Читать книгу Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - Страница 19

1.3.2 Das ethische Moment der ästhetischen Erfahrung

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Nachdem Überlegungen zu den (wirkungs-)ästhetischen Qualitäten des Bösen angestellt worden sind und im Zuge dessen die Schwierigkeit angedeutet wurde, die von Bohrer geforderte absolute Distanz zum Phänomen des Bösen einzunehmen, soll nun ein ›gemäßig­tes‹ Konzept von Ästhetik erarbeitet werden, das vielmehr genuin ethische Aspekte der ästhetischen Erfahrung inkludiert. In einem solchen Verständnis sind Ethik und Ästhetik nicht zwei einander ausschließende Extrempole,1 sondern greifen inein­ander.2 Eine »dem ästhetischen Bereich inhärente Ethik« erläutert Wolfgang Welsch in seinem Beitrag zur »Ästhet/hik«.3 Er führt hier vor, wie die aisthesis in ihrer Doppel­funktion als reflexive, erkenntnisfördernde Wahrnehmung einerseits und sinnen­hafte Empfindung andererseits immer schon einem vitalen Imperativ gehorcht: »Sie dient dem Leben, dem Sich-am-Leben-Erhalten und Überleben – noch nicht dem guten Leben«.4 Denn während die Empfindung durch die Eingebung von Lust- und Unlustgefühlen eine vitale Schutzfunktion vor allem Schadhaften bei gleichzeitiger Bewertung von dem Körper Bekömmlichem übernimmt, fungiert auch die Wahrnehmung auf ähnliche Weise zugunsten »der Erkenntnis des Nützlichen oder Schädlichen, Zuträglichen oder Abträg­lichen und der Auslösung eines entsprechenden Verhaltens«.5 Und diese Vitalfunktion der aisthesis gehe dem »eleva­torischen Imperativ« der reflexiv-distanzierten Lust des ästhetischen Wohlgefallens immer schon voraus.6 Welsch plädiert in Abgrenzung zu einer paradoxerweise sinnen­feindlichen Ästhetik, wie sie im 18. Jahrhundert von Baumgarten und Schiller entworfen wurde, hinge­gen für eine Ästhetik der Gerechtigkeit7 bzw. eine Ästhet/hik oder »Kultur des blinden Flecks«:

[Die Kultur des blinden Flecks] wäre eine Kultur, die prinzipiell für Ausschlüsse, Verwerfungen, Andersheiten sensibel wäre. Sie verschriebe sich nicht einem Kult des Sichtbaren, Evidenten, Glänzenden, Prangenden – nicht also dem gegenwärtigen Ästhe­ti­sierungstrubel –, sondern dem Verdrängten, den Leerzonen, den Zwischen­räumen, der Alterität. Dem würde sich ihre Aufmerksamkeit nicht nur in ästhetischen, sondern ebenso in lebensweltlichen, sozialen, politischen Kontexten zuwenden. [...] Denn das genannte ästhetische Bewußtsein macht an der Grenze der Kunstsphäre nicht Halt. Es überträgt sich vielmehr – analog – auch auf die Lebensverhältnisse, auf soziale und lebensweltliche Konstellationen. Und es tut das konsequent und legitim. Anders gesagt: Auch die hier zuletzt skizzierte Ästhetik ist eine Ästhet/hik. Ebenso wie für ästhetische Konstellationen ist sie für lebens­weltliche Verhältnisse einschlä­gig. 8

Eine Ästhetik, die nicht rigoros das Geistig-Reflexive der Wahrnehmung und damit die Selbstbezüglichkeit der Form überprivilegiert, sondern offen ist für das Roh-Sinnenhafte ist auch gleichsam eine Ästhet/hik – also eine Erfahrung, der das Moment des Ethischen bereits eingeschrieben ist.

Wie im Vorfeld bereits unter Berücksichtigung von Martin Seels Konzeption von ästhetischer Erfahrung erläutert wurde, ist diese stets in gewisser Weise an die Lebenswelt des wahrnehmenden Subjekts gebunden. Kunst kann sich die außerliterarische Wirk­lichkeit verfremdend, überzeichnend, karikierend, stilisierend, poetisierend etc. anverwan­deln, doch ein Bezug bleibt in gewisser Weise erhalten bzw. wird durch den Rezipienten erst hergestellt.9 Sie aktiviert dergestalt eine Reflexion über die Lebenswelt des Wahrneh­mungs­subjekts und enthält damit einen ethischen Impetus: »Die ästhetische Erfahrung hat eine reflexive Dimension, insofern sie uns mit den möglichen Sichtweisen der Welt, mit Erlebniswelten und Empfindungsqualitäten konfrontiert. Daher ist die ästhetische Erfahrung immer auch mit einem emotional engagierten Erfahrungsvollzug verbunden.«10 In der aisthesis verquicken sich demnach Sinnlichkeit, Empfindung und Reflexivität. Ästhetischer Genuss ist weniger eine rein intellektuelle Tätigkeit als ein Beieinander welt- und selbstbe­zogener Impulse. Und letztendlich ist es überhaupt erst die ästhetische Erfahrung, die ethische Reflexionen ermöglicht, denn Kunst ist eben nicht ausschließlich ein rein theore­tisches Konstrukt, das im Reiz der Imagination besteht: »Das gelungene Werk führt die Erfahrenden nicht aus der Welt ihrer Erfahrung heraus oder setzt sie von dieser frei: es gibt ihnen die Freiheit, sich zu ihrer Erfahrung erfahrend zu verhalten. Der ästhetische Vollzug einer Erfahrung gewährt einen Spielraum gegenüber der ange­eigneten Erfahrung, der im Prozeß dieser Erfahrung durchgehend wirksam bleibt.« 11

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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