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Knapp entkommen

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Eigentlich war Maria Lautner immer noch ziemlich wütend auf die CIA. Dass schon wieder irgendjemand über ihren Kopf hinweg einfach so über ihr Leben entschied, war nicht nach ihrem Geschmack, auch wenn es sich dabei um Michael Fremont handelte. Der verdeckte Ermittler der CIA und sein Kollege, Donald Hastings, hatten ihr damals das Leben gerettet, als sie gegen Manfredo Cortez y Diega eingesetzt worden war. Das war dann schon das zweite Mal, denn auch das Wiesel hatten ihr die beiden Agenten vom Hals geschafft. Ohne sie hätte sie vermutlich die Nacht nicht überlebt, nicht einmal in der Pension Kamsarakan selber. Das Wiesel, das ihr der Boss auf den Hals gehetzt hatte, war einer der übelsten Killer, der ihr bisher begegnet war und er war nun tot. Ihr Glück, denn sonst wäre es um sie geschehen gewesen. Eigentlich sollte sie traurig sein, dass Menschen einander einfach so umbrachten, aber wenn es das Wiesel betraf, dann konnte sie das einfach nicht bedauern. Es gruselte sie bei dem Gedanken daran was der Kerl mit ihr angestellt hätte, wenn er sie in die glitschigen Finger bekommen hätte. Maria Lautner schüttelte sich unwillkürlich. Sie sollte das einfach aus ihrem Gedächtnis streichen, aber ihr Gewissen hatte schon immer ein Eigenleben geführt. Es würde wohl eine Weile dauern bis sie darüber hinwegkam. Immerhin hatten die zwei CIA-Agenten den Mann getötet und nicht sie.

Die beiden verdeckten Ermittler wussten erstaunlich gut Bescheid über sie. Selbst über das was der Erzbischof von Sjunik mit ihr vor hatte. Sie wusste, dass die Beiden es nur gut mit ihr meinten und sie nur vor Manfredo Cortez y Diega beschützen wollten. Sie war den Beiden nicht mehr böse, dass sie sie so überrumpelt hatten. Aber auf Dauer würde ihnen das sowieso nicht gelingen. Irgendwann würde Hernez Breitmeier, der Sekretär des einflussreichen Geschäftsmannes, die Aufnahmen von der großen Kaskade in die Finger bekommen und dann war die Hetzjagd auf sie eröffnet. Besser sie kam dem zuvor und wusste, wann es soweit war. Es war ihr Risiko und sie ging das gerne ein, wenn sie dazu beitragen konnte, dass die beiden Männer vielleicht eines Tages in irgendeinem Gefängnis versauerten. Immerhin hatte sie jetzt zwei bezahlte Jobs. Einmal als "Ghost" für die Organisation des Erzbischofs und wohl jetzt auch noch für die CIA.

Maria Lautner schüttelte unwillig den Kopf. Sie sollte an andere Dinge denken. In einer Stunde würde sie die Pension Kamsarakan in Aschtarak verlassen und vermutlich niemals wieder hierher zurückkommen. Das tat ihr ein wenig leid, denn der Ort hier gefiel ihr sehr gut. Leider war es nun nicht mehr zu ändern. Rasch packte sie ihre wenigen Habseligkeiten in die kleine Reisetasche und sah sich noch einmal akribisch um. Alle Spuren waren beseitigt, ihre Fingerabdrücke peinlichst von den Oberflächen entfernt. Schade, dass sie die restlichen Räume der Pension nicht saubermachen konnte, aber sie hatte ohnehin von Anfang an darauf geachtet, dass sie kaum verwertbare Spuren hinterließ. Die Besitzerin, Frau Kamsarakan, war sehr reinlich und in ein paar Tagen würde deshalb gewiss nicht einmal mehr ein Haar von ihr zu finden sein. Ob der Boss schon wusste, dass der Anschlag auf sie gescheitert war? Nervös knabberte sie an ihrer Unterlippe und ging hinunter zur Lobby der kleinen Pension um zu bezahlen, natürlich in bar.

Nachdem sie sich verabschiedet hatte, stieg sie in das gemietete Auto und fuhr nach Echmiadzin. In der Nähe der Kirche parkte sie ihren Wagen und ging das letzte Stück zu Fuß. Es war noch sehr früh am Morgen und dadurch waren nur wenige Menschen auf den zugeschneiten Straßen unterwegs. Eine klirrende Kälte war über Nacht von Norden herangezogen und ließ die Bäume und Sträucher mit einem weißen, vom Raureif überhauchten Kleid zurück. Maria Lautner zog den dünnen Mantel enger um sich, als sie die Mashtots Poghots entlanghastete, die zu der Kirche der Hripsime führte.

Der Erzbischof stand schon am Fuß der Treppe des altehrwürdigen Gotteshauses und wartete ungeduldig auf seinen Füßen wippend auf sie. »Guten Morgen, meine Tochter!«, er winkte Maria Lautner hastig zu ihm zu folgen.

Sie hatte nicht einmal die Zeit ihn zu begrüßen, so eilig hatte er es. Gemeinsam stiegen sie die steile Treppe hinauf. Maria Lautner wollte eigentlich nicht in die Kirche hineingehen, da sie dadurch unangenehm an ihren letzten Besuch erinnert wurde. An den Besuch, bei dem ihr das Wiesel aufgelauert hatte. Der Erzbischof ließ ihr keine Wahl und schob sie ohne ein Wort zu verlieren durch das Kirchenportal. Drinnen zog er sie zur Seite, hin zu den Hunderten von Kerzen, die auf einem mit Sand bestreuten schwarzen Metallgestell leise rußend vor sich hinbrannten. Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass sie nicht beobachtet werden konnten. Er griff unter seine Soutane und zog eine längliche Mappe heraus, die er ihr in die Hand drückte.

»Das hier sind deine Papiere, meine Tochter. Lass das Mietauto stehen. Wir kümmern uns darum. Die Delegation startet in einer halben Stunde. Der Bus steht vor dem Gevorgian Seminar. Du brauchst nur einzusteigen. Der Fahrer weiß Bescheid. Er bringt dich zum Flughafen nach Jerewan. Tauch unter, mindestens für ein halbes Jahr, bevor du mit deinen Ermittlungen beginnst. Erst dann nimmst du Kontakt mit dem CIA-Mann auf. Er wird mich auf dem Laufenden halten. Kein direkter Kontakt zu mir in den nächsten zwölf Monaten. Verstanden! Viel Glück, meine Tochter.« Er segnete sie kurz und lächelte ihr aufmunternd zu.

Maria Lautner stutzte ein wenig bei den letzten Worten. War das wirklich nötig? Dass es ziemlich gefährlich für sie werden würde, war ihr doch sowieso klar. Sie stellte ihre Fragen zurück. Wenn sie das nächste halbe Jahr unerkannt überstand, sah alles anders aus. Bis dahin war sicher Gras über ihre alte Existenz gewachsen. Zwölf Monate waren entschieden zu viel und in ihren Augen auch überflüssig. Bevor der Erzbischof davonstürmen konnte, hielt sie ihn schüchtern am Ärmel zurück und umarmte ihn fest. Natürlich war das nicht wirklich angemessen, aber irgendwie war sie sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie ihm in diesem Leben noch einmal persönlich begegnen würde oder nur noch über das Spezialtelefon mit ihm in Verbindung bleiben konnte. Mit Tränen in den Augen sagte sie, »Danke für alles, Exzellenz.«

Der Geistliche räusperte sich ein wenig verlegen und verschwand dann ohne sich noch einmal umzudrehen in Richtung Kirchenschiff. Lächelnd sah sie ihm hinterher und atmete ein paarmal tief durch. Nach einem kurzen Blick in die schmale Mappe, die neben dem Flugticket einen neuen Pass, einen weiteren einfachen Briefumschlag, eine erkleckliche Summe Dollarnoten und ECOS-Coupons enthielt, steckte sie sie in die Innentasche ihres Reisemantels, nachdem sie ihren neuen Reisepass herausgenommen hatte. Sie hatte später noch Zeit den Inhalt der Mappe genauer zu untersuchen. Jetzt war es erst einmal wichtig, dass sie möglichst schnell von hier wegkam. Dennoch nahm sie sich kurz die Zeit einen Blick auf ihre neue Identität zu werfen.

ESMERALDA PARADOR

geboren am 08.04.2060 in VALDIVIA

CHILE,

stand da in großen fetten Buchstaben. »Aha, das Geburtsdatum hat er also gelassen. Valdivia! Eine vor langer Zeit von Deutschen aufgebaute Stadt also. Der Erzbischof denkt mit«, dachte Esmeralda belustigt. Immerhin sprach sie perfekt Deutsch, da ihre Eltern aus Österreich stammten. Das würde einen möglichen leichten Akzent erklären, den sie anfangs sicherlich noch hatte. Nachdem es auch heute noch viele von Deutschen abstammende Einwohner im Kleinen Süden von Chile gab, war das zumindest eine glaubwürdige Erklärung für ihre sprachliche Unzulänglichkeit. Sie steckte die neue Identitätskarte in eine der Innentaschen ihres Reisemantels und zog ihren alten Pass und alle anderen Ausweiskarten, die sie noch besaß, aus ihrer Handtasche. Nach einem letzten prüfenden Blick in die Tiefen ihrer Tasche, damit sie auch nichts vergessen hatte, schob sie die alten Identitätskarten und Kreditchips in eine durchsichtige Tüte. Es zischte ein klein wenig und roch nach verbrannten Chemikalien, aber von den Plastikkarten war nun nichts mehr übrig, außer einem winzigen Klümpchen zerschmolzenem Kunststoff und etwas Gold. Ab jetzt war sie nicht mehr Maria Lautner, sondern Esmeralda Parador.

Mit neuem Mut trat sie durch das Kirchenportal hinaus in den Sonnenschein, der den Schnee auf den Bäumen und Dächern der Häuser glitzern ließ. Die Luft war klar und roch nach weiteren Schneefällen. Es war ein ziemlich kalter Morgen und sie fror in dem dünnen Reisemantel. Rasch stieg sie die steile Treppe zur Hauptstraße hinunter und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Gevorgian Seminar. Ihr Auto ließ sie einfach stehen, so wie der Erzbischof sie angewiesen hatte.

Der Weg, den sie zurücklegen musste, um zum Seminar zu gelangen, war nicht allzu weit. Sie brauchte nur die Mashtots Poghots bis zum Komitas Hraparak entlangzulaufen um zum Seminar zu kommen. Schon von weitem sah sie den Bus vor der denkmalgeschützten Anlage stehen. In schwarze Anzüge mit weißem Kragen gekleidete Priester stiegen gerade ein. Sie sahen verdutzt auf, als sich die ihnen unbekannte Frau hintenanstellte. Hatte der Erzbischof nicht Bescheid gesagt, fragte sich Maria Lautner alias Esmeralda Parador besorgt. Der Busfahrer erschien von der anderen Seite des Busses, nahm ihr wortlos ihren Koffer ab und bedeutete ihr mit einer stummen Geste ebenfalls einzusteigen.

Die Herren waren alle recht mundfaul. Keiner sagte auch nur einen Ton zu ihr. Nur erstaunte Blicke folgten ihr, als sie sich den schmalen Gang zwischen den Sitzreihen hindurchzwängte. Sie nickte grüßend und setzte sich dann ganz hinten auf die Rückbank. Ihre Hände waren ein wenig feucht vor Aufregung. Der Bus füllte sich mit noch mehr Priestern, die gerade aus dem Seminar herauskamen. Am Ende saßen fünfzig schwarzgekleidete Geistliche auf den Sitzen und unterhielten sich leise tuschelnd. Niemand schenkte ihr mehr Beachtung. Langsam entspannte sie sich ein wenig. Bis hierhin war doch alles gut gegangen.

Von Echmiadzin zum Jerewaner Flughafen war es nur ein Katzensprung. Maria Lautner übte während der ganzen Fahrt stumm ihren neuen Namen ein. »ESMERALDA PARADOR, ESMERALDA PARADOR …«, sagte sie sich in Gedanken immer wieder vor. Es war ziemlich schwer, den alten Namen abzulegen, da sie ihn so viele Jahre getragen hatte, aber ab sofort existierte der nicht mehr.

Einer der Priester erhob sich und kam den schmalen Gang entlang auf sie zu. Mit einem unguten Gefühl sah sie ihm entgegen. »Verflixt, muss ich jetzt irgendetwas sagen?«, überlegte sie angespannt. Der Priester setzte sich neben sie und faltete die Hände. Sie kannte ihn nicht, aber der Mann war ihr aus einem unerfindlichen Grund extrem unsympathisch.

Nachdem er sich geräuspert hatte, sagte er in unfreundlichem Tonfall, »wir wissen wer sie sind, Frau Lautner. Wenn wir in Rom sind möchte ich, dass sie mich zum Vatikan begleiten.« Er sah ihr starr ins Gesicht, nicht ein Blinzeln störte den unangenehmen Blick aus stechend stahlblauen Augen. Bevor sie etwas erwidern konnte, erhob er sich wieder und ging auf seinen Platz zurück.

Esmeralda Parador sah ihm verwirrt hinterher. Davon hatte der Erzbischof nichts gesagt und sie bezweifelte, dass er davon etwas wusste. »Aber, um des Himmels Willen, woher weiß der Vatikan, dass ich mit der Delegation zum Flughafen fahre«, fragte sie sich erschrocken. Gab es ein Leck in der Organisation des Erzbischofs? Das wäre ein großes Problem. Hastig überlegte sie weiter und kam zu dem Schluss, dass der Vatikan nicht alle Informationen haben konnte, denn sie flog doch gar nicht nach Rom. Ihr Anschlussflug ging von der Orbitalstation SPACEGULL sofort weiter nach Chile. Sie hatte überhaupt kein Ticket und keine Einreisegenehmigung für Italien. Allerdings hatte es für sie nicht wie eine Einladung geklungen, sondern eher wie eine Drohung. Plötzlich stutzte sie. Wie hatte der Priester sie genannt? Frau Lautner? Das war sie doch jetzt nicht mehr, denn Maria Lautner existierte nicht mehr. Sämtliche Daten waren gelöscht worden, die es jemals unter diesem Namen über sie gegeben hatte. Sie war jetzt Esmeralda Parador und die würde auf keinen Fall nach Rom fliegen. Außerdem waren ihr die rückwärtsgewandten, in ihren altertümlichen Vorstellungen verhafteten Geistlichen in Rom ein Gräuel. Diejenigen, die sie in den letzten Jahren kennengelernt hatte waren jedenfalls alles andere als menschenfreundlich gewesen und ziemlich von sich eingenommen, quasi unfehlbar. Aber zum Glück für sie war der Vatikan nicht halb so gut informiert wie er selber dachte, denn dann wäre ihnen der Fehler nicht unterlaufen. Denn dann hätten die gewusst, dass ihr Ticket nicht in Rom endete wie das der übrigen Geistlichen in diesem Bus, sondern dass sie den Transit von der Orbitalstation SPACEGULL zur Orbitalstation SILVERCONDOR nehmen würde, um nach Antofagasta weiter zu fliegen. Esmeralda Parador lehnte sich etwas beruhigter in ihrem Sitz zurück und betrachtete die vorbeihuschende Landschaft. Ein leises sehnsüchtiges Gefühl befiel sie. Ob sie jemals wieder hierher zurückkommen würde? Rasch wischte sie den Anflug von Heimweh fort, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie umso nervöser wurde, je näher sie dem Flughafengelände kamen. Und wenn doch etwas schiefging? Esmeralda Parador schalt sich selber einen Dummkopf. All die Jahre, die sie für die Organisation des Erzbischofs gearbeitet hatte, war nie etwas schiefgegangen. Dann würde das auch dieses Mal klappen.

Der Bus fuhr durch eine Schranke auf das weitläufige Gelände des Jerewaner Frachtflughafens und hielt dort vor einer kleinen Maschine des Typs Douglas Electro 100 an. Die Douglas Electro 100 war ein hypermodernes Passagierflugzeug für maximal einhundert Personen und mit dem Modernsten ausgestattet, was die Flugzeugentwicklung derzeit so hergab. Esmeralda Parador kannte nur eine Fluggesellschaft, die diesen Flugzeugtyp einsetzte, die Bethlem Aircraft Incorporate. So wie es aussah, hatte die Delegation einen eigenen Charterflug gemietet, um auf die Orbitalstation zu kommen. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, als sie das Flugzeug näher betrachtete. Die flogen gar nicht zur Orbitalstation, sondern direkt nach Rom. Damit hatte sie nicht gerechnet. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn, trotz des kalten Gebläses aus der Klimaanlage. Zögernd folgte sie den Priestern, die eilig aus dem Bus drängten. Eine klobige Hand hielt sie zurück. Es war der Busfahrer.

»Setzen Sie sich wieder hin«, flüsterte er leise, während er selber hinaus hastete. Er drehte sich noch einmal zu ihr um und rief durch die Tür, bevor er auf die andere Seite des Busses verschwand, um die Koffer der Passagiere aus dem Gepäckfach zu holen, »steigen Sie auf keinen Fall aus!«. Er deutete auf einen Geistlichen, der sich suchend umblickte.

Esmeralda Parador setzte sich überrascht in einen der vorderen Sitze und duckte sich so tief wie möglich. Der Busfahrer brauchte nicht lange mit dem Gepäck der Priester. Er schien sich beeilt zu haben, da er wenige Minuten später schon wieder da war. Ihren Koffer in der Hand stieg er wieder ein und schloss sofort die Tür. Im gleichen Moment wummerte jemand dagegen und verlangte, dass der Bus wieder geöffnet wurde. Esmeralda Parador warf einen ängstlichen Blick auf das wutverzerrte Gesicht des Vatikanpriesters, aber der Busfahrer ignorierte ihn einfach und startete ungerührt den Elektromotor.

»Ich fahre Sie direkt zur Abflughalle. Wir müssen uns beeilen. Ihr Flug geht in einer Viertelstunde. Sie werden schon erwartet«, sagte er gelassen und fuhr los.

Verwundert nickte Esmeralda Parador. Auffälliger ging es aber nun wirklich nicht mehr, oder? Sie warf noch einmal einen Blick zurück auf das Flugzeug der Delegation. Der Priester telefonierte hektisch gestikulierend mit irgendjemandem. Hoffentlich reichte sein Einfluss nicht so weit, dass sie nicht abfliegen konnte. Der Busfahrer schien jedenfalls sämtliche Regeln auf dem Flughafengelände zu brechen. Er fuhr viel zu schnell. Wenige Minuten später hielten sie vor der Abflughalle. Eine Stewardess erwartete sie bereits.

Der Busfahrer drückte Esmeralda Parador ihren Koffer in die Hand, wünschte ihr mit einem freundlichen Lächeln eine gute Reise und ließ sie vorne aussteigen.

»Frau Parador folgen Sie mir bitte«, sagte die Stewardess aufmunternd zu ihr.

Esmeralda Parador runzelte die Stirn. Ihr Blick suchte unauffällig Kameras, aber sie fand keine. Offenbar hatte dieser Eingang keine optische Überwachung. Das war erstaunlich, verstieß das doch gegen die Sicherheitsvorschriften des Flughafens. Rasch folgte sie der Flugbegleiterin, die sie durch eine Reihe von Fluren und Treppen in die Abflughalle lotste und freundlich auf ein Abfertigungsterminal zeigte.

»Sie brauchen nur ihren Chip hinein zu schieben. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug. Auf Wiedersehen!« Mit einem aufmunternden Lächeln ging die junge Frau.

Die verdutzte Esmeralda Parador sah ihr noch ein paar Sekunden hinterher, dann zog sie die kleine Mappe aus der Innentasche ihres Mantels, holte ihren Flugchip heraus und ließ ihn in das Lesegerät gleiten. Innerlich betete sie zitternd, dass die Organisation keinen Fehler gemacht hatte. Als der Chip wieder herauskam und das Drehkreuz mit einem leisen Klacken freigab, atmete sie erleichtert auf. Der erste Teil wäre geschafft. Mit jedem Schritt, den sie den langen Gang entlanglief, der zum Shuttle hinunterführte, fühlte sie sich ein wenig sicherer. Ihr Platz im Shuttle befand sich zum Glück ganz vorne, so dass sie nicht durch die vollbesetzte Maschine gehen musste. Die Stewardess nahm ihr ihren Koffer ab und verstaute ihn zu ihren Füßen in einem kleinen Fach. Dann zeigte sie ihr routiniert, wie sie sich anschnallen musste und die magnetischen Sohlen an ihren Schuhen befestigen konnte. Nach einem letzten prüfenden Blick schloss die Flugbegleiterin die Stehkabine.

Esmeralda Parador warf einen kurzen Blick auf den in die Kabinentür eingelassenen Bildschirm, der Bilder von der Orbitalstation zeigte. Routineinformationen. Es war nicht das erste Mal, dass sie zu einer der Orbitalstationen flog, aber sie mochte es trotzdem nicht besonders. Die Andruckkräfte während der Startphase waren unangenehm und ihr wurde immer ein wenig übel davon. Außerdem war es stickig und es roch nach Chemikalien und abgestandener Luft auf diesen Stationen. Leider war es der einzig schnelle Weg auf die andere Seite der Erde. Seufzend lehnte sie sich zurück und versuchte sich zu entspannen, während die Maschine auf das Startfeld rollte.

Ihre Gedanken beschäftigten sich mit den letzten Monaten und blieben bei Ramirez Estar hängen. Ob er wohl entkommen konnte? Wo er wohl jetzt war? Vermutlich würde sie das niemals herausfinden und sie sollte ihn einfach vergessen, auch wenn er ein netter Mann gewesen war. Das mit diesem ganzen Außerirdischengeplapper verdrängte sie einfach. Jedenfalls hatte sie ihn gemocht, aber sie würde ihn sowieso nie wiedersehen, weshalb also weiter Energie dafür verschwenden. Sie hatte ihre eigenen Probleme. Außerdem war sie irgendwie erleichtert, dass sie aus der Sache raus war. Ramirez Estar war ihr ungewöhnlichster Auftrag gewesen, den sie bis jetzt ausgeführt hatte. Das was in Chile kam war Routinearbeit, auch wenn sie sich in den Dunstkreis des in ihren Augen gefährlichsten Verbrechers der Welt begeben würde. Doch davor hatte sie keine Angst. Als Ghost war sie richtig gut.

Das Shuttle startete und ein paar Minuten später übernahmen die Andruckkräfte für sie das Denken. Es gab einen kleinen Hüpfer in ihrem Magen, als sie in die Schwerelosigkeit eintraten. Ihre magnetischen Sohlen hielten sie am Boden fest. Auf dem Bildschirm wurde nun das Anflug- und Andockmanöver eingeblendet. Esmeralda Parador nutzte die Zeit, um den Inhalt des Briefumschlages zu inspizieren, der noch in der Mappe gewesen war. Er enthielt eine handgeschriebene zusammengefaltete Notiz. Überrascht zog sie den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. Eine Buchungsbestätigung für einen sechswöchigen Intensivspanischkurs, ein Zugticket nach Puerto Montt und einen Kreditkartenchip samt ECOS-Logo auf den Namen Esmeralda Parador fielen ihr entgegen. Auf dem Zettel stand in feinsäuberlicher Schrift eine Adresse in Puerto Montt. Das sah nach einem Appartement aus. Also kein Hotel. Sie musste lächeln. Der Erzbischof hatte wirklich an alles gedacht. Weitere Instruktionen gab es nicht. Es blieb ihr also selbst überlassen, wie sie sich in das Umfeld von Manfredo Cortez y Diega hineinarbeitete und sie wusste auch schon, wo sie anfangen würde. Sobald sie lange genug untergetaucht war und annähernd perfekt Spanisch sprach, würde sie in den Norden von Chile reisen. Das Bild einer schönen Frau erschien vor ihrem geistigen Auge, Lisa von Waldrow-Pagini.

Ullisten Getrillum (3)

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