Читать книгу Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert - Konrad H. Jarausch - Страница 49
Der faschistische Staat
ОглавлениеObwohl sie viele traditionelle Elemente verwendete, unterschied sich die faschistische Diktatur von konventionellen autoritären Regimen dadurch, dass sie moderner war und stärker in sämtliche Lebensbereiche eingriff. MussoliniMussolini, Benito selbst behauptete mit der für ihn typischen Übertreibung: »Der Faschismus versteht den Staat als allumfassend; außerhalb seiner können menschliche oder geistige Werte nicht existieren, geschweige denn gelten. Insofern ist der Faschismus totalitär, und der faschistische Staat – eine Synthese und eine Einheit, die alle Werte umschließt – interpretiert, entwickelt und potenziert das ganze Leben des Volkes.« Mit dem Neologismus »totalitär« markiert MussoliniMussolini, Benito, dass der Faschismus mehr verlangt als den begrenzten Gehorsam, den Könige, Priester oder Generäle fordern. Sein Konzept geht weiter als bisherige Diktaturen, denn der Staat, den er plant, herrscht nicht nur politisch, sondern restrukturiert auch die Gesellschaft, bis in die Privatsphäre hinein.1 Der Faschismus will die Massen mobilisieren, um das Land fundamental zu transformieren sowie eine stolze und starke nationale Gemeinschaft zu schaffen, die in der Lage ist, Italien den ihm gebührenden Platz innerhalb der europäischen Nationen zu erkämpfen. So weit die Theorie. Um diese ehrgeizigen Ziele zu erreichen, musste Italien erst einmal gründlich faschisiert werden, und dafür setzte MussoliniMussolini, Benito ein ganzes Repertoire innovativer Maßnahmen ein.
Da die Doktrin des Faschismus verschwommen blieb und er in der praktischen Politik seine Positionen geschmeidig variierte, versteht man ihn vielleicht am besten als politisches Theater, als Selbstinszenierung, bei der öfter einmal das Programm wechselte, aber die Regie besorgte immer MussoliniMussolini, Benito. Den Kern bildete der Kult um il duce del fascismo, den faschistischen Führer, dessen sorgfältig erschauspielertes Charisma eine ganze Nation ermuntern sollte, ihm zu folgen. Weil MussoliniMussolini, Benito klein von Gestalt war, reckte er das Kinn vor, blähte die Brust, stieß die Arme in die Hüften, machte große Schritte und nahm dramatische Posen ein. Bilder zeigten ihn beispielsweise auf einem Pferd oder am Steuer eines Flugzeugs, um seine exorbitante Stärke und seinen außergewöhnlichen Weitblick zu unterstreichen. Wenn die Kolonnen der Schwarzhemden vor ihm paradierten, streckte er die Faust in die Luft – so ging damals der Römische Gruß –, um seine Autorität über seine Gefolgsleute zu demonstrieren. Manchmal mimte er auch den großen Staatsmann und präsentierte sich im eleganten Smoking, umgeben von ihn anhimmelnden Frauen – so betonte er seinen machismo. Bei besonderen Anlässen erschien er auf einem Balkon des Palazzo Venezia und richtete erbauliche Worte an die Menschenmenge, die er mit ausladender Gestik unterstützte. Propagandisten sorgten dafür, dass möglichst alle Schulen ein Porträt des DuceMussolini, Benito besaßen, und versäumten keine Gelegenheit, seine Heldentaten auf Zelluloid zu bannen und in Wochenschauen zu verbreiten, damit das gemeine Volk nur ja lernte: »MussoliniMussolini, Benito hat immer recht«.2
Der Faschismus führte auch neue syndikalistische und korporatistische Institutionen ein, um das Arbeitsleben zu disziplinieren und bei Entscheidungen darüber das Parlament zu umgehen. Die Syndikate erinnerten entfernt an Gewerkschaften; sie ersetzten die einschlägigen marxistischen Organisationen. Jene Verbände handelten Verträge mit den Unternehmern aus und vertraten die Interessen der Arbeiter, die sie gleichzeitig aber unter Kontrolle hatten. Als die wirtschaftliche Lage sich entspannte, gelang es den Syndikaten sogar, bescheidene Verbesserungen bei den Löhnen, bei den Freizeitbeschäftigungen und beim Kindergeld durchzusetzen. Das bekannte System der Korporationen war grundsätzlich nichts Neues, da der Faschismus es teils aus hierarchischen Partien der katholischen Soziallehre, teils aus der Geschichte übernommen hatte. Schon im Mittelalter hatte es ähnliche Organisationen gegeben, in denen Beschäftigende und Beschäftigte sich an einen Tisch setzten, verhandelten und ihre Interessen zum Ausgleich brachten; so ließen sich Klassenkonflikte vermeiden. Erste korporative Strukturen entstanden 1926; vier Jahre später expandierten sie zu einem Nationalrat der Korporationen, den man dann schließlich in 22 verschiedene Fachgruppen unterteilte. 1939 wurde das Parlament ersetzt durch die Camera dei Fasci e delle Corporazioni [›Kammer der Bünde und der Korporationen‹]; die Legislative war nun eine rein faschistische Beratungs- und Beschlusskörperschaft.3 Unter dem Vorwand, eine Alternative zum Kapitalismus wie zum Kommunismus zu bieten, diente diese korporative Struktur den Faschisten als Werkzeug, um das Land zu beherrschen und MussolinisMussolini, Benito Politik einen glatten Durchmarsch zu sichern.
Die Bemühungen der Faschisten, Italien zu transformieren, gipfelten in wiederholten Kampagnen zur Modernisierung der Ökonomie und zur Revitalisierung der Gesellschaft. Zwar hatte der Freihandel für einen Anfangsboom gesorgt; doch der Kollaps der Lira zwang MussoliniMussolini, Benito 1925 zu einer drastischen Aufwertung, bei der immerhin die hohen Zölle hilfreich waren. Als Reaktion auf die exorbitanten Preise importierten Getreides entfesselte er die »Weizenschlacht«: Er ließ die einheimische Landwirtschaft so fördern, dass sie reichere Ernten erzielte, um in diesem Sektor Autarkie zu gewinnen. Ferner suchte das Regime die Flucht in die Städte einzudämmen; ein Werbefeldzug glorifizierte die Vorzüge des Landlebens. Zudem wollte MussoliniMussolini, Benito die sinkende Geburtenrate bekämpfen: Frauen, die viele Kinder gebaren, erhielten Auszeichnungen und spezielle Hilfen; Junggesellen hingegen mussten höhere Steuern zahlen! Ein gewaltiges öffentliches Arbeitsprogramm widmete sich der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe, dem Bau von Straßen und der Versorgung der Landregionen mit Elektrizität. Des Weiteren gab MussoliniMussolini, Benito Impulse zur Gründung diverser halbstaatlicher Firmen; u. a. rief er eine Gesellschaft für Erdölraffination ins Leben, die AGIP, sowie ein »Institut für den industriellen Wiederaufbau«, das IRI, das nichts anderes war als eine von der Regierung kontrollierte Investmentbank. Mit großem Trara veranstaltet, brachten diese propagandatriefenden Kampagnen wohl ein paar sichtbare Erträge ein, doch änderten sie wenig an der untergründig fortbestehenden Schwäche der italienischen Wirtschaft.4
MussolinisMussolini, Benito größter Erfolg war die Aussöhnung Italiens mit der katholischen Kirche. An jener »Römischen Frage« hatten sich viele vorherige Regierungen vergeblich versucht – der DuceMussolini, Benito löste sie 1929. Seit 1871 vergiftete ein Zwist die Beziehungen zwischen dem Staat und dem Papsttum, doch die Entmachtung der Liberalen ebnete nun den Weg für einen Kompromiss. MussoliniMussolini, Benito selbst war zwar Atheist, aber er begriff die Notwendigkeit, die Katholiken ins faschistische Lager herüberzuziehen; Papst Pius XI. Pius XI.wiederum war nicht gerade entzückt vom Faschismus, aber Sozialisten und Kommunisten fürchtete er eben noch mehr. Freundliche Gesten seitens des Regimes wie die Rettung der Vatikanbank erleichterten ihm die Annäherung. Drei Jahre lang wurde verhandelt, dann standen die beiden sogenannten Lateranverträge. Der erste erkannte den Vatikan als souveränen Staat an und verfügte, dass dieser 1,75 Milliarden Lire als Entschädigung für den Verlust seiner weltlichen Besitztümer erhielt. Der zweite Vertrag erklärte den Katholizismus zur »einzigen Staatsreligion« Italiens. Die kirchliche Eheschließung besaß künftig – damit räumte man einen weiteren zentralen Streitpunkt aus – auch zivilrechtliche Geltung, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen wurde obligatorisch, und die gesellschaftliche Aktivität katholischer Laienorganisationen wie der Azione Cattolica (der ›Katholischen Aktion‹) war nunmehr erlaubt.5 Dieses Konkordat hatte entscheidende Bedeutung für die Stabilität von Mussolinis Herrschaft, indem es den Eindruck festigte, er regiere mit dem Segen der Kirche.
Die ideologische Indoktrination konzentrierte sich hauptsächlich auf die jungen Menschen; schließlich glaubte MussoliniMussolini, Benito fest, dass die Jugend den Schlüssel zur Zukunft in Händen halte, wie es in der Parteihymne »Giovinezza« feierlich hieß. 1926 gründeten die Faschisten ihre offizielle Jugendorganisation Opera Nazionale Balilla, kurz ONB. Aufgebaut nach dem Muster der Pfadfinder, kombinierte die ONB beliebte Freizeitaktivitäten mit Militarisierung und Propaganda. Jede Altersgruppe hatte eine eigene Stufe: Die Jungen begannen mit 6 Jahren als balilla, und wenn sie mit 21 junge Männer wurden, waren sie avanguardisti. Parallel wurden ähnliche Gruppen für Mädchen geschaffen. An der Universität konnten die Jungfaschisten dann in der Gioventù Universitaria Fascista (GUF) weitermachen, in der eine ähnliche Verschmelzung von ideologischer Indoktrination und sozialen Aktivitäten stattfand. Die staatlichen Schulen legten ebenfalls großen Wert auf politische Erziehung, denn jeder Schüler sollte nach seinem Abschluss ein stolzer, faschistisch gesinnter Italiener sein. Als man die Universitätsprofessoren zwang, einen Treueeid auf »das Vaterland und das faschistische Regime« zu leisten, verweigerten diesen nur zwölf von rund 1200, und jene zwölf wurden anschließend entlassen.6 All diese strammen Bemühungen hatten immerhin den Erfolg, dass die Jugend weitgehend faschistisch orientiert wirkte, jedenfalls nach außen hin; die Vagheit der Ideologie selbst indes verhinderte eine tiefergehende Beeinflussung.
Für die Erwachsenen schufen die Faschisten neue Formen der Populärkultur und der Massenfreizeit; sie offerierten müden Arbeitern billige Erholungsmöglichkeiten, um so deren Loyalität zu gewinnen. MussoliniMussolini, Benito erkannte schon früh das propagandistische Potenzial des Rundfunks, der 1924 zwar einen recht bescheidenen Anfang genommen, sich dann aber schnell weiterentwickelt hatte: 1938 befanden sich eine Million Geräte im Einsatz, und es wurde eifrig gelauscht, ob daheim oder in der Trattoria. Ähnlich förderten die Faschisten den Sport; Großereignisse wie das Autorennen Mille Miglia, der Fahrradwettbewerb Giro d’Italia und die Fußballweltmeisterschaft, die Italien 1934 und 1938 gewann, wurden aufwendig in Szene gesetzt. Die wichtigste Institution war das Opera Nazionale Dopolavoro, ein Netzwerk von Freizeiteinrichtungen (dopo lavoro bedeutet ›nach der Arbeit‹), dessen Mitgliederschar 1939 auf vier Millionen wuchs. Das Angebot umfasste Bars, Büchereien, Sportplätze, Tanzlokale, vor allem aber billige Urlaubsreisen; manches konnte man dank öffentlicher Finanzierung sogar gratis nutzen. Diese Organisation, unterstützt von Staat und Geschäftswelt, war sehr populär, bot sie doch preiswerte Erholung, wie sie sich viele Durchschnittsitaliener sonst nicht leisten konnten. Zwar war jede dieser Offerten von einer politischen Botschaft begleitet, doch das ließ sich ertragen, wenn man zu so günstigen Bedingungen an bestimmten Aktivitäten teilhaben wollte.7 Der Faschismus verdankte viel von seiner Popularität solchen »sanften Stabilisatoren« seines Regimes.
Als Diktator wollte MussoliniMussolini, Benito aber nicht nur geliebt, sondern auch gefürchtet werden, denn er glaubte, dass die Affekte der Massen, wie die der Frauen, grundsätzlich wankelmütig seien. Mochte seine Popularität bis 1936 steigen – die Macht des Faschismus beruhte nichtsdestoweniger auch auf Zwang und Repression: eine dunkle Kehrseite, die ausländische Beobachter oft übersahen. Der Weg zu dieser Macht war schon mit den Opfern der von den squadristi ausgeübten Gewalt gepflastert, denn seinen Erfolg hatte der Faschismus nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass er seine Feinde misshandeln oder ermorden ließ. Die Bewegung besaß eine eigene Geheimpolizei, genannt »Organisation für Überwachung und Unterdrückung des Antifaschismus«, kurz OVRA. 1926 wurde sie neu organisiert und politisiert, damit sie Oppositionelle effektiver jagen und zur Strecke bringen konnte. Viele Führungsleute konkurrierender Parteien, so der Katholik Don SturzoSturzo, Luigi, der Liberale Gaetano SalveminiSalvemini, Gaetano und der Sozialist Pietro Nenni,Nenni, Pietro wurden ins Exil getrieben. Aber selbst dort waren sie nicht sicher – Carlo RosselliRosselli, Carlo etwa, ein besonders entschiedener Gegner des Faschismus, wurde in der Normandie ermordet. Andere, wie der Historiker Luigi AlbertiniAlbertini, Luigi, mussten jahrelang in faschistischen Gefängnissen schmachten. In einem solchen saß auch der kommunistische Intellektuelle Antonio GramsciGramsci, Antonio und schrieb seine bahnbrechenden politischen Notizen, bevor er 1937 starb.8 Die italienischen Faschisten haben zwar weniger Menschen umgebracht als die Nazis oder die sowjetischen Kommunisten, doch den Bestand ihrer Diktatur verdankten sie – zumindest auch – skrupelloser Unterdrückung.