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Die Baukunst –
das große Buch der Menschheit Im Gespräch mit Victor Hugo

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Ihrer Überzeugung nach wurde das große Buch der Menschheitsgeschichte in Stein gemeißelt bzw. mit Steinen gemauert, Monsieur Hugo?

Hugo: In Wahrheit bildet, vom Ursprunge der Dinge an bis einschließlich zum 15. Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung, die Baukunst das große Buch der Menschheit, das Hauptausdrucksmittel des Menschen in seinen verschiedenen Entwicklungszuständen, sei es nun als Macht oder sei es als Intelligenz … So ist während der sechs ersten Jahrtausende der Welt, von der urältesten Pagode Hindustans an bis zum Kölner Dom, die Baukunst die große Schreibkunst des menschlichen Geschlechtes gewesen. Und das ist dermaßen in der Wahrheit begründet, dass nicht nur jedes religiöse Sinnbild, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem ungeheuern Buche seine Seite und sein Denkmal besitzt.

Mit einer erstaunlichen Entwicklungsgeschichte …

Hugo: Jede Zivilisation beginnt mit der Priesterherrschaft und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz freiheitlicher Entwicklung, welches an die Stelle der Einheit tritt, ist in der Baukunst niedergeschrieben. Denn wenn wir auf diesen Punkt Gewicht legen, so muss man nicht glauben, dass die Mauerkunst vermögend sei, nur den Tempel zu bauen, nur den Mythus und die kirchliche Symbolik darzustellen, nur die geheimnisvollen Tafeln des Gesetzes auf seine steinernen Seiten in Hieroglyphenschrift einzutragen. Wenn es so wäre, wie ja in jedem menschlichen Gesellschaftszustande ein Augenblick eintritt, wo das geheiligte Sinnbild sich abnutzt und vor dem freien Gedanken verschwindet, wo der Mensch sich dem Priester entzieht, wo das Auswachsen der philosophischen Wissenschaften und Systeme die Grenzlinie der Religion durchbricht, so würde die Baukunst diesen neuen Zustand des menschlichen Geistes nicht wiedergeben können: Ihre auf der Vorderseite beschriebenen Blätter würden auf der Rückseite leer bleiben, ihr Werk würde verstümmelt und ihr Buch unvollständig sein. Das geschah nun freilich nicht.

Sondern? Die Baukunst – Kulminationspunkt aller Kräfte des Menschen?

Hugo: Alle physischen und alle geistigen Kräfte der Gesellschaft liefen in demselben Punkte, der Baukunst, zusammen. In dieser Weise und unter dem Vorwand, der Gottheit Kirchen zu bauen, entfaltete sich die Kunst in großartigen Verhältnissen …

Bis zur Erfindung des Buchdrucks …

Hugo: Bis zu Gutenbergs Auftreten war die Baukunst die hauptsächliche schriftliche Kunst, die Allgemeinschrift. Dieses granitene Buch wird im Orient begonnen, vom griechischen und römischen Altertum fortgesetzt, und das Mittelalter schreibt dessen letzte Seite. Übrigens zeigt sich jene Erscheinung einer Volksbaukunst, welche … die Baukunst einer Gesellschaftskaste verdrängt, bei ganz gleichartiger Richtung in der menschlichen Intelligenz, auch in andern großen Epochen der Geschichte. Also: Um ein Gesetz, welches verlangen könnte, in zahlreichen Bänden aufgedeckt zu werden, hier nur summarisch darzustellen, so folgte im Innern des Morgenlandes, an der Wiege der Urzeiten, auf die Baukunst der Hindus diejenige der Phönizier, als die reiche Mutter der arabischen Baukunst; im Altertum schloss sich an die ägyptische Baukunst, von welcher der etruskische Stil und die Zyklopenbauten nur eine Abart sind, die griechische an, von welcher der römische Stil nur eine mit dem karthagischen Gewölbe überlastete Verlängerung ist; in den neueren Zeiten trat an Stelle des romanischen der gotische Baustil. Und wenn wir diese drei Stilreihen trennen, so finden wir an den drei ältern Schwestern – der Baukunst der Hindus, der ägyptischen und der römischen – dasselbe Symbol wieder, das heißt: die Priesterherrschaft, die Kaste, die Einheit, das Dogma, den Mythos, Gott; und was die drei jüngern Schwestern – die phönizische, griechische und gotische Baukunst – betrifft, so finden wir, wie groß übrigens die Formenverschiedenheit, welche ihrer Natur anhaftet, auch sein mag, gleichfalls die nämliche Bedeutung, das heißt: die Freiheit, das Volk, den Menschen.

Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Victor-Marie Hugo, geboren am 26. Februar 1802 in Besançon, gestorben am 22. Mai 1885 in Paris, war Schriftsteller, Publizist und Politiker und gilt neben Molière, Voltaire und Balzac vielen Franzosen als ihr größter Autor überhaupt.

Der behauste Mensch

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