Читать книгу Der letzte Ball - Konstantin Josuttis - Страница 11

3.

Оглавление

Das Nickerchen war wohltuend gewesen, wenn auch unnötig. Er hatte eigentlich an Deck gehen und sich die Stadt noch einmal von der Seeseite anschauen wollen, war aber dann über dem Cognac ein wenig weggedöst. Dieser Ohrensessel lud aber auch geradezu dazu ein, die Sorgen des Alltags gegen einen sanften Schlummer der Vergessenheit einzutauschen. Dazu hatte ihn ein gedämpftes Brummen in den Schlaf versetzt, ein Brummen, das noch immer zu vernehmen war, und es schien ihm, als würde der Boden unter ihm vibrieren. Er tat dieses Gefühl der ihn stetig umgebenden, zittrigen Bewegung als Einbildung ab, als Überbleibsel seines wohltuenden Schlafes. Nun schloss er seine Kabine von außen ab, um erst einmal das Schiff zu erkunden. Ein kleiner Aperitif später an der Bar konnte nicht schaden und dann hätte er immer noch genügend Zeit, um sich vor dem Ablegen die Genoveser Bucht anzusehen.

Er ging den Gang hinab und beschloss, einfach seiner Lust und Laune zu folgen. Daher ging er nach rechts und fand hinter züchtig von roten Kordeln zurückgehaltenen Samtvorhängen einen Raum, der ihn an die Speisesäle der luxuriösesten Restaurants, in denen er mit Rimet diniert hatte, erinnerte. Säulen verzierten die hohen Wände, der Boden war wieder mit orientalischen Teppichen belegt, die Decke war mit einer Himmelsszene bemalt, in der kleine Engelchen frohlockend umherflatterten und in römischen Gewändern gekleidete Damen und Herren auf Diwanen Trauben verspeisten. Ein Ober deckte die Tische ein und verbeugte sich artig, als er Fischer hineintreten sah. In der Mitte des Saales führte eine breite Marmortreppe auf das nächste Deck hinauf und wie in Trance stieg Fischer nach oben, um festzustellen, dass das nächste Stockwerk mit demselben Pomp ausgestattet war, allerdings hier in diesem oberen Speisesaal die Farbe Grün vorherrschte. Die Tische waren in noch breiteren Abständen verteilt und die jeweiligen Außenwände wurden von einem Kamin verdeckt. Über dem Kamin auf der linken Seite prunkte ein wuchtiges Ölgemälde, welches einen stolzen Reiter in einer wilden Regennacht darstellte. Unter dem goldenen Rahmen befand sich ein Messingschild, auf dem der Name des Mannes stand: Conte Verde – der grüne Graf. Dies war offensichtlich der Saal für die besonders ehrenwerten Gäste, dachte sich Fischer und durchquerte den Raum, um an eine Treppe zu gelangen, die nach ein paar wenigen Stufen in einen weiteren Saal führte. Hier herrschten dezente, matte Farben vor, die schweren Wollteppiche, die auf dem blanken Parkett lagen, waren beige und an der Pforte, wieder hinter einem Vorhang, stand ein Steinengelchen, das eine Harfe spielte. Fischer befand sich im Musiksaal. Ein paar wenige Sitzecken standen an den Außenwänden des großen Saales, an dessen Ende, vor einem roten Vorhang, auf einer Bühne ein großer, schwarz glänzender Flügel prunkte. Am Boden der Bühne, auf Augenhöhe des Zuschauers, stand eine kleine Staffelei, in die ein Foto eines imposanten Mannes eingespannt war. Beim Näherkommen sah Fischer, dass das Plakat die kommenden Abende bewarb, an denen Fjodor Iwanowitsch Schaljapin seine Sangeskünste zum Besten geben sollte. Etwas kleiner darunter fand man noch den Namen von Marthe Nespoulos, ebenfalls eine Opernsängerin. Fischers anfängliche Sorge, dass die 16 Tage der Überfahrt ihm aufs Gemüt schlagen könnten, löste sich nach und nach in Luft auf. Er ging langsam, wie verzaubert, zurück in den Speisesaal, von dort aus wieder deckab in den ersten Speisesaal, den er durchquert hatte. Ihn überkam das Gefühl, dass er nun das ganze Schiff für sich entdecken wollte, wie ein Marco Polo, noch bevor die breite Masse auf das Schiff strömen würde. Beflügelt vom eigenen Unternehmungsgeist verließ er den Saal durch eine der hinteren Türen. Er musste sich, auch das stand auf seiner Agenda, noch unbedingt merken, was an Bord Backbord und was Steuerbord genannt wurde. Für ihn gab es zunächst nur rechts und links, aber bevor er zu lange über die Problematik sinnieren konnte, befand er sich in einem weiteren Flur, der Badezimmer für Damen anzeigte, die er fluchtartig mit einer Treppe nach unten zu umgehen versuchte.

Urplötzlich und unvermittelt überkam ihn eine seltsame Angst, nicht fassbar zunächst, eher wie ein Klumpen in der Magengegend, aber trotz des ihn umgebenen Pomps hatte er das Gefühl, von der samtigen Haut der Wände und Teppiche berührt und im Bauch des Wals erdrückt zu werden. Er musste wieder hoch, und zwar schnell. Er stürzte über die in der Mitte des Schiffes liegende Treppe zwei Stockwerke hoch, bis er, vorbei an weiteren Kabinen der ersten Klasse, eine Tür fand, hinter der ihm milchiges Tageslicht entgegenleuchtete. Dann stürzte er an die Reling und blickte hinaus aufs Mittelmeer, das in beruhigender Beständigkeit vor ihm schaukelte und gleichzeitig absolute Ruhe ausstrahlte. Er atmete tief durch und wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Die Schiffsbesichtigung musste verschoben werden, das war ihm klar. So machte er sich auf den Weg zu seiner Kabine, diesmal allerdings an der Reling entlang, bis er am Bug eine Treppe nach unten fand, die ihn auf sein Deck führte. Schnell wollte er noch einen Blick auf die Genoveser Küste werfen, fand aber zu seiner anfänglichen Beunruhigung auf der anderen Seite (war es die Backbord- oder Steuerbordseite?) ebenfalls nur Meer vor sich. Erst jetzt wurde ihm klar, was es mit dem durchdringenden Brummen, das ihn seit dem Aufwachen begleitet hatte, auf sich hatte: Das Schiff hatte abgelegt. Er fühlte sich ein wenig betrogen, dabei allerdings auch schuldbewusst, so als ob er vorzeitig ejakuliert hätte. Es schien ihm, als habe er einen essentiellen Teil der vor ihm liegenden Reise verpasst. Aber Fischer wäre nicht Fischer, wenn er den Ärger über die verpasste Abfahrt nicht kurz und schnell abschütteln konnte. Er nahm einen tiefen Luftzug, mit dem er seine Lungen mit einer Prise Meersalz füllte und ging wieder ins Schiffsinnere. Dort angekommen sah er eine Familie an einer Treppe stehen. Trotz der sommerlichen Temperaturen hatten Mann, Frau und Kinder Mäntel an und ihre Blicke schienen leer und ausgemergelt. „Emigrati“ stand auf einem schlichten Metallschild, das über der Tür, durch die die Menschen stiegen, hing. Schnell marschierte Fischer in die entgegengesetzte Richtung, um zu seiner Kabine zu gelangen. Er hatte einen Plan, seiner seltsamen Stimmung Herr zu werden. Den Gang hinablaufend kam er an weiteren Gängen vorbei, lief nun entschlossen zu seiner erdachten Rettung, als er, nachdem er einen Quergang passiert hatte, plötzlich innehielt und sich langsam umdrehte. Vorsichtig schob er seinen Kopf um die Ecke. Er schluckte. Hielt den Atem still.

Moritz Fischer war in einem fürchterlichen Konflikt gefangen. Er wollte sich die Schweißtropfen, keineswegs durch körperliche Anstrengungen verursacht, vom Gesicht wischen, müsste dazu aber in sein Revers greifen, was ihn dazu bewegen würde, sich zu bewegen. Das aber wäre möglicherweise fatal, da es zu unerwünschten Geräuschen führen könnte. Das Bild, das sich vor ihm auftat, wollte er keinesfalls durch eine unbedachte Bewegung zerstören. Im Gegenteil, er wollte diesen Moment trotz seiner Unerfülltheit festhalten und sich das Gemälde, das sich vor ihm auftat, an die Wände seiner Erinnerung hängen. Eine recht junge Dame hatte sich einen der mit gold-rotem Samt bezogenen Stühle an die Gangwand gestellt und nestelte an einem Belüftungsschacht herum. Dabei stand eines ihrer Beine so weit ab, dass Fischer, und das war es, was ihm die Schweißausbrüche bereitet hatte, ihren perfekt geformten Unterschenkel sehen konnte, oder besser gesagt, ihre weißen Strümpfe, ja sogar die Strumpfbänder, die diese hielten. Er hatte das Gefühl, er müsse zu diesen Strümpfen gehen, sie zärtlich berühren, sie streicheln und küssen, zart wie ein Hühnerschenkel taten sie sich vor ihm auf. Auf der anderen Seite wollte er keinesfalls diesen Blick loslassen müssen, der ihm solch wunderbare Gefühle bereitete. Und daher stand er noch eine geschlagene Minute an der Ecke des Ganges und starrte auf die Dame, die irgendetwas an eben jener Belüftung zu suchen schien. Endlich war der Zauber gebrochen – sie quiekte (so wunderbar unschuldig aber, dass Fischer noch mehr Selbstdisziplin aufbringen musste, um sie nicht an sich zu reißen, obwohl er noch nicht einmal ihr Gesicht gesehen hatte) und stieg vom Stuhl herab, wobei sie sich umdrehte und etwas verwundert Fischers Kopf um die Ecke lugen sah. Dieser wiederum war sprachlos. Das Geschöpf, das für ihn vorher nur aus einem Unterschenkel bestanden hatte, welchen er zugegebenermaßen zwar vergöttert, aber in keinster Weise in einen Zusammenhang mit einem menschlichen Wesen gebracht hatte, war auf einmal auf der Evolutionsleiter ein paar Stufen nach oben geklettert für ihn. Er hatte es ohne Zweifel mit einem Engel zu tun. Die Dame, die ihn anblickte, hatte lockiges, goldenes Haar, dünne, zerbrechliche weiße Haut, volle, tiefrote Lippen und die schwärzesten Augen, die er jemals gesehen hatte. Sie trug eine weiße Bluse, die an den Ärmeln weit geschnitten war, die es allerdings nicht vermochte, ihren üppigen Busen zu tarnen, der sich gegen den ächzenden Stoff drückte, als sie den Stuhl herabstieg. Dazu trug sie einen schwarzen, knielangen Rock, der Fischer in Ansätzen träumen ließ. Dennoch bemerkte er wohlgefällig ihre ausladenden Hüften. Als er sie mit eingefrorenem Blick ansah, fing sie an zu lächeln und sagte: „Oh.“ Fischer, momentan seiner sprachlichen Fertigkeiten beraubt, wiederholte: „Oh.“ Die Dame, sie mochte Mitte Zwanzig sein, lachte und stellte somit ihre perfekten weißen Zähne zur Schau. Sie deutete zum Schacht und erklärte: „La Chiave.“ Fischer schluckte. Sie schaute ihn erwartungsvoll an und erzählte ihm dann in gebrochenem Italienisch etwas von Zimmer und Schlüssel. Verzweifelt versuchte Fischer herauszufinden, was er tun sollte. Als er ihr antwortete, kam ein Gemisch aus Ungarisch, Italienisch, Spanisch und Englisch heraus: „I kulcs no cammere.“ Sie fing an zu lachen, lauthals. Als sie ihn erneut ansprach, stellte sich heraus, dass sie Spanisch sprach und endlich legte sich der Nebel, der sich über Fischers Hirn verdichtet hatte. Er bot ihr an, ihr zu helfen, immer noch unsicher, immer noch um die Ecke blickend, bis schließlich ein Steward den Gang entlanggetrabt kam und der Dame die Zimmertür öffnete.

„Mein Name ist Smeralda“, hauchte sie ihm noch zu, bevor sie sich zur Tür wandte. „Smeralda Acuna Cortazar“. Und mit diesem, von glockenheller Stimme vorgetragenen Namen hüpfte er jubilierend in sein eigenes Zimmer, das nur ein paar Schritte den Gang hinab lag, bevor ihm klar wurde, dass er vollkommen vergessen hatte, sich ihr selbst vorzustellen.

Der letzte Ball

Подняться наверх