für den Wert und die Stärke ihrer Regimes.6
Ausgebaute Beförderungsnetze und bezahlter Urlaub begünstigten ein weiteres Phänomen der Moderne, den Massentourismus. Scharenweise begaben sich Menschen in berühmte Städte oder in Naturlandschaften; manche wollten sich bilden, manche sich erholen. Organisierte Reisen zu entfernteren Orten hin hatte es zwar schon früher gegeben, man denke an das religiöse Pilgertum oder die grand tour der Adeligen. Was nun aber britische Unternehmer in diesem neuen Gewerbe, namentlich Thomas CookCook, Thomas, ihren Kunden anboten, ging darüber hinaus. Sie animierten die mittleren Klassen, ferne Länder zu besuchen, und priesen das Reisen als eine Form der Zerstreuung. Dank längerer Freizeit und etwas mehr Kleingeld konnten zunehmend auch die unteren Klassen am Wochenende einmal wegfahren, mindestens zu nahegelegenen Seen oder Wäldern, und sich dort regenerieren. Niedrigere Eisenbahn- und Dampfschifftarife ermöglichten selbst Leuten mit bescheideneren Budgets, weitere Strecken zurückzulegen, mochten die Ziele nun spektakuläre Gebirgszüge sein wie die Alpen oder die jüngst ausgebauten Seebäder. Zeigten sich Naturliebhaber mit spartanischer Unterbringung zufrieden, bestand die Mehrheit der Touristen auf Luxus, weshalb sich eine ganz neue Industrie entwickelte, zu der Hotels, Museen und andere Attraktionen gehörten.7 Und wieder wussten die Kommunisten wie die Faschisten die Innovation für ihre Zwecke auszubeuten: Indem sie den Bürgern preiswerte Ferien anboten – den Jüngeren über einschlägige Organisationen wie den Komsomol, den Erwachsenen über Clubs wie den Dopolavoro –, konnten sie ihre jeweilige Ideologie populärer machen.
Als letzter Aspekt der Populärkultur sei die Transformation der Geschlechterrollen erwähnt. Diese verdankte sich auch dem kulturellen Konstrukt der »neuen Frau«, propagiert von den Feministinnen und den Medien. Während die Suffragetten, die meist der Oberschicht entstammten, gleiche Bildungschancen und politische Rechte reklamierten, wagten die Frauen der Mittelschicht immer häufiger den Schritt aus dem klassischen Hausfrauendasein, indem sie zumindest vor der Heirat als Verkäuferinnen oder Sekretärinnen arbeiteten. Frauen aller Schichten hatten die viktorianischen Korsetts und Turnüren satt, und statt kunstvoll gestalteter Haartürme waren nun schlichte, androgyne Stutzfrisuren en vogue, etwa der Bob. Nachdem sie in England und Deutschland das Wahlrecht bekommen hatten, gründeten die Frauen eigene Interessenverbände und beeinflussten auch die Gesellschaftspolitik, wobei sich bestimmte Hoffnungen, etwa auf liberaleres Scheidungsrecht und legalisierte Abtreibung, überwiegend bald zerschlugen. Doch feierten immerhin die Illustrierten und der Film einen weiblichen Typus, der von Traditionen abrückte: Sogenannte flappers, Frauen mit knabenhaft schlanker Figur, die selbstbewusst auftraten und rauchten, wurden modische Ikonen, denen urbane Mädchen nacheiferten. Die Befreiung der Frauen von einigen der bisherigen Zwänge verlangte auch eine Neudefinition der männlichen Rolle weg vom Patriarchat, hin zur Partnerschaft in der Ehe.8 Diese beiden Faktoren, die einander verstärkten – einerseits die unzähligen technischen Fortschritte des noch jungen Jahrhunderts, andererseits neue Entwicklungen in Stil und Lebensweise –, verschafften der Modernität ein positives Image.