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Die Natur – das Grausamste und Fremdeste Im Gespräch mit Rainer Maria Rilke

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Herr Rilke, im Zeitalter des Klimawandels und einer fortschreitenden Umweltbedrohung lassen Sie uns bitte über das Verhältnis des Menschen zur Natur miteinander sprechen. Zu diesem Themenkomplex haben Sie eine überaus dezidierte Meinung.

Rilke: Da könnte mancher sich auf unsere Verwandtschaft mit der Natur berufen, von der wir doch abstammen als die letzten Früchte eines großen aufsteigenden Stammbaumes. Wer das tut, kann aber auch nicht leugnen, dass dieser Stammbaum, wenn wir ihn, von uns aus, Zweig für Zweig, Ast für Ast, zurückverfolgen, sehr bald sich im Dunkel verliert; in einem Dunkel, welches von ausgestorbenen Riesentieren bewohnt wird, von Ungeheuern voll Feindseligkeit und Hass, und dass wir, je weiter wir nach rückwärts gehen, zu immer fremderen und grausameren Wesen kommen, sodass wir annehmen müssen, die Natur, als das Grausamste und Fremdeste von allen, im Hintergrunde zu finden.

Nun lebt der Mensch aber in der Natur und von ihr. Er ist ein Teil von ihr.

Rilke: Der Umstand, dass die Menschen seit Jahrtausenden mit der Natur verkehren, (ändert daran) nur sehr wenig; denn dieser Verkehr ist sehr einseitig. Es scheint immer wieder, dass die Natur nichts davon weiß, dass wir sie bebauen und uns eines kleinen Teiles ihrer Kräfte ängstlich bedienen. Wir steigern in manchen Teilen ihre Fruchtbarkeit und ersticken an anderen Stellen mit dem Pflaster unserer Städte wundervolle Frühlinge, die bereit waren, aus den Krumen zu steigen. Wir führen die Flüsse zu unseren Fabriken hin, aber sie wissen nichts von den Maschinen, die sie treiben. Wir spielen mit dunklen Kräften, die wir mit unseren Namen nicht erfassen können, wie Kinder mit dem Feuer spielen, und es scheint einen Augenblick, als hätte alle Energie bisher ungebraucht in den Dingen gelegen, bis wir kamen, um sie auf unser flüchtiges Leben und seine Bedürfnisse anzuwenden. Aber immer und immer wieder in Jahrtausenden schütteln die Kräfte ihre Namen ab und erheben sich, wie ein unterdrückter Stand gegen ihre kleinen Herren, ja nicht einmal gegen sie – sie stehen einfach auf, und die Kulturen fallen von den Schultern der Erde, die wieder groß ist und weit und allein mit ihren Meeren, Bäumen und Sternen.

Was schlussfolgern Sie daraus?

Rilke: Der gewöhnliche Mensch, der mit den Menschen lebt und die Natur nur so weit sieht, als sie sich auf ihn bezieht, wird dieses rätselhaften und unheimlichen Verhältnisses selten gewahr. Er sieht die Oberfläche der Dinge, die er und seinesgleichen seit Jahrhunderten geschaffen haben, und glaubt gerne, die ganze Erde nehme an ihm teil, weil man ein Feld bebauen, einen Wald lichten und einen Fluss schiffbar machen kann. Sein Auge, welches fast nur auf Menschen eingestellt ist, sieht die Natur nebenbei mit, als ein Selbstverständliches und Vorhandenes, das so viel als möglich ausgenutzt werden muss …

In diesem Missverhältnis messen Sie der Kunst eine große Bedeutung bei?!

Rilke: Es ist nicht der letzte und vielleicht der eigentümlichste Wert der Kunst, dass sie das Medium ist, in welchem Mensch und Landschaft, Gestalt und Welt sich begegnen und finden. In Wirklichkeit leben sie nebeneinander, kaum voneinander wissend, und im Bilde, im Bauwerk, in der Symphonie, mit einem Worte in der Kunst, scheinen sie sich, wie in einer höheren prophetischen Wahrheit, zusammenzuschließen, aufeinander zu berufen, und es ist, als ergänzten sie einander zu jener vollkommenen Einheit, die das Wesen des Kunstwerks ausmacht.

Herr Rilke, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Rainer Maria Rilke, geboren am 4. Dezember 1875 in Prag, damals Österreich-Ungarn, gestorben am 29. Dezember 1926 in Val-Mont bei Montreux, Schweiz, eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, war ein österreichischer Lyriker deutscher und französischer Sprache. Er gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Moderne; politisch sah er im italienischen Faschismus ein Heilmittel in einem gefährdeten Europa.

Der behauste Mensch

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