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3. Tag, 21. Juni 1930 – Fischer 1.
ОглавлениеWenn man erwacht, dann befindet man sich meist in einem dämmrigen Zustand. Wer, wo, was bin ich? Ist das, was ich gerade erlebe, wirklich real? Für Fischer würde sich dieser Dämmerzustand in den nächsten 14 Tagen, bis das Schiff das Ufer Montevideos erreichen würde, nicht mehr auflösen. Es schien, als sei er mit Betreten des Ungeheuers in eine verkehrte Welt gelockt worden, in der eine geheime Feenkraft oder ein unbekannter Hexenzauber seine Wahrnehmung und sein Handlungsvermögen einschränkten. Das Licht, das seine morgendliche Nasenspitze umspielte, von der salzigen Kruste des Kajütenfensterglases gebrochen, war kalkiger als das, was er bisher von seinen vielen Reisen durch Europa im Auftrag der Fußballgemeinschaft kannte, und es machte den Tag, den er zu beginnen gedachte, unwirklicher und auf eine gewisse Weise nicht unangenehm zauberhaft. Er schalt sich, noch als er sich den Bauch unter der Decke kratzte, dass er sich in eine weibische Gefühlsduseligkeit begeben hatte, doch obwohl er sich beim Aufstehen im wahrsten Sinne des Wortes schüttelte, konnte er doch diese Aura des Unwirklichen weder von sich, noch von den ihn umgebenden Manifestationen einer äußeren Welt abstreifen. Auch das kalte Wasser, das er sich ins schläfrige Gesicht spritzte, als er über dem Keramikbassin stand, half nichts. Moritz, so dachte er sich, Moritz, du wirst alt. Immerhin also, und das ist auch so eine erstaunliche Eigenschaft des Menschen, schaffte er es doch, trotz des anhaltenden Erlebens des Betörenden, dem Ganzen eine Erklärung aufzudrücken und so die Veränderung, die seine Wahrnehmung unterwandert hatte, erträglich zu machen.
Die andere Möglichkeit der Anpassung an widrige Umstände, die dem Menschen zur Verfügung steht, ist die beruhigende Macht der Gewohnheit. Fischer zog sich seinen dunkelbraunen Wollanzug an, knöpfte sich die Manschettenknöpfe zu und verstaute seine Uhr im Jackenrevers. Er schaute in die etwas geschwollen aussehenden Augen, die ihn im Spiegel über dem Bassin entgegenblickten, klatschte sich einmal rechts und einmal links auf die Wange und kramte in den Tiefen seines mannshohen Koffers, bis er das gefunden hatte, was er suchte – etwas, das ihn zu jeder Zeit und mit verlässlicher Gewissheit beruhigte. Er setzte sich in den breiten Ledersessel, der in der einen Ecke seiner Kajüte aufgestellt war und ihn wie eine zärtliche Mutter umfasste, seufzte zufrieden und öffnete das Buch an der Stelle, in der er die kleine Fotografie des schiefen Turms von Vrbové, seiner Geburtsstadt, hineingelegt hatte. Aufgeregt begann er das nächste Abenteuer seines großen Vorbilds, Sherlock Holmes, zu lesen: „A Scandal in Bohemia“. Fischer hatte sich das bis dahin erschienene Gesamtwerk Conan Doyles aus England mitgebracht und den dritten, vierten und fünften Teil der in Leder eingebundenen Büchlein mit auf die Reise genommen, wohlwissend, dass er damit im besten Falle bis zur Ankunft in Montevideo versorgt sein würde. Er fing an zu lesen: „Für Sherlock Holmes blieb sie immer die Frau. Selten habe ich ihn sie mit einem anderen Namen erwähnen hören. In seinen Augen überstrahlt und beherrscht sie ihr gesamtes Geschlecht.“ Weiter kam Fischer nicht. Er sah wieder die voluminösen Brüste Smeraldas vor sich baumeln, dachte an die nicht lange vergangenen Stunden, schluckte, knallte das Buch auf den Boden und ging endlich forschen Schrittes aus der Kabine.
Draußen auf dem Deck schoss ihm, sobald er die Tür geöffnet und die frische Meeresluft eingeatmet hatte, eine Holzscheibe gegen den Lederschuh. „Autsch“, rief er, mehr aus Schreck als vor Schmerz, und blickte danach in die erröteten Gesichter eines Mannes mit einem weißen Hemd und einem Hut und eines jungen Mädchens, das sich neben ihm die Hand vor den Mund hielt. Sich entschuldigend kam der Mann auf Fischer zu. Er legte eine Art Stock an die äußere Bordwand – auch seine Tochter hielt einen solchen Stock, der am unteren Ende eine verbreiterte Fläche hatte, in der Hand. Der Vater hatte offensichtlich mit seiner Tochter Shuffleboard gespielt. Fischer winkte ab und lachte zurück: „Ist nicht so schlimm, guter Mann. Das war wohl mehr die Überraschung am frühen Morgen.“ Der Mann schaute ihn etwas verwirrt an und nickte dann. Erst jetzt wurde Fischer klar, dass es ja schon nach zehn war. Immer noch stand das Mädchen in einem einfachen blauen Kleid etwas weiter hinten und schaute verängstigt. „Was ist, meine Kleine? Du musst keine Angst haben. Alles ist gut.“ Der Mann kratzte sich am Kopf und sagte: „Komm, Giuliana. Sag dem Mann Guten Tag.“ Fischer fielen die tiefen Linien auf, die in das Gesicht des Mannes eingegraben waren. Das Mädchen trat ein paar Schritte nach vorne und machte einen Knicks. Fischer lachte. „Du gutes Kind. Waren Sie schon beim Frühstück?“ Er wandte sich wieder dem Mann zu. Dieser schaute seltsamerweise etwas betreten zu Boden, nickte aber.
„Komm Giuliana, wir gehen“, sagte der Fremde unvermittelt. Und erst, als Fischer die mit weißer Farbe auf den Deckboden gemalten Felder, die mit verschiedenen Zahlen bezeichnet waren, sah und dann noch einmal auf die recht einfache Kleidung der beiden blickte, wurde ihm klar, warum die zwei nicht hierher gepasst zu haben schienen. Sie waren keineswegs Gäste der ersten Klasse. Fischer wollte ihnen noch etwas hinterherrufen, so in der Art, dass er sie nicht stören wollte und dass sie ruhig ihr Spiel weiterspielen könnten, aber sie waren schon hinter einer Tür, die ins Innere des Schiffes führte, verschwunden. Giuliana, dachte er, ein schöner Name. Dann trat er an die Reling, stützte seine Arme auf das glatte Holz und sog die frische Luft ein. Er schaute zunächst in die Weite des Mittelmeers, wo sich das satte Blau des Wassers vom grauweißen Hintergrund des Himmels abhob. Nun wanderte sein Blick direkt an der Seitenwand des Schiffes herab und mit einem kleinen Moment des Erschreckens stellte Fischer fest, dass das Schiff schnell war. Die weißen Kanten des Rumpfes durchschnitten das Wasser, sodass die weiße Gischt wie Blutspritzer in die Höhe schoss, um wieder ins große Nass zu fallen. Fischers Hände verkrampften, sodass sie sich dem Weiß des Geländers anglichen. Nicht nur war das Schiff schnell, sondern er stand auch in einiger Höhe vor dem Abgrund, der sich direkt vor ihm auftat. Obwohl Fischer sich also festhielt, hatte er das Gefühl, langsam, aber doch mit ziemlicher Gewissheit nach vorne über zu fallen. Und so verstärkte sich nicht nur sein Griff, sondern gleichzeitig gaben seine Knie noch nach, was den Vorteil hatte, dass sein Gesicht langsam hinter die Sicherheit vermittelnde Reling herabsank. Er blickte sich nach links und rechts um, um sicherzustellen, dass niemand seinen erbärmlich wirkenden Schwächeanfall wahrnahm, und ließ sich, als er lediglich ein Pärchen erblickte, das in einiger Entfernung stand und ebenfalls auf die Weite des Meeres schaute (allerdings ohne dabei in eine unsinnige Höhenangst zu verfallen), auf die Knie fallen. Darauf drehte er seinen massigen Oberkörper zum Schiff hin, saß auf seinem Allerwertesten und betrachtete die Reling. Ich hätte zu Hause bleiben sollen, schoss es ihm durch den Kopf. Im selben Moment öffnete sich dieselbe Tür, durch die er nach außen getreten war, und erst jetzt, als er sie sich vom gleichfarbigen weißen Hintergrund abheben sah, wurde ihm klar, was das Besondere an diesen Schiffstüren und damit vielleicht sogar verantwortlich für seine verschwommene und verschobene Wahrnehmung der Dinge war: Die Kanten der Tür waren rund – so wie hier an Bord alles rund war, dachte er. Kein Wunder, dass man keine Orientierung mehr hatte. Runde Bullaugen, runde Türen, runde Schornsteine. Und gerade als er diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, passierten zwei seltsame Dinge auf einmal. Der schlanke Körper Abbads kam aus der Tür heraus und Fischer sah den Mann zum ersten Mal in sich hinein lächeln, was aber nur für den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar war, denn dann blickte der Steward auf den sitzenden Vizepräsidenten und im gleichen Moment fiel ihm ein harter Lederball auf das schwarze Haar, prallte von dort ab, setzte noch einmal auf den Holzdielen des Decks auf und sprang dann, als ob er dem Ruf des Meeres folgen wolle, fröhlich über das Geländer. Abbads anfängliches Lächeln hatte sich, wiederum nur für einen ganz kurzen, fast unbemerkten Moment, in eine schmerzverzerrte Fratze verwandelt und er blickte erst dem Spielgerät hinterher und dann abrupt nach oben. Hinter und über ihm standen, an ein weiteres Geländer gelehnt, drei junge Männer in Unterhemden und blickten nach unten. Fischer erkannte unter ihnen Alfred Eisenbeisser und so beeilte er sich, aufzustehen und seinen Hut zum Gruß zu lupfen. Eisenbeisser winkte und rief: „Hallo. Entschuldigung, haben Sie unseren Ball gesehen?“ Sowohl der Vizepräsident als auch der Steward deuteten mit ihren Fingern auf das weite Meer. Die drei Männer, die oben gestanden hatten, drehten sich, offensichtlich enttäuscht, ab. Nun lächelte Abbad sein Gegenüber an. „Herr Fischer, wollen Sie frühstücken?“