Читать книгу Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - Страница 13

1.2.2 Das Böse und (ästhetischer) Genuss

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Das Verflüssigen der Grenzen zwischen Abstoßung und Anziehung, das Ineinanderwirken von scheinbar gegensätzlichen Emotionen ist wohl eines der besonderen Merkmale der Wirkungsästhetik des Bösen. Der Text transportiert eine explosive Mischung, der im Rezeptionsakt verschiedene Bereiche anspricht: das moralische Bewusstsein und das Lustempfinden. Wollte man dies in Freud’schen Termini ausdrücken, könnte man von einem Gefühlsamalgam der Unbehaglichkeit sprechen, bei dem das normativ regulierende Über-Ich und das nach Lust strebende Es in ein Spannungsverhältnis treten. Dieses Lustge­fühl muss dabei zweifelsohne nicht von sinistrer Natur sein bzw. von verdrängten Wün­schen her­rühren, sondern kann unterschiedlichen Quellen entspringen. H. R. Jauß definiert drei basa­le Kate­gorien der ästhetischen Erfahrung bzw. des »[ä]sthetisch genießenden Verhalten[s]«: 1) Poeisis, d.h. der Genuss des »produzierende[n] Bewußt­sein[s] im Her­vor­bringen von Welt als seinem eigenen Werk«; 2) Aisthesis, d.h. der Genuss, der im »Ergreifen der Möglichkeit, seine wahrnehmende der äußeren wie der inneren Wirklichkeit zu erneu­ern« bzw. im »genießen­de[n] Aufnehmen des ästhetischen Gegenstands als ein gestei­gertes, entbegriff­lichtes oder – durch Verfremdung […] – erneu­er­tes Sehen« ruht; 3) Katharsis, d.h. der Genuss der eigenen durch das Werk erweckten Affekte, des »Selbstge­nusses im Fremdgenuss« und der damit verbundenen Freisetzung von der Lebenswelt bzw. der spielerischen Identifikation mit dem ästhetischen Gegenstand und der Freiheit, sich über die vom Werk definierten Handlungsnormen ein Urteil zu bilden.1 Für den Rezep­tionsakt sind dabei natürlich die Formen der Aisthesis und Katharsis relevant.

Es erweist sich, dass ein Gegenstand, der per definitionem nicht schön, wahr oder gut ist, durchaus ästhetischen Genuss vorbringen kann. Das nur scheinbare Paradox des Gefallens an per se missfälligen Sujets wird schon in Aristoteles’ Poetik thematisiert und beson­ders seit dem 18. Jahrhundert im kunsttheoretisch-philosophischen Diskurs vielfältig dis­ku­­tiert und reflektiert.2 In der Poetik heißt es: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklich­keit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstel­lungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen.«3 Und gelöst wird dieses Paradox dadurch, dass dem Menschen das Nachahmen und der Wunsch zu lernen angeboren ist, sodass die Nachahmung auch eines widrigen Gegenstandes in der Kunst Interesse und Neugier erweckt und ein jeder Mensch Freude daran hat zu lernen, welcher Qualität das vorgestellte Sujet ist.4 Es ist das Erfreuen an der gelungenen Nachahmung und die Wissenslust, die auch das Hässliche in der Kunst zu einem genieß­baren Sujet macht. Wie Jauß in Anlehnung an Augustins Confessiones bemerkt, sind Lust (voluptas) und Fürwitz (curiositas) die Triebfedern der Augenlust (concupiscentia oculo­rum), wobei curiositas auf das Widrige ausgerichtet ist.5

Andererseits ist es die schöne »Form« des vorgestellten Gegenstands bzw. die »Mittel­bar­keit« des Mediums Kunst selbst, die zu gefallen vermag (und damit gemäß Aristo­teles den Gefallen an der gelungenen Nachahmung bezeichnet). Im ›Zerrspiegel‹ der Kunst verliert das missfällige Sujet seine repulsive Wirkung, wird gleichsam ästhetisiert und durch künstlerische Formgebung neutralisiert. So hebt auch Boileau im Art poétique (1674) hervor:

Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux,

Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux.

D’un pinceau delicat l’artifice agreable

Du plus affreux objet fait un objet aimable. (Chant III, V. 1–4)6

So wird auch Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) eben dies als besondere Leistung der Kunst hervorheben: »Die schöne Kunst zeigt eben darin ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u. dgl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar als Gemälde vorgestellt werden«.7 Die Kunstdifferenz erlaubt dem­nach eine »unschädliche« Darstellung und Betrachtung des widrigen Gegenstands; im Kunstwerk findet sich das Hässliche durch die »dialektische Prozessualität der metaphy­sischen Idee des Schönen« aufgehoben.8 Aisthetisch besteht der Reiz des Hässlichen und Bösen also im kontemplativen Genießen der gelungenen künstlerischen Form und der Befrie­digung der curiositas, der Neugier und der Faszination am Missfälligen. Und wenn aisthetischer Genuss »Renovation der inneren und äußeren Wirklichkeit« durch »erneu­ertes Sehen« bedeutet, ist Bohrers Konzept des Bösen als »Sinnentzug im Entsetzen« und Grenzerfahrung gleichfalls dieser Kategorie des ästhetischen Erlebens zuzuordnen.

Kathartisch ist dann jene Lust, die das Subjekt anlässlich seiner eigenen Erregbarkeit empfindet. Es ist die Lust, bewegt zu werden. Katharsis ist – wie oben bereits erwähnt – das Wirkziel der Tragödie: Durch die Erregung der Affekte phobos und eleos ist das Tragische überhaupt erst möglich; ihr Gelingen hängt eben genau von ihrer (emotionalen) Wirkung ab. In seinem Essay XXII Of Tragedy (Essays: Moral, Political, and Literary, 1742–54) greift David Hume die Argumentation des bereits zitierten Abbé Du Bos auf, »that nothing is in general so disagreeable to the mind as the languid, listless state of indolence, into which it dalls upon removal of all passion and occupation«.9 Es sei dem Menschen ein Grund­bedürfnis, zu spüren; nichts ist dem Menschen größere Qual als innere Leere und es ist der horror vacui, die Angst vor dieser Leere, die ihn emotionale Agitation und große Passionen suchen lässt.10 Je mehr »sorrow, terror, anxiety, and other passions« der Zuschau­er von einer Tragödie empfange, desto mehr Vergnügen bereite sie ihm.11 Dies lässt sich mit Descartes auf die Formel bringen: »on prend naturellement plaisir à se sentir émouvoir à toutes sortes des Passions«.12 Diese Form des ästhetischen Genusses bezeichnet Hans Blumenberg als Modus der »inneren Distanz«, bei dem das Subjekt auf »die pure Funktion seiner Vermögen« und »nicht auf die Gegenstände und deren Spezifizität« bezogen bleibt.13

Innerhalb der Diskussion über Grenzphänomene des Ästhetischen in der fortgeschrittenen Neuzeit schlägt dieser insgesamt drei Modelle des ästhetischen Genusses vor, der dem Rezeptionsakt des »gegenständlich Häßlichen, Schaurigen, Abscheulichen und Defor­mierten« innewohnen kann.14 Neben dem bereits erwähnten Modell der inneren Distanz und dem des Martyriums15 verweist er auf den Modus der »äußere[n] Distanz des Zu­schauers, der sich in seiner eigenen Unbetroffenheit erfährt und so seine Situation genießt«.16 Das Wissen des Zuschauers oder Lesers um die eigene Unversehrtheit bzw. das Bewusstsein für die Fiktivität des vorgestellten Gegenstands begründet die Möglichkeit, auch ein missfälliges Sujet – eben weil es dem Subjekt nicht realiter begegnet – als »schön« bzw. als (ästhetisch) »lustvoll« zu empfinden. Auf diese Überlegung psycho­logisch-ästhetischer Natur verweisen auch schon Fontenelle, Hume (wenn auch nur, um diesen kritisch zu erweitern), Hobbes, Shaftesbury, Diderot und Schiller, vornehmlich in seinen Schriften Über die tragische Kunst und Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen. Tatsächlich geht dies zurück auf die berühmte Metapher des Schiffbruchs17 mit Zuschauer in De rerum natura, II, 1–4 des römischen Philosophen Lukrez. Gegenstand ist die Vorstellung eines im rauen Meer untergehenden Schiffes – ein Spektakel, das vom Dichter-Ich in sicherer Ferne vom Ufer aus lustvoll betrachtet wird:

Süß ist’s, anderer Not bei tobendem Kampfe der Winde

Auf hochwogigem Meer vom fernen Ufer zu schauen;

nicht, als könnte man sich am Unfall andrer ergötzen,

sondern dieweil man es sieht, von welcher Bedrängnis man frei ist.18

Der Zu­schauer ergötzt sich am Schrecklichen, weil es ihm – da er sich in sicherer Entfer­nung weiß – seine eigene Unversehrtheit bewusst macht. Und dieses Bewusstsein wieder­um ermöglicht den objektivierenden Blick auf die eigenen Affektionen: Das Subjekt wird sich in seinen Empfindungen selbst zum Gegenstand der genießenden Betrachtung.19

Freilich stieß der Topos des Schiffbruchs mit Zuschauer besonders auch bei Philo­sophen der Aufklärung auf Ablehnung (so bei Voltaire und Marmontel), nicht zuletzt aufgrund des misanthropischen Tenors der Bildlichkeit, die dem Menschen eine scheinbar schadenfreu­dige Schaulust zuschreibt.20 So konzediert auch Schiller: »Ein Meersturm, der eine ganze Flotte versenkt, vom Ufer aus gesehen, würde unsere Phantasie ebenso stark ergötzen, als er unser fühlendes Herz empört«.21 Er räumt jedoch ein: »es dürfte schwer sein, mit dem Lucrez zu glauben, daß diese natürliche Lust auf einer Vergleichung unsrer eigenen Sicher­heit mit der wahrgenommenen Gefahr entspringe.«22 Nichtsdesto­trotz wurde die Schiff­bruchs­­metapher des Lukrez zum paradigmatischen Ausdruck einer ästhetischen Grund­haltung, die die Basis einer genussvollen Rezeption des Schrecklichen, Entsetzlichen und Hässlichen im Kunstwerk bildet. Das Modell der inneren und äußeren Distanz liefert damit einen Ansatz, die Paradoxie der Schreckenslust aufzulösen und findet ihr Echo in der Theorie des Erhabenen, in der sich erstmals ein ästhetisches Interesse auch an originär missfälligen Gegenständen in der Kunst artikulieren sollte.

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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