Читать книгу Der letzte Ball - Konstantin Josuttis - Страница 10
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ОглавлениеDer restliche Weg war für Fischer kein Problem mehr. Willig stürzte sich die Traube der jungen Männer auf seinen Koffer, nachdem sich jeder einzeln bei ihm vorgestellt hatte, und schob diesen fröhlich zum Hafen, über die breite Mole und dann sogar die steile Gangway hinauf. Das Schiff hatte nicht nur aus der Entfernung pompös gewirkt. Als Fischer davorstand und auf die schwarz glänzende Hülle sah, hatte er allerdings nicht mehr die Vorstellung eines Monsters, eher war er fasziniert, dass diese riesige Maschine, von Menschenhand gebaut, tausende von Passagieren über den Ozean transportieren konnte. Die weißen Lettern „Conte Verde“ strahlten am Bug, als seien sie gerade noch frisch gewaschen worden. Der untere Teil des gewaltigen Schiffskörpers glänzte ölig in Schwarz, ab dem Deck war das Schiff in Weiß gehalten. Fischer blickte auf die riesigen Reihen von Stahl, die sich aufeinanderstapelten und endlich wurde ihm klar, woran das Schiff ihn erinnerte: an eine Stadt.
Er erinnerte sich dunkel an einen Film, den er vor drei Jahren gesehen hatte, damals noch auf Zwischenstation in Deutschland, der Film hieß „Metropolis“ – eine düstere Zukunftsvision von Maschinenwesen, die in einer überdimensionierten Großstadt lebten. Das absonderliche Werk hatte Fischer damals verstört und ihn diese bedrohliche Vision schon am Abend über ein bis vier Gläsern Cognac vergessen lassen, aber nun war die Erinnerung wieder wachgeküsst worden. Die Darstellung der unheimlichen Maschinenwelt ähnelte dem schwimmenden Monument, das vor ihm im Wasser lag. Auch die akkurat gekleideten Schiffsoffiziere, die hinter einem behelfsmäßig aufgebauten Tisch standen und die Tickets kontrollierten, kündeten eine neue Zeit an, eine Zeit der Ordnung, der Technik und er hatte das Gefühl, dass er sich nun wie Laich in einem Fischteich würde entspannen können – orientierungslos aber behütet.
Er hatte sich bei der rumänischen Mannschaft freundlich bedankt und den jungen Männern viel Glück gewünscht, mit dem Hinweis darauf, dass er sich noch ein wenig den Hafen anschauen wollte. Das war gelogen, aber er wollte nicht wie ein alter Mann wirken, neben den jungen, in ihrem Saft stehenden Sportlern, die die Rampe hinauf hüpften wie Hasen. Ein Steward nahm sich seines Koffers an, nachdem Fischer die Kontrolle passiert hatte und so trottete er gemütlich den Holzsteg hinauf, hielt sich immer wieder am gespannten Hanfseil fest und blickte zurück auf die Stadt, die zum Leben erwachte.
Erst jetzt sah er, dass es noch eine zweite Schlange gab, die den Menschenstrom in das Schiff formte. Am Bug des Schiffes gab es eine Planke, die über eine schwarze, geöffnete Tür in den unteren Teil des Schiffes führte. Die Planke war nicht weiß und glänzend, sondern schien eher einer riesigen Holztafel zu ähneln, auf der ein Strom von ärmlicher gekleideten Menschen den Gang in den Bauch des Monsters antrat. Diese Menschen hatten Mäntel an, trugen Taschen und Koffer. Es waren zumeist jüngere Menschen, manchmal ganze Familien, doch auch aus der Entfernung konnte Fischer sehen, dass ihre Augen nicht den Glanz des Abenteuerlichen ausstrahlten, der die Reisenden der ersten Klasse vereinte. Fischer bekam seltsamerweise ein schlechtes Gewissen, als er diese Menschen sah, die unter anderen Umständen als er die Überfahrt antraten. Er wusste, dass er es hier mit den Opfern der durch die Weltwirtschaftskrise ausgelösten Armut zu tun hatte. Diese Menschen gingen nicht nach Übersee, um sich den Freuden eines Spiels hinzugeben, sondern um ein neues, besseres Leben zu beginnen. Er drehte sich wieder dem Aufgang auf das Schiff zu.
Moritz Fischer war gespannt auf diese Reise, die ihn zur allerersten Weltmeisterschaft im Fußball führen würde, fürchtete aber gleichzeitig die Weiten des Meeres, die ihn erwarteten. Zwei Wochen würden sie sich auf diesem unheimlichen Wesen aufhalten, bevor sie in Uruguay erwartet wurden, und Fischer hoffte, dass er genügend Zeit haben würde, um auf Deck zu liegen und seiner Lieblingslektüre zu frönen: Sherlock-Holmes-Geschichten. Seitdem er in London für British Railways gearbeitet hatte, hatte er sich in den Detektiv aus der Baker Street verliebt, der so einen starken Kontrast zu ihm darzustellen schien: Er selbst war kein Meister glasklarer logischer Rückschlüsse, sondern eher ein Liebhaber guten Essens und netter Gesellschaft. Diese Eigenschaften waren es auch, die ihn im Weltverband so weit hatten aufsteigen lassen. Nicht nur war er wortgewandt in der eigenen und versiert in acht fremden Sprachen, er besaß die Fähigkeit, mit Menschen jeden Schlages ins Gespräch zu kommen, sie für sich zu gewinnen, zu umgarnen und ihnen sogar schon nach kurzer Zeit das Gefühl zu geben, dass sie freundschaftlich mit ihm verbunden seien. Er war ein Genießer, und im Gegensatz zu den meisten seiner Art schätzte er die Gesellschaft anderer ebenso wie einen guten Wein oder ein gutes Essen. Es hatte also von Seiten Rimets nicht viel Überzeugungsarbeit gebraucht, um ihn zum Mitkommen nach Südamerika zu überreden. Fischer wusste, dass er das Bindeglied zwischen den Funktionären aus Uruguay und der Spitze der FIFA sein würde und er freute sich ebenso auf die Gespräche auf Spanisch mit den Männern des ansässigen Fußballverbandes wie auf das von Rimet als ausgezeichnet beschriebene kulinarische Erlebnis auf dem Schiff. Fischer sah schon Pfifferlingssteaks und in Rotwein gebratene Wachtelschenkel vor sich, bis ihm klar wurde, dass er sich nun direkt vorm Schlund des Schiffes befand. Zwei schwarze Türen waren aus dem Inneren herausgeklappt worden und Fischer hatte das Gefühl der Unausweichlichkeit, als er einen Schritt über den letzten Teil der Gangway tat, wobei er bemerkte, dass sich in einem kleinen Schlitz zwischen Planke und Schiff das glitzernde Wasser erblicken ließ, das beängstigend weit entfernt schien. Schluckend trat er über die Schwelle und fühlte sich von einem biblischen Tier verspeist, wobei er sich selbst nicht ganz klar darüber war, ob dies nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Schnell dachte er an weitere Köstlichkeiten, die die Kombüse des Dampfers hervorbringen würde: Einen in Armagnac flambierten Ochsenrücken mit Kohl, eine Tarte mit frühen Kartoffeln und feinem italienischem Käse – der erste Anflug von Angst war auf gutem Wege, bekämpft zu werden.
„Signor Fischer?“ Eine hohe, sympathische Stimme riss ihn aus seinen Vorstellungen. Er drehte sich um und sah einem hoch gewachsenen, dürren Maat in die großen Augen. Der Mann stellte sich mit einer tiefen Verbeugung vor und bot sich an, Fischer zu seiner Kabine zu führen. Fischer nahm dankend an und trippelte sofort den militärisch akkuraten Schritten seines Führers hinterher. Der Raum, in den sie getreten waren, wirkte auf den ersten Blick imposant. Der Fußboden und die Wände waren mit glänzendem Holz getäfelt, wobei die Wände immer wieder mit Stuckmustern und putzigen Putten verziert waren. Während sich Fischer das Innere des Wals, in den er eingestiegen war, dunkel vorgestellt hatte, stellte er nun fest, dass auf den oberen Decks größere Fenster in die Außenwände eingebracht waren, sodass die italienische Sonne sich ihren Weg mühelos zu den luxuriösen Reizen des Dampfers bahnen konnte. Fischer und der Maat passierten einen Empfangsschalter in dem großen Vorraum, den sie betreten hatten, und bogen nach links in einen etwas kleineren Gang ein, der nun seinerseits von in die Wände eingelassenen Lüsterlampen erleuchtet wurde. Dann bogen sie wieder nach rechts ab, bis sie an einer Mahagoniholztür ankamen, die der Maat behände aufschloss und mit einer Verbeugung Fischer den Weg hinein wies, wo zu dessen Überraschung bereits sein Koffer und daneben ein breit grinsender Matrose standen. Fischer bestaunte die Größe des Raumes, der über einen massiven Holzschrank, einen Tisch und zwei mit hohen, sich nach außen stülpenden Lehnen und mit Leder bezogene Stühle verfügte. Direkt gegenüber fand sich eine Chaiselongue, die zu einem Nickerchen einlud, doch Fischer wurde vom grinsenden Matrosen noch in das Nebenzimmer zur Linken geführt, in dem sich sein Bett und ein weiterer Schrank befanden. Erst jetzt fiel Fischer auf, dass er keine Schritte mehr vernommen hatte, weder die eigenen, noch die des anderen Mannes. Der Grund war ein dick gewebter Wollteppich mit orientalischem Muster, der jegliches Klappern oder Knarren von Schuhabsätzen oder Kofferrädern verschluckte. Fischer ging wieder in sein Wohnzimmer. Als er sich umdrehte, um aus dem Fenster hinaus auf die Stadt zu schauen, bemerkte er, dass der Matrose immer noch lächelnd in seiner Kabine stand. „Scusi“, sagte er daraufhin eilig, kramte in seiner Jackentasche nach ein paar Lira und schüttete diese dem erfreuten Mann in die ausgestreckte Hand. Erst als der Kerl wieder leise, aber doch mit einer triumphierenden Note, die Tür hinter sich verschlossen hatte, wurde Fischer klar, dass er unsinnig viel Geld in die Hand des Kofferträgers gedrückt hatte. Er huschte zur Tür, blickte hinaus auf den Gang und rief dem Mann hinterher, der sich, immer noch grinsend, umdrehte. „Ich, ähh …“ Ein Mann in einem Mantel mit Hermelinkragen stolzierte mit seiner mit Juwelen behängten Frau das blitzblanke Deck herab. Auf einmal war Fischer sein Protest peinlich und so bestellte er schlicht einen Cognac.