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1. Tag, 19. Juni 1930 – Fischer 1.

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Die Hitze war schier unerträglich, bereits jetzt am Morgen, als er keuchend und schwitzend durch die engen Gassen Genuas streifte und den trotz des spärlichen Inhalts doch extrem schweren Koffer hinter sich herzog. Er hatte nur leichte Hemden eingepackt und natürlich die obligatorischen Anzüge für die offiziellen Anlässe bei der ersten Weltmeisterschaft, aber dennoch war ein Koffer nun einmal ein Koffer und sollte eigentlich vom Hotelfachpersonal zum Hafen getragen werden. Doch der Hotelbesitzer hatte Moritz Fischer freundlich mit einem mitleiderregenden Lächeln darauf hingewiesen, dass seine Söhne leider schon unterwegs seien, und er, armer, alter Mann, der er sei, daher höchstselbst diesen Kasten tragen müsse. Das hatte er dann auch bis um die nächste Straßenecke getan, sich dann wehleidig den Rücken gehalten und die andere Hand aufgehalten, um ein Trinkgeld zu erbitten, welches Fischer ihm aus einem völlig unsinnigen Reflex heraus auch noch gegeben hatte.

Es gibt, so dachte sich Moritz Fischer, seines Zeichens Vizepräsident der Weltfußballorganisation, zwei Arten von Müdigkeit: eine wohlig angenehme, die einen nach einem ausgiebigen Mahl befällt wie eine warme, weiche Decke, und eine unangenehm schwitzig schweißtreibende, die von einem zehrt, als wäre man ein alter Lastenesel. Leider war er jetzt schon am Morgen von einer Müdigkeit erfasst, die von der zweiten Kategorie war.

Nun stand er hier, im schattigen Dunkel der engen Gasse, nahm den oberen Henkel des mannshohen Gepäckteils und zog. Da er den Koffer hinter sich her hievte, bemerkte er nur an der Wärme, die sich auf seinem Kopf ausbreitete, dass er an einer breiteren Straße stehen musste und von keiner schattigen Häuserwand geschützt wurde. Als er sich umdrehte, blickte er auf eine Kirche, die in schwarz-weißen Streifen vor ihm thronte, und davor einen Platz, der mit allerlei Menschen gefüllt war. Er sah Marktleute, die ihre Waren ausfuhren, Schulkinder mit kurzen Hosen und hochgezogenen Strümpfen, Justiziare mit pomadierten Haaren, die aussahen, als seien sie zu schwarzen Nudeln verklebt, Reisende, die ziellos, aber staunend durch die Gassen irrten, und eine Gruppe zackig in schwarzen Hemden gekleideter junger Menschen, die den Platz durchschnitten wie ein scharfes Messer. Er blickte ihnen nach. Sie sahen sehr zielstrebig aus, als hätten sie ein Versprechen erhalten oder müssten eins einlösen oder vielleicht beides. Ein älterer Mann, der neben ihm stand und den er vorher noch nicht bemerkt hatte, spuckte neben ihm auf den Boden aus.

„Was sind das für Leute?“, fragte Fischer, der Italienisch beherrschte, sowie acht weitere Sprachen, was der Hauptgrund dafür war, dass Jules Rimet ihn als Vize der FIFA mitgenommen hatte anstelle von Seeldrayers, der der eigentliche Inhaber dieses Postens war. „Camicie nera – Il Milizia Volontaria per la Sucurezza Nationale.“

Fischer begann zu verstehen. „Faschisten“, sagte er und nickte. Er hatte schon von diesen Schwarzhemden gehört. Sie versprachen Besserung für alle. Das klang eigentlich ganz gut, fand er. Der Mann neben ihm, der der Gruppe, die soeben in einer dunklen Gasse verschwunden war, grimmig hinterherschaute, schien das anders zu sehen.

„Tolle Ideen sind nur so lange gut, bis ihre Vollstrecker über ihren Größenwahn stolpern“, sagte dieser und kratze sich dabei sein unrasiertes Kinn. „Na, die haben auf jeden Fall Großes vor“, sagte Fischer zu seinem Nebenmann, der ein weiteres Mal auf den Boden spuckte, seinen Karren mit Kohlköpfen aufnahm und vor sich herschob und „Vero, vero“ vor sich hinbrabbelte.

Fischer blickte sich um. Hier musste es doch irgendwen geben, der ihm mit seinem Koffer helfen konnte, dachte er verzweifelt. Aber niemand fand sich. So zog er das turmhohe Gepäck weiter an der Ehrfurcht gebietenden Steintreppe vorbei, an deren zwei Seiten ihn zwei Steinlöwen durchdringend anzusehen schienen. Nun, da er den Platz halb überquert hatte, sah er auf den Hafen und auf das riesige Schiff, das dort lag. Es war so groß, dass es wie ein schlafendes Krokodil wirkte, das sich in einem Flussausläufer auf die Lauer gelegt hat. Immerhin hatte er nun sein Ziel vor Augen. Er musste es nur erreichen. Zwei in schicken Fracks gekleidete Carabinieri mit überdimensionierten Hüten schritten die Straße ab und hielten an dem ein oder anderen Stand an und diskutierten die Qualität der dargebotenen Ware.

Ein Stück die Straße abwärts sah Fischer eine Gruppe von jungen Männern lachend vor einem Laden stehen. Sie hatten alle dunkelblaue Anzüge an und trugen dazu Baskenmützen, auf die ein Abzeichen gestickt worden war. Im Näherkommen erkannte Fischer das rumänische Wappen: ein Adler, auf dessen Brust die rumänischen Provinzen dargestellt waren – Walachei, Moldau, Siebenbürgen, Banat und Dobrudscha. Die Männer schienen sich über den Anblick des Mannes, der offensichtlich mit seinem Koffer zu kämpfen hatte, zu amüsieren. Dann aber löste sich einer aus der Gruppe und kam mit einem gewinnenden Lächeln auf Fischer zu. Er versuchte, ihm in gebrochenem Italienisch Hilfe anzubieten.

„Sie können gerne in Ihrer eigenen Sprache mit mir reden“, sagte Fischer, sich die Stirn mit einem Taschentuch abwischend. „Rumänisch, nehme ich an. Oder Ungarisch? Oder Deutsch?“ Die Miene des jungen Mannes im Anzug hellte sich auf. Er fuhr sich mit der Hand durch die dunklen, kurzen Haare und reichte sie dann Fischer. „Deutsch ist wunderbar. Ich heiße Alfred Eisenbeisser. Aber Sie können mich auch gerne Fredi nennen.“ „Donauschwabe?“, fragte Fischer. Eisenbeissers Augenbrauen schoben sich in die Höhe. „Woher wissen Sie?“ Fischer deutete auf die hinter ihm gaffende Menge, die nun nicht mehr belustigt, sondern eher interessiert schien. „Nun, Sie sind eine Gruppe von Menschen, die entweder Rumänisch, Deutsch oder Ungarisch spricht. Und Sie alle haben das Wappen Ihres Landes an ihrem Jackett. Daher gehe ich davon aus, dass ich es mit der rumänischen Fußballnationalmannschaft zu tun habe, nicht wahr?“

Eisenbeissers Lächeln wurde noch breiter. „In der Tat. Wir sind gestern hier mit dem Zug angekommen. Das war eine lange Tortur sage ich Ihnen. Vier Tage waren wir unterwegs. Holzklasse. Aber nun haben wir das gesparte Geld in ein paar schicke italienische Anzüge gesteckt. Kennen Sie sich etwa aus mit Fußball?“ Jetzt war es an Fischer, entsprechend zu lächeln. „Entschuldigen Sie. Ich hätte mich ebenfalls vorstellen müssen. Moritz Fischer. FIFA-Delegierter. Wir reisen zusammen.“

Sofort bildete sich eine Traube von Spielern um Fischer und einzeln stellten sich die jungen Männer vor, als allererster ein hochgewachsener junger Mann mit ernstem, kantigem Gesicht, der Kapitän der Mannschaft: „Rudolf Wetzer, angenehm.“ Fischer grüßte artig 23-mal zurück, bis er den immer noch grinsenden Eisenbeisser fragte, warum sie sich denn so dicke Wollanzüge hätten schneidern lassen und ob sie denn schon einmal für den Winter in den Karpaten hatten vorsorgen wollen. Eisenbeisser schaute Fischer einen Moment lang verunsichert an, dann lachte er.

„Sie nehmen mich auf den Arm, Herr Fischer, nicht wahr? Es wird, so habe ich gehört, verdammt kalt werden dort unten.“

Nun war es an Fischer, verunsichert zu lächeln. Er vermutete, dass der Rumäne geografisch nicht so versiert war und beließ es bei einem Nicken.

Der letzte Ball

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