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Die Machtergreifung

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Die damals in Italien verantwortlichen Politiker verstanden nicht, wie gravierend die Modernisierungskrise war und welch erhebliche Schwierigkeiten die Neujustierung der Verhältnisse nach dem Krieg bereitete. Deshalb waren sie auch unwillig, die drastischen Maßnahmen zu ergreifen, die zur Bewältigung jener Probleme hätten erfolgen müssen. In den frühen 1920ern zeigte sich die parlamentarische Landschaft von drei Parteien geprägt: erstens der neu gegründeten Popolari, die den politischen Katholizismus repräsentierten und rund 100 Sitze innehatten; zweitens der gerade eine Blütezeit erlebenden, allerdings zwischen revolutionärer Rhetorik und reformistischer Praxis zerrissenen Sozialisten mit ca. 150 Sitzen; drittens der langsam erodierenden liberalen Zentristen, hinter denen die weltlich gesinnten Kreise der Mittelschicht standen, mit etwa 90 Sitzen. Die Faschisten betraten diese Arena formal 1921 unter dem Namen Partito Nazionale Fascista (PNF). Nun waren die Führer der drei großen Parteien – Don SturzoSturzo, Luigi, TuratiTurati, Filippo und GiolittiGiolitti, Giovanni – seinerzeit vorwiegend mit parlamentsinternen Manövern beschäftigt und nahmen Mussolini nicht ernst. Der sei doch, hieß es, bloß ein populistischer Parvenü, den man bestimmt im Zaume halten könne, etwa indem man seiner Bewegung mit Kooptation zusetze. Wie der Rest des italienischen Establishments unterschätzte auch der sonst so gewitzte GiolittiGiolitti, Giovanni durchweg die Bedrohung, die von jener neuen rechten Formation ausging. Also setzte er die Faschisten auf seine Liste der zur 1921er Wahl zugelassenen Parteien – und verschaffte ihnen dergestalt 170 000 Stimmen und 35 Sitze.1 Obwohl es unter den Arbeitern immer stärker brodelte, die Gewalt in den Straßen zunahm und die Parlamentarier wissen mussten, dass sie sich um diese Dinge zu kümmern hatten, spielten sie gewissermaßen lieber weiter Reise nach Jerusalem und ignorierten den draußen aufziehenden Gewittersturm.

Der wachsende Erfolg der Faschisten stellte MussoliniMussolini, Benito vor die Herausforderung, Popularität in Macht umzuwandeln, und das innerhalb eines Systems, das er explizit zu verachten vorgab. Dank ihres Zulaufs aus der Land- und Stadtarbeiterschaft sowie aus der unteren Mittelschicht war die faschistische Bewegung im Herbst 1922 auf rund 200 000 Mitglieder angeschwollen. Damit wurde es immer schwieriger, sie zu kontrollieren.2 Eine Weile versuchte MussoliniMussolini, Benito, das Spiel des Parlamentarismus mitzuspielen, und kooperierte mit seinen geschworenen Feinden, den Sozialisten, gegen die geschwächte liberal-zentristische Regierung, doch darin weigerten sich seine Milizen, ihm zu folgen. Ende 1921, als er die Bewegung zur PNF formalisierte, machte er die widerspenstigen squadristi zum militärischen Arm der Partei. Nach und nach eroberten die Faschisten mit ihrer Kombination aus Agitation und Gewalt strategisch wichtige Städte, so FerraraFerrara, CremonaCremona, ParmaParma, RavennaRavenna und LivornoLivorno. Nun endlich erwachten die Sozialisten, die angesichts der drohenden Gefahr zum Generalstreik aufriefen – doch dieser wurde ein grauenhafter Fehlschlag. Obwohl der DuceMussolini, Benito inzwischen offen verkündete, eine Diktatur errichten zu wollen, versuchten die bürgerlichen Parlamentarier immer noch, ihn auf ihre Seite herüberzuziehen. Im Herbst 1922 schien sein Aufstieg zur Macht unabwendbar – blieb nur noch die Frage, ob sie ihm angetragen wurde oder ob er sie sich mit Gewalt nahm.

Der berühmte »Marsch auf RomRom«, der den liberalen Parlamentarismus niederwarf, war überwiegend ein wohlkalkulierter Bluff. Einerseits verhandelte MussoliniMussolini, Benito im Geheimen immer noch mit den Regierenden, unter welchen Bedingungen er sich doch an der Lösung der festgefahrenen Lage beteiligen würde – es handelte sich um eine der vielen, Italien periodisch heimsuchenden Ministerkrisen –; andererseits drohte er ihnen auf dem PNF-Kongress großspurig, den Bürgerkrieg zu entfesseln: »Entweder wird uns die Regierung übertragen, oder wir nehmen sie uns durch einen Angriff auf RomRom!« Um seine Entschlossenheit zu unterstreichen, trieb er mit Leitartikeln die Kampfeslust seiner treuen Gefolgsleute auf den Siedepunkt; er selbst aber hielt sich im Hintergrund und verließ sein MailänderMailand Quartier nicht. Vielmehr befahl er seinen Statthaltern, Kolonnen von rund 30 000 bewaffneten squadristi zu formieren, die dann alle mit LKWs oder mit Sonderzügen der Bahn auf die italienische Hauptstadt vorrücken sollten. Endlich erkannte die Regierung des liberalen Premiers Luigi FactaFacta, Luigi, dass der »Versuch einer Revolution« unternommen wurde, und bemühte sich, die »öffentliche Ordnung mit allen Mitteln und um jeden Preis aufrechtzuerhalten«. Obwohl König Vittorio Emanuele III. Vittorio Emmanuele III.die Faschisten nicht mochte, weigerte er sich, das Kriegsrecht auszurufen. Er wollte Blutvergießen vermeiden und bot dem schon nervös werdenden MussoliniMussolini, Benito an, er möge »das verantwortungsvolle Amt des Ministerpräsidenten übernehmen«. Erleichtert, dass sein Wagnis geglückt war, grüßte der Duce die paradierenden Kolonnen: »An diesem Tag triumphierte ich – und das in RomRom!«3

Rein formal gesehen war das neue Kabinett, das sich dort am 20. Oktober 1922 mit MussoliniMussolini, Benito als Premier bildete, eine Koalition, innerhalb derer die Faschisten sich in der Minderheit befanden, denn numerische Stärke besaßen sie im Parlament keineswegs. MussoliniMussolini, Benito überspielte die Grenzen seiner Macht, als er für eine vereinigte nationale Regierung warb: Dies würde, versprach er, den ewigen Kämpfen zwischen den Parteien ein Ende machen und alle Italiener miteinander versöhnen. Außer ihm selbst saßen nur drei Faschisten im Kabinett, daneben zwei Popolari, vier Liberale, ein Nationalist und drei parteilose Personen, darunter der Philosoph Giovanni GentileGentile, Giovanni. Nach einer mitreißenden Rede des Premiers bestätigte das Parlament die neue Regierung mit einem eindeutigen Votum: 306 dafür, 116 dagegen, 7 Enthaltungen. Während alle bürgerlichen Parteien nun Mussolini unterstützten, wagten nur die Sozialisten (PSI) und die Kommunisten (PCI), sich seinem Regime entgegenzustellen. Um die Schwarzhemden zu belohnen, die ihm so eifrig beigestanden hatten, schuf der DuceMussolini, Benito eine Nationalmiliz als feste Institution, die aus öffentlichen Mitteln finanziert wurde. Dieses Geld schuf nicht zuletzt Arbeitsplätze als Gegenleistung für Wohlverhalten gegenüber dem, was nun Recht und Ordnung war. Außerdem absorbierte MussoliniMussolini, Benito auch ältere nationale Verbände, so die Associazione Nazionalista Italiana, en bloc in die faschistische Partei. Desgleichen integrierte er zahllose Karrieristen, um seine Basis im Volk auszuweiten.4

Mit dem klassischen Parlamentarismus hatte Mussolini nichts im Sinn, aber er brauchte ein vorzeigbares Mandat des Volkes, das seine Macht zementierte und jeder Herausforderung standhielt. Um die politische Fragmentierung zu überwinden, die proportionale Repräsentation mit sich bringt, verfiel er auf einen genialen Ausweg, den ihm sein faschistischer Kombattant Giacomo AcerboAcerbo, Giacomo eröffnet hatte und den er in einem neuen Wahlgesetz kodifizieren ließ. Es besagte, dass eine Partei, die mindestens ein Viertel der Wählerstimmen erreichte, zwei Drittel der Sitze in der Deputiertenkammer beanspruchen konnte, sodass sie auf jeden Fall eine stabile Mehrheit innehatte. Als die Neuregelung zur Abstimmung anstand, befahl der Heilige Stuhl den Popolari, sich zu enthalten, doch dank der Unterstützung der Liberalen und der Nationalisten gewannen die Faschisten das entscheidende Votum über das Acerbo-Gesetz, das Italiens Demokratie entmannte. Nach ein paar kleineren außenpolitischen Erfolgen ließ MussoliniMussolini, Benito im April 1924 erste Wahlen abhalten; bei der Zusammenstellung der Kabinettsliste achtete er sorgfältig darauf, dass sie neben faschistischen Aktivisten auch Politiker traditioneller Ausrichtung enthielt. Dieses gemischte Angebot erfuhr überwältigende Zustimmung: Die Sammelliste erhielt 66,3 Prozent der Wählerstimmen, und schließlich saßen 374 Deputierte in der Kammer, 275 davon waren Faschisten. Die verschiedenen Oppositionsgruppen sahen sich dezimiert. Von den unversöhnlichen Radikalen in seiner eigenen Partei distanzierte MussoliniMussolini, Benito sich mittlerweile: »Ordnung, Hierarchie und Disziplin«, erklärte er, seien nunmehr die obersten Werte; dem »verfaulten Leib jener Göttin namens Freiheit« möge man hingegen fernbleiben.5

Die finalen Schläge, derer es noch bedurfte, waren die Enthauptung der Arbeiterbewegung, die Vernichtung der parlamentarischen Opposition und das Mundtotmachen der Presse. Nachdem der Sozialist Giacomo MatteottiMatteotti, Giacomo in der Deputiertenkammer die Gewalt und Korruption der rechten Extremisten attackiert hatte, wurde er am 10. Juni 1924 von der faschistischen Geheimpolizei ermordet. MussoliniMussolini, Benito schob die Tat seinen Untergebenen zu, aber die Abgeordneten der Opposition schenkten dem keinen Glauben. Aus Protest verließen sie das Parlament und zogen sich, einem altrömischen Brauch folgend, auf den Aventin-Hügel zurück, in der Hoffnung, so die Kammer beschlussunfähig zu machen und weitere üble Gesetze zu verhindern. Aber der Boykott entwickelte keine Mobilisierungskraft, weswegen er ins Leere ging. Weder ließ sich das niedere Volk zur Erhebung gegen Mussolini motivieren, noch wollte die Elite den Abenteurer fallenlassen; selbst der Philosoph Benedetto CroceCroce, Benedetto pries den Faschismus wegen seiner »Liebe zu Italien«. So konnten die Faschisten die Pressefreiheit abschaffen, teils per Regierungsdekret und teils, indem sie Druck auf Zeitungsbesitzer ausübten, liberale Chefredakteure wie Luigi AlbertiniAlbertini, Luigi zu entlassen. Als ihm seine Verwicklung in den Matteotti-MordMatteotti, Giacomo nachgewiesen wurde, übernahm MussoliniMussolini, Benito in dramatischer Pose »die volle Verantwortung für alles, was geschehen ist« und behauptete, er allein könne Italien »Ruhe und Frieden« verschaffen. Anstatt ihn zu stürzen, markierte die Matteotti-Krise den Übergang zur offenen Diktatur.6

Die diktatorische Herrschaft etablierte sich nach und nach, vorangetrieben einerseits von einem Faschismus, der Zwang ausübte, und andererseits von einer Öffentlichkeit, die ihn hinnahm. Die Machtergreifung wiederum war teils ein verfassungskonformer Akt – MussoliniMussolini, Benito wurde ja zum Premierminister ernannt –, teils ein Zugeständnis an den außerparlamentarischen Druck einer gewaltbereiten Massenbewegung. Die Kollaboration des Establishments trug Entscheidendes bei, denn die liberalen und nationalen Eliten kooperierten im guten Glauben, MussoliniMussolini, Benito lasse sich durch das Wundermittel des transformismo im Zaum halten. Eine unaufhörliche Propaganda mit Pressekampagnen und Massenversammlungen sorgte auf ihre Weise dafür, dass die Zustimmung zum nationalistischen coup d’état wuchs. Skeptische Politiker sahen bald keine Alternative mehr, wollten sie doch einer nationalen Erneuerung nicht im Wege stehen. Mit einer Mischung aus Anreizen und Repression spalteten die Faschisten die Front ihrer Gegner und blockierten sie; dies betraf die Vertreter der Arbeiterbewegung ebenso wie die demokratischen Intellektuellen, die sich von der Öffentlichkeit verlassen sahen. Mussolinis Regierung beruhte auf einem faulen Kompromiss zwischen bestimmten etablierten Institutionen – Monarchie, Kirche, Armee – und neu ins Leben gerufenen faschistischen Körperschaften wie der PFN, der Schwarzhemdenmiliz und der Geheimpolizei.7

MussolinisMussolini, Benito erfolgreicher Griff nach der Macht elektrisierte die jugendlichen Anhänger der europäischen Rechten, denn sein Modell führte Tradition und Moderne in einer neuartigen Legierung zusammen. Geboren aus der Kameradschaft in den Schützengräben, versuchte Mussolinis aktionsorientierte Bewegung einerseits, konservative Werte wieder zur Geltung zu bringen, etwa Ordnung, Hierarchie, soziale Gemeinschaft und nationale Macht. Andererseits war der Faschismus zutiefst modern: er verehrte die Technik, bediente sich der elektronischen Medien und wandte sich an die Jugend. All dies verlieh ihm ein Image von Dynamik, das den Verteidigern der alten Ordnung fehlte. In ganz Europa, von Norwegen bis Frankreich, von Portugal bis Rumänien, fand die faschistische Ideologie bei den jungen Neokonservativen Anklang, denn sie suchten ja eine Alternative nicht nur zu den diskreditierten Autoritäten, sondern auch zu Marxismus und Liberalismus. Mit dem Faschismus schien sich ein Weg in eine bessere Zukunft zu öffnen.8 Obwohl die Bewegung viel von ihrem Charakter speziellen italienischen Zuständen schuldete, nämlich den dortigen Nachkriegswirren, stellten sich bald ausländische Bewunderer ein. Zu ihnen gehörte der rassistische Hetzer Adolf HitlerHitler, Adolf, der die erregende Neuartigkeit des Faschismus hinreichend durchschaute, um ein Jahr später einen Coup nach MussolinisMussolini, Benito Muster in MünchenMünchen zu wagen. Der Versuch ging als »Bürgerbräuputsch« oder »Marsch auf die Feldherrnhalle« in die Geschichte ein.

Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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