Читать книгу Der letzte Ball - Konstantin Josuttis - Страница 18
5.
ОглавлениеFrisch gewaschen, wohlig gesättigt und neu geschminkt trat Smeralda in das vollgefüllte Musikzimmer ein. Überall standen Herren in Smokings neben Damen mit Stirnbändern oder enganliegenden Hüten, die sich über ihre Köpfe stülpten, sogenannten Cloches. In den Händen hielten sie Sektgläser oder Zigarettenhalter, Gesichter schauten entspannt auf ihre Gegenüber oder desinteressiert in eine unbestimmte Richtung. Die Bühne, die in der Mitte des Saals am hinteren Ende platziert war, war bis auf den Flügel und zwei Standmikrofone noch leer. Während Smeralda sich durch die Reihen quetschte, um sich zu den Stuhlreihen vorzuarbeiten, suchte sie den Raum nach bekannten Gesichtern ab. Sie erkannte Tarnoff, der in einem Kreis mit Menschen verschiedensten Alters und Aussehens stand und nur darauf gewartet zu haben schien, dass sie ihn erblickte – er warf ihr eine Kusshand zu. In einer anderen Ecke standen einige Fußballer in ihren dunkelblauen Jacketts und lachten, so vermutete sie, über anzügliche Witze. Den feschen jungen Mann, dem sie einen Platz freihalten sollte, konnte sie nicht in der Gruppe erkennen. Auf der anderen Seite des Saals, unter einem Ölgemälde nackter Musen, stand Moritz Fischer. Er schien sie gerade noch angesehen zu haben, hatte dann aber seinen Blick auf die roten Vorhänge am Rande der Bühne gerichtet. Langsamen Schrittes, mit einem gewissen Hüftschwung, der ihr die Blicke der männlichen Gesellschaft sicherte, ging sie auf ihn zu, zog eine rote Fliege aus ihrer Tasche und wedelte damit vor seinem Gesicht herum.
„Gehört diese zufällig Ihnen, Herr Fischer?“
Er schnappte nach dem Beweisstück wie ein Frosch nach einer Fliege. Dann wurde er sich der Unhöflichkeit seiner abrupten Reaktion bewusst.
„Äh, ja, Madame. Vielen Dank. Es ist nur …“
Smeralda lachte – nicht unfreundlich neckte sie ihn weiter, weil seine schüchterne Unbeholfenheit sie aufheiterte.
„Sie schämen sich meiner Gesellschaft?“
„Keineswegs. Niemals würde ich … Ich …“
„Keine Sorge, lieber Moritz. Ich verrate niemandem etwas.“
Wie auf Zuruf wurden die Lichter gedimmt. Smeralda zog Moritz auf zwei äußere Stühle in einer der vorderen Reihen. Ein Mann schritt den Gang, der zwischen den Stuhlreihen freigehalten worden war, hinab. Er hatte einen grauen Wollanzug mit einer Nelke in der oberen Jacketttasche an und einen strengen Seitenscheitel, der die welligen Haare zu kontrollieren suchte. Hinter ihm trippelte eine verhuschte, allerdings nicht unattraktive Dame mit schwarzen Haaren im blauen Ballkleid auf die Bühne. Die letzten Zuschauer setzten sich klatschend. Der Mann machte eine tiefe Verbeugung, während die Frau neben ihm unsicher lächelte. Dann legte ein Mann am Klavier, der irgendwie unbemerkt auf die Bühne gelangt war, los. Schaljapins Bass dröhnte durch den Saal, konterkariert vom hellen Sopran von Marthe Nespoulous. Smeralda drückte sich in die Lehne ihres Sitzes.
„Carmen“, erläuterte Fischer flüsternd zu ihr gebeugt.
„Nein, ich heiße Smeralda.“
Er blickte sie einen hilflosen Augenblick verwirrt an, bis sie ihn schelmisch angrinste.
„Ich weiß doch. War nur ein Witz.“
Bei der nächsten Arie, die durch den Saal dröhnte, legte Smeralda ihre Hand auf Fischers Knie, was ihn zu einer weiteren Unsicherheit animierte.
„Das ist mein Knie“, flüsterte er, um sich im nächsten Augenblick für seinen Kommentar zu schämen. „Natürlich, mein Bester, das ist es“, sagte sie mit unverschämter Selbstsicherheit und ließ ihre Finger etwas weiter hochfahren. Auf einmal tat es einen Ruck. Der ganze Dampfer schien für einen Moment stillgestanden und sich dann in einer Art Hechtsprung nach vorne bewegt zu haben. Fischer und Smeralda schauten sich erstaunt an und mussten dann beide ein Kichern unterdrücken.
Nach der Pause kamen sie nicht mehr zurück in den Saal.
Die Dunkelheit war ein alter Bekannter, ein Verbündeter. Während die Menschen um ihn herum das Licht suchten, als seien sie hilflos, wenn sie auf die Hilfe ihrer Augen verzichten mussten, breitete sich in ihm eine wohlige Wärme aus. Er stieg die Eisentreppen hinab, leise, verschwand im Schatten von Türeingängen, wenn in der Ferne vereinzelt Fußtritte klapperten. Er hatte sich sorgsam vorbereitet. Die Schleife des Stoffbands des kleinen Ledermäppchens mit einem sorgsamen Ziehen sanft geöffnet. Zärtlich die Stiletts gestreichelt, bevor er sich für eins entschieden hatte. Nun lag es in seiner Hand in der Tasche, die Spitze an seinen Fingerkuppen, mit gerade so viel Druck, dass der Hautballen nicht aufplatzte.
Nun traf er den anderen, unterhielt sich mit ihm, lachte mit leisem Hauchen, ging dabei hin und her. Ging hinter ihn und nahm die Hand aus der Manteltasche. Nun war der Moment, in dem er es merken würde. Nun.
All die anderen Menschen auf diesem Schiff wankten orientierungslos durch den Tag, gefangen durch ihre Träume und ihre Sehnsucht nach Wohl und ihrer Angst vor Wehe. Beliebig rasten sie durch ein bedeutungsloses Leben, das irgendwo einen Anfang genommen hatte und dementsprechend irgendwo enden würde. Nicht so er. Er hatte ein Ziel, klarer als jemals zuvor, und die Schönheit seines Auftrags trug ihn durch die Nacht. Er wusste. Er funktionierte. Und in der Übertretung der für die anderen höchsten moralischen Grenze, im Morden, würde er höchste Erfüllung finden.
Der andere merkte, dass etwas nicht stimmte, drehte sich zu früh um und schrie. Schrie laut, zu laut. Doch die Nacht hatte sich auf seine Seite geschlagen. Das Schreien des Opfers wurde übertönt vom hellen Crescendo der Singenden. Es wurde ein dreckiges, übles Geschäft. Er musste den Körper über die Dielen schleifen und fand in der Dunkelheit eine Eisentür. Er öffnete sie unter Aufbietung all seiner Kräfte, wieder mit Hilfe der Götter der Dunkelheit. Er schleppte den Leichnam zu den Kohlehaufen und schaufelte. Dann sah er, wie sich ein Schatten auf den schwarzen Kohlen ausbreitete. Jemand stand hinter ihm.