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Wie bei Hempels unterm Sofa Einleitung
ОглавлениеZeige mir, wie du haust, und ich sage dir, wer du bist. Unser Haus, unsere Behausung, unsere Wohnung sind Ausdruck unserer Persönlichkeit; zugleich verweisen sie auf das So-und-nicht-anders-Sein unserer individuellen wie unserer kollektiven Existenz auf diesem Planeten. Wer sesshaft ist, vier Mauern um sich hat und ein Dach über dem Kopf sein Eigen nennt, lebt anders als ein Nomade oder ein Flüchtling. Und selbstverständlich hat das Behaust- wie das Unbehaustsein auch eine ethische wie eine spirituell-religiöse Dimension, die es immer mitzubedenken gilt.
Am Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu wollen seine neuen Jünger ihn kennenlernen, und sie fragen ihn: »Wo wohnst du?« Seine Antwort: »Kommt und seht.« Er lädt sie zu sich nach Hause ein. Dieses »Zuhause« Jesu verweist auf eine umgreifend religiöse Dimension unseres Lebens. Das Haus ist Bild des Himmels und Bild der Erde. Jesus sagt: »Im Haus meines Vaters sind viele Wohnungen, und ich gehe, euch eine Wohnung zu bereiten.« Die Umwelt- und Gerechtigkeitsenzyklika »Laudato si’« von Papst Franziskus trägt den Untertitel »Über die Sorge für das gemeinsame Haus« – und dieses gemeinsame Haus ist nichts anderes als unser blauer Planet.
Wohngeschichte ist Kulturgeschichte
Wer eine Wohnung hat, kann Gastgeber sein und sich großzügig zeigen; Obdachlosigkeit grenzt aus und isoliert. Wohngeschichte ist Kulturgeschichte; der Wohnraum ist Resonanzraum des Lebens, eine erweiterte Leiblichkeit des Menschen. Die Wohnung gehört zur Intimsphäre, ist Teil der Persönlichkeit; deshalb ist sie unverletzlich, und die Polizei braucht einen richterlichen Beschluss, wenn sie Einlass begehrt. Wenn man jemanden wirklich treffen und auslöschen will, zerstört man sein Haus.
Als Behauste sind wir privilegiert im Vergleich zu den Unbehausten. Aber wir sind auch verantwortlich für unser Haus, haben Sorge dafür zu tragen, dass es erhalten und nachhaltig bewohnbar bleibt. Wenn es bei uns zu Hause beständig aussieht »wie bei Hempels unterm Sofa«, legen wir sichtbar Zeugnis von einer besonderen Art und Weise unseres Hausens ab. Die heute gängige abwertende Verwendung dieses Begriffs (etwa für »sich wüst aufführen«, hausen »wie die Vandalen«) gewinnt substantiell vor allem dort an Gewicht, wo es eben tatsächlich aussieht »wie bei Hempels unterm Sofa« oder wo die Rede ist von Gefährdungen unserer Welt, die durch rücksichtslose Menschen verursacht werden. Und es gibt viele Hempels in dieser menschlichen Welt. Und viele Sofas.
Der Begriff »hausen«, wie er in diesem Buch verwendet wird, knüpft hingegen an die ursprüngliche Bedeutung an und meint »wohnen, wirtschaften, haushalten«, mehr noch: das menschliche Sein auf Erden schlechthin – im Sinne des Existenzphilosophen Martin Heidegger, wie er nicht zuletzt im Begriff Heimat zum Ausdruck kommt. Ähnlich im Griechischen: Oikos ist das Haus im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, oikein heißt wohnen. Hausen ist also ein Zu-Hause-Sein, im eigenen Anwesen sein; verwandt, aber aus anderer Perspektive gedacht, ist das englische to house: beherbergen, Raum geben (und dadurch ermöglichen).
Die in diesem Buch versammelten fiktiven Gespräche mit Persönlichkeiten der europäischen und der anglo-amerikanischen Geistesgeschichte bewegen sich im weitgefassten Umfeld von Architektur, Städtebau, Stadtplanung, Ökonomie, Ökologie, Bau- und Immobilienwirtschaft. Sie beziehen philosophische, sozialwissenschaftliche und psychologische Fragestellungen mit ein, immer auch im Blick auf ganz persönliche Schicksale, Erfahrungen und Anekdoten, wie sie sich zum Beispiel aus den Lebenserinnerungen meiner »Gesprächspartner« erschließen. Das »Behaustsein« erweist sich als ein in den unterschiedlichen Epochen der Geschichte bis hinein in unsere Tage so und nicht anders gewordenes Sein – des individuellen Menschen einerseits, der gesamten Spezies andererseits. Selbst die Texte des Gestern und des Vorgestern lassen immer wieder auch unsere aktuellen Fragestellungen durchscheinen und offerieren Antworten auf die großen Fragen unserer Gegenwart.
In der fortgeschrittenen Industriegesellschaft ist der Wechsel der Arbeit nicht selten auch mit einem Wechsel des Wohnortes verbunden. Vom mehr oder minder freiwillig Umziehenden, dessen Umzug bedingt ist durch den Wechsel der Arbeitsstelle, zu unterscheiden ist der Flüchtling, der aus seiner Behausung – aus welchen Gründen auch immer, Kriege oder Naturkatastrophen etwa – gewaltsam Vertriebene, der sich an einem anderen Ort, meist sogar in einem anderen Land, ein neues Zuhause suchen muss. Fraglos hat der Begriff »Flüchtling« viele Facetten und ist konnotiert mit Verlust von Heimat, von Sicherheit und von Identität. Geflohene sind Entwurzelte. Die große Mehrheit der Menschen indes in unserer so und nicht anders gewordenen Gegenwart, zumindest in unserer Hemisphäre, ist in einer bestimmten Gegend verwurzelt, auf Dauer sesshaft; das Behaustsein erweist sich als Definiens zivilisierten menschlichen Lebens. Und das über die Zeiten hinweg – von den ummauerten Städten als identitätstiftenden Behausungsentitäten über Burgen und Festungen bis hin zum afrikanischen Kral, um nur einige Beispiele zu nennen.
Diese Definition schließt den Zustand des »Unbehaustseins«, wie Hans Egon Holthusen ihn beschrieben hat, ein. Der »unbehauste Mensch« in Holthusens Sinne ist ein Sonderfall des Behaustseins und beschreibt im Konkreten das Lebensgefühl der Trümmergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit ihren Behausungen auch ihre Heimat verloren hatte, in Ruinen leben und aus den Ruinen ein neues Behaustsein schaffen musste. Unbehaust lebt freilich auch der Obdachlose in einem Zustand des Mangels an einem Dach über dem Kopf, aber durchaus an einem ihm angestammten Platz, der auch verteidigt wird – entweder vorübergehend oder auf Dauer. Aber auch »mobile« soziale Gruppierungen, wie wir sie etwa bei den Nomadenvölkern oder in der US-amerikanischen Wohnwagenkultur finden, gehören in die Kategorie des »Unbehaustseins« ohne spezifische Sesshaftigkeit, die identität- und heimatstiftende »mobile« Behausung quasi von Ort zu Ort bewegend. Im Rückgriff auf literarische Texte von Goethe über Rilke bis Kafka analysiert Holthusen die Situation des modernen Menschen in seinem Geworfensein schlechthin, verbunden mit einer zwangsläufigen Loslösung von alten geistigen Ordnungen. Der »unbehauste Mensch« steht insofern auch als Symbol für die Zerbrechlichkeit behausten Existierens. »Hausen« ist keine Selbstverständlichkeit. Das verdeutlicht der als Flüchtling Unbehauste genauso wie der im Krieg ausgebombte Unbehauste oder der Obdachlose als – in der Regel – Opfer der modernen Leistungs-, Überfluss- und Konsumgesellschaft.
Behaustsein ist das Ergebnis eines umfassend-schöpferischen Prozesses in und an den Wirklichkeiten unserer Welt und wird so als Wirkung wiederum selbst zum kulturellen, sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Element des Wirklichen. Diese Wirkung kann auch beschrieben werden als umfängliche Arbeit des Menschen an der Welt; sie beinhaltet im Ergebnis das So-und-nicht-anders-Sein des Menschen in einer Zeit und an einem Ort. In diesem existentiellen Sinn schreibt Martin Heidegger: »Bauten behausen den Menschen.« Und weiter: »Das althochdeutsche Wort für bauen, ›buan‹, bedeutet Wohnen. Dies besagt: bleiben, sich aufhalten … Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen.« Schließlich erwächst aus dem Hausen aber, Heidegger folgend, auch eine doppelte Verpflichtung zum Bewahren der Schöpfung vor Schaden und zur Vermeidung von Bedrohungen: »Der Grundzug des Wohnens ist … Schonen. Er durchzieht das Wohnen in seiner ganzen Weite. Sie zeigt sich uns, sobald wir daran denken, dass im Wohnen das Menschsein beruht, und zwar im Sinne des Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde.« Und diese Erde gelte es zu bewahren, nicht zuletzt vor Missbrauch durch den Menschen und seine Technik.
»Heuristik der Furcht«
Die Arbeit an der Welt, das Herrichten der Erde zur Basis menschlicher Behausungen, hat uns die Möglichkeit globalen Betroffenseins von Katastrophen vor Augen geführt und damit der Globalisierung eine bizarre Dimension des Schreckens verliehen. Aus jenen kollektiven Bedrohungen, die die Menschen selbst hervorgebracht haben, leitet Hans Jonas eine »Heuristik der Furcht« ab, die in der Tat neue Wertsetzungen und Orientierungen ermöglichen könnte. Es geht um eine Re-Humanisierung der Technik, deren verantwortungslose Verselbständigung und Ent-Humanisierung sicherlich nicht in der Absicht ihrer Erfinder angelegt war. Das damit verbundene Paradoxon ist das bizarre Symbol unseres zivilisatorischen Gewordenseins schlechthin. Dem Menschen als »Mängelwesen« (Arnold Gehlen) – ohne Kleidung, vier Mauern um sich herum und ein Dach über dem Kopf überhaupt nicht überlebensfähig – ist es dank seines Genius einerseits, wegen seiner Hybris andererseits gelungen, sich zunächst seine Existenz gegenüber den Unbilden der Natur zu sichern, sich anschließend aber in eine existenzbedrohende Krise hineinzumanövrieren. Und letztlich als Initial dieses »Manövers« steht der oikos – im Griechischen das Haus oder auch das Herdfeuer, seit Aristoteles der Ursprung aller Ökonomie, die nichts anderes war als »Hauswirtschaft«, die Bewirtschaftung der einzelnen Behausung zum einen und die Bewirtschaftung der kollektiven Behausung, der polis, zum anderen.
Die Konsequenzen der daraus folgenden atemberaubenden Entwicklung sind bekannt. Sie führte in unserer Moderne zu einem steten Diskurs zwischen Ökologen und Ökonomen. Denn die ökonomische Eindimensionierung der zivilisierten Welt mit ihren Mechanismen zur Ausbeutung der Erde und der Spezies vor allem in der Dritten Welt hat das Ökosystem über alle Grenzen hinaus mit vielen irreversiblen Schäden belastet. Im Ausdruck »Anthropozän« für das vom Menschen geprägte Erdzeitalter klingt eine Bilanz des Schreckens mit an. In der Enzyklika »Laudato si’« aus dem Jahr 2015 bilanziert Papst Franziskus im ersten Kapitel unter der Überschrift »Was unserem Haus widerfährt« umfassend die Folgen von Umweltverschmutzung und Klimawandel in all ihren Facetten von der Abfall- und Wegwerfkultur über die Wasserfrage und den Verlust der biologischen Vielfalt bis hin zur generellen Verschlechterung der Lebensqualität und zum sozialen Niedergang. Seine Kritik gilt dem globalen Wirtschaftssystem, in dem Spekulation und Streben nach finanziellem Ertrag vorherrsche ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf die Menschenwürde und die Umwelt. Franziskus folgert: »So wird deutlich, dass die Verschlechterung der Umweltbedingungen und die Verschlechterung im menschlichen und ethischen Bereich eng miteinander verbunden sind.«
Speziell die Themenkomplexe Umwelt, Klimawandel, Atommüll, Müllbelastung, aber auch die demografische Entwicklung sind Gegenwartsrisiken und bereits bei Hans Jonas genauso inkludiert wie die daraus folgenden Konsequenzen notwendigen nachhaltig-ökologischen Wirtschaftens. Damit verbunden: die Frage nach der Urbanisierung unseres Planeten. Und so sind wir bei einer das menschliche Kollektiv betreffenden Fragestellung. Denn die Einzelnen und die Veränderung ihres Verhaltens sind zwar wichtig. Aber von entscheidender Bedeutung ist die Frage nach einer neuen kollektiven Ethik in dieser so und nicht anders gewordenen Wirklichkeit unserer Welt im ersten Jahrhundert des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung – und das ganz im Sinn des päpstlichen Schreibens »Laudato si’«. Was 2000 Jahre gutging (mit allerdings beständig zunehmenden Risiken vor allem im 20. und 21. Jahrhundert), kann nicht hoffnungsfroh in alle Zukunft linear fortgeschrieben werden. Denn die Risiken der Urbanisierung mit all ihren Implikationen, wie wir sie seit Jahren kennen und diskutieren, werden nicht kleiner, sondern größer. Denken wir exemplarisch nur an die CO2-Emissionen der privaten Haushalte oder die der Wegwerfgesellschaft geschuldeten Plastikabfälle, die den direkten Weg von der Stadt in die Ozeane finden. Nicht von ungefähr machte vor einigen Jahren das Wort von der »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) die Runde. Die Stadt der Menschen, einstmals eine Enklave in der nichtmenschlichen Welt, breite sich über das Ganze der irdischen Natur aus und usurpiere ihren Platz, schreibt Hans Jonas. Im Zusammenhang mit dieser Usurpation dürfen nicht unerwähnt bleiben – mehr noch: müssen in besonderer Art gebrandmarkt werden – die menschenverachtenden Verwerfungen des Hausens etwa in den brasilianischen Favelas, den südafrikanischen Townships oder den elendigen Flüchtlingslagern überall auf der Welt, sogar innerhalb der Verantwortung unserer europäischen Zivilisation, einen Skandal in Permanenz markierend. Fraglos steht unser Verständnis menschlichen Seins auf dem Prüfstand der Vernunft und der Menschlichkeit.
Die Natur wehrt sich. Das Wetter schlägt Kapriolen, die Erderwärmung schreitet unaufhaltsam voran und die Sturmfluten werden häufiger und heftiger. Aber auch die große Zahl neu aufgetauchter krankmachender Erreger, von HIV über Ebola bis zu den Coronaviren, dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen sein, dass die natürlichen Lebensräume der Tierwelt immer rascher zerstört werden. Tiere, deren eigene Behausungsterritorien der Urbanisierung zum Opfer fallen, weichen in die Nähe menschlicher Siedlungen aus und übertragen Erreger auf den Menschen. Wie notiert Hans Jonas bereits Ende der 1970er-Jahre mit prophetischer Weitsicht? Das Natürliche sei von der Sphäre des Künstlichen verschlungen worden, und gleichzeitig erzeuge das totale Artefakt, »… die zur Welt gewordenen Werke des Menschen, die auf ihn und durch ihn selbst wirken, eine neue Art von ›Natur‹, das heißt eine eigene dynamische Notwendigkeit, mit der die menschliche Freiheit in einem gänzlich neuen Sinn konfrontiert ist«.
Prozess der Rationalisierung
Als »Berufsmenschen ohne Herz und Genussmenschen ohne Geist«, als arbeitsteilige Fachidioten und hedonistische Konsumenten also, charakterisierte Max Weber den modernen Menschen im Zeitalter des entfesselten Kapitalismus, von ihm häufig auch als »Raubtier-Kapitalismus« bezeichnet. Verbunden war diese Art Kapitalismus Weber zufolge mit einem universalen Prozess der Rationalisierung, im Verbund ein »stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit« schaffend, in dem der Einzelne genauso wie das Kollektiv in die Zwangsjacke ökonomischer Zweckrationalität gesteckt wurde. Unter »Rationalisierung« verstand Weber den zivilisatorischen Modernisierungsprozess schlechthin in seinen vielfältigen Gestalten von Bürokratisierung, Spezialisierung, Säkularisierung und kapitalistischer Produktionsweise – begleitet von einer durch die Wissenschaft forcierten »Entzauberung der Welt«. Die Wissenschaft beraubte und beraubt die Welt ihres Zaubers und damit auch ihrer Götter. Das zauberhaft-irrational Göttliche wird ins Abseits gedrängt und fristet ein eher kümmerliches Dasein gegenüber der dominanten nüchtern-anonymen Ratio, die – wie in alten Zeiten die Religion – alle Wirklichkeiten unserer Zivilisation durchdringt und auch im Sozialen auf alle Strukturen und Funktionen Einfluss nimmt. Weber zufolge transformieren »die kalten Skeletthände der rationalen Ordnung« die westlichen Gesellschaften bis auf ihre Fundamente. Die vereinigten Kräfte aus Kapitalismus, Wissenschaft, Bürokratie und Rationalisierung werden zur schicksalhaften Macht, vor der es kein Entrinnen gibt. Genuiner Ursitz dieser Macht ist die Stadt, in ihrer »ganzen Organisation darauf eingerichtet, Eigenwilligkeit und Selbständigkeit abzutöten«, wie uns der US-amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford wissen lässt. Er analysiert demaskierend: »Auszuwählen, zu unterscheiden, Klugheit, Mäßigung oder Vorsicht zu üben, Selbstbeherrschung bis zur Enthaltsamkeit zu treiben, andere Maßstäbe als diejenigen des Marktes zu besitzen, sich andere Grenzen als diejenigen des alsbaldigen Verbrauchs zu setzen – das alles ist böse Ketzerei, die den ganzen Mythos von Megalopolis in Frage stellen und ihre Wirtschaft zum Erliegen bringen würde.«
Die Wirtschaft in der Stadt: ausgerichtet auf Konsum in Permanenz, unbeschränktes Wachstum und einen totalen Markt, vom Einzelnen bedingungs- und bewusstlos Konformität einfordernd. Wo kann in einem solchen Szenario, in dem das Individuum zum Appendix quasi ausschließlich kommerziell-ökonomischer Mechanismen und Interessen wird, Hoffnung keimen?
Mumford, nonkonformistischer Autor eines epochalen zweibändigen Werkes über »Die Stadt«, antwortet wie folgt: »Eine brauchbare Lösung dieses Problems, um das sich die ganze Zukunft unserer städtischen Kultur dreht, hängt davon ab, dass wir das Bild einer organischeren Welt entwickelten, welches allen Dimensionen der lebendigen Organismen und der menschlichen Persönlichkeit gerecht wird.« Und weiter: »Daher müssen wir uns jetzt die Stadt nicht in erster Linie als einen Ort vorstellen, wo man Geschäfte macht oder regiert, sondern als wichtiges Organ, das der neuen menschlichen Persönlichkeit Ausdruck verleiht und Geltung verschafft. Der Persönlichkeit des ›Menschen in der einen Welt‹.«
Vielfalt der Perspektiven
Es sind die immer wiederkehrenden und immer brachialer werdenden Krisen, welcher Provenienz diese auch immer sein mögen, die mit den Fragen nach ihrer Lösung auch immer wieder die »globale« Welt thematisieren, eine universale Hoffnung verbindend mit den Geboten einer menschheitlichen Ethik verbindlichen Hausens. Wissen, Ethik und Hoffnung im Verein malen kein neues Bild vom Menschen in seinem Behaustsein, eher ein seit Jahrtausenden bekanntes. Eines allerdings, das viel Spielraum für Entwicklungen lässt – positive wie negative.
Die Vielfalt der Perspektiven beim Blick auf menschliches Behaustsein in der Geistesgeschichte ist auf jeden Fall bemerkenswert. Fast alle Themen, die uns Heutige interessieren, haben zu ihrer Zeit auch unsere Vorfahren beschäftigt. Die Ästhetik der Architektur findet dabei genauso ihren Platz wie deren Gewichtung nach Form und Funktion oder deren soziale Aspekte, genauso wie ihre Wirkung in der Stadt oder in der Natur (als von der Architektur einzelner Objekte oder eines Dorfes beherrschte Landschaft). Ökonomische Aspekte sind mit dem Behaustsein per se verbunden, denn am Anfang aller systemischen Wirtschaft, wie wir sie kennen, steht der oikos, Haus und Herdfeuer also, neben der Kleidung Überlebensgarant des Mängelwesens Mensch. Auch die Frage nach dem Sozialen und dem Für und Wider von Eigentum, verbunden mit religiöser oder politischer Einflussnahme, hat die Menschen von Epoche zu Epoche begleitet und immer wieder zu neuen Antworten herausgefordert und inspiriert. Die Psychologen haben sich auf die Spurensuche nach dem seelischen nervus rerum des Behaustseins begeben wie die Philosophen nach dessen Warum und Sinnhaftigkeit.
Sehr persönliche Zugänge zum Behaustsein in unterschiedlichen familialen und sozialen Umgebungen verschaffen uns die auf Lebenserinnerungen basierenden Gespräche. Jüngeren Datums sind die in dieser Einleitung skizzierten Fragen nach Ökologie und Nachhaltigkeit, beherrschend in der Vergangenheit dagegen eher die Fragen nach der Versorgung, auch der energetischen, und der Sicherung menschlichen Existierens schlechthin. Überhaupt sind mit der Frage der Existenz Vertreter aller wissenschaftlichen Disziplinen befasst, mündend naturgemäß auch und speziell in den Themenkomplex des Miteinanderumgehens in familialen, dörflichen und städtischen Konstellationen des Sozialen, vulgo: die Ethik. Generell erweist sich die Frage nach der Ethik im Hausen als Essenz auch unserer Gegenwart und mehr noch unserer Zukunft: Welche Lehren für unser Selbstverständnis in dieser Zeit, für den Umgang miteinander, vor allem aber auch für den Umgang mit der Natur und deren Ressourcen müssen wir ziehen, um in Würde überlebensfähig zu bleiben?
Die Corona-Pandemie hat uns Segen und Fluch unserer Art des Hausens vor Augen geführt und uns einmal mehr mit der unabweisbaren Tatsache konfrontiert, dass wir, unserer Ratio-Gläubigkeit zum Trotz, Entscheidungen ins Ungewisse hinein treffen und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Nach Corona ist das zivilisatorische Grunddilemma denen, die auf die wesentlichen Fragen unserer Existenz zu antworten versuchen, deutlicher vor Augen als vorher: Unsere gesamte Lebensweise überall auf diesem Planeten, speziell aber unser Behaustsein, steht auf dem Prüfstand. Corona hat gezeigt, dass ein transnationales Gemeinsames (mit Ausnahme des globalen Betroffenseins von der Pandemie) noch nicht vorhanden ist. Die erhoffte, gewünschte, beschworene oder auch nur herbeigeredete »eine Welt« ist letztlich nur die eine von der Pandemie betroffene Welt; transnationaler Gemeinsinn, auch ein konzertiertes Handeln über Ländergrenzen hinweg, ist dagegen eine Utopie.
Utopie einer besseren Welt
Eine Utopie, ja, gewiss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn jede große Hoffnung basiert letztlich auf einer Utopie von einer besseren Welt, einem besseren Leben und einem besseren Behaustsein auf unserem blauen Planeten. Und zwar für alle Menschen. Denn letztlich liegt es an der Spezies selbst, ob die Erzählung von der Menschheit ihren Platz in der Erd- und Weltgeschichte als Dystopie oder als Utopie finden wird – unter stillschweigendem Einbezug der Tatsache, dass es eine Fortschreibung der Erd- und Weltgeschichte nur unter utopisch-visionären Gesichtspunkten geben kann. Denn eine dystopische Realität wäre, menschheitlich betrachtet, das Ende von allem, auch das Ende aller Erzählungen. Aber »der Mensch hofft, solange er lebt«, wie wir von Theokrit vor mehr als zwei Jahrtausenden gelernt haben. Und in den Text vom Sinn seiner Existenz, der jedem Menschen eingeschrieben ist, ist auch die Hoffnung miteingeschrieben, in der Bedrohung mehr denn je.
Was für den Menschen generell gilt, gilt auch für den Menschen als Behausten: Er trägt seinen Zweck und damit auch seine Hoffnung in sich. Die Entelechie – der Endzweck – des Behaustseins hat sich über die Zeiten hinweg nicht verändert. Als Behauster ist der Mensch ein im Haus mit seinesgleichen Schutzsuchender und -findender. Dabei gewinnt das englische Sprichwort »My home is my castle« speziell vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie eine vieldimensionale Bedeutung. Die auch digital hochgerüstete Behausung mit ihren technischen Vehikeln sichert einerseits vielen Menschen den Arbeitsplatz durch vernetzte, örtlich und zeitlich grenzenlose Heimarbeit unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer zumindest virtuellen Teilhabe am sozialen Leben, birgt andererseits aber auch die Gefahr, sich dem »Allzeit-Jetzt«, dem »Rund-um-die-Uhr«-Diktat der digitalen Welt auszuliefern, um wenigstens zwei von zahlreichen real sich ergebenden und im konkreten Beispiel einander bedingenden Phänomenen zu erwähnen.
Nicht vernachlässigt werden darf auch die Frage nach einer gesunden Behausung – Gesundheit definiert in einem umgreifenden Sinn des Wortes von den medizinischen Herausforderungen über die psychologischen bis hin zu den sozialen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die These, dass in unserem zivilisatorischen Gewordensein ein gesundes Leben künftig ausschließlich als Ergebnis – im besten Sinn des Wortes – nachhaltigen Hausens möglich sein wird. Hinzuweisen ist last but not least aber auch auf die Relevanz wissenschaftlicher Forschung und ein damit verbundenes Fortschreiten zur Entlastung menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Denn nur wissenschaftliche Erkenntnis im Verbund mit »guter« Technologie liefert uns die Vision eines menschengemäßen zukünftigen Lebens und Hausens. Wie auch immer: Dass die essentielle Schutzfunktion der Behausung unter den Bedingungen einer zunehmenden, quasi apokalyptischen Gefährdung unserer Welt auch weiterhin höchste Relevanz beanspruchen muss, ist das bleibende Vermächtnis nicht zuletzt jener Persönlichkeiten der Geistesgeschichte, die wir in diesem Buch befragen. Und deren Antworten verheißen Hoffnung und Bestärkung – auch im Zweifel und sogar in der Verzweiflung.