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1.4.3 Überlegungen zu einer Poetik des Skandals oder: die Performativität des Skandals

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Wie bereits erläutert wurde, ist dem Skandal eine gewisse Theatralität zu eigen; er ist ein Kommunikationsprozess, bei dem stets die gleichen Rollen verteilt bzw. Funktionen erfüllt werden. Es handelt sich dabei im Zusammenhang mit Literatur nicht nur um einen hilf­reichen Begriff, weil er ein Modell für einen gesellschaftlichen Prozess bezeichnet, sondern auch, weil er gleichermaßen Funktionen und Formen der literarischen Kommuni­kation transparent macht. Der Autor ist Erzeuger einer literarischen Botschaft, welche (aus diversen denkbaren Gründen) von einem Empfänger, d.h. Rezipienten bzw. Leser als anstößig empfunden wird. Der Text ist ihm ein Skandalon und diese Empörung wird vor und von einer größeren Rezipientenschaft geteilt. Als Folge dieses öffentlichen Skandaldiskurses steht einerseits die endgültige Abstrafung des Werkes und des Autors (im 19. Jahrhundert war die ›Höchststrafe‹ wohl Zensur und Verbot, d.h. ein Titel konnte komplett vom Buch­markt verbannt werden; heute ist dies in westlichen Kulturen kaum denkbar, jedoch kann ein Werk durchaus noch als »nicht-literarisch« bzw. gar »Schund« abqualifiziert werden) oder aber die symbolische Beförderung des Autors zur Galionsfigur der künstlerischen Autonomie oder auch zum »Warner und Mahner«, der Missstände in den öffentlichen Diskurs bringt.1 Zwar kann ein solcher Literaturskandal mehr oder weniger zufällig entstehen, so eben z.B. der Fall Madame Bovary, dessen Ausmaße sicher nur annähernd erahnt werden konnten. Doch sollte der Aspekt der Intentionalität durchaus nicht vernachlässigt werden. Natürlich kann ein literarisches Werk bewusst kontrovers gestaltet werden; der Autor kann es sich zum Ziel setzen, auf möglichst effektvolle Weise problematische, heikle Themen zu thematisieren. Und hierin schlummert auch das kreative Potential des Skandals: »In der Provokation von Aufregung, der öffentlichen Infrage­stellung gesellschaftlicher Ordnungsmuster, dem Überraschen mit neuen ästhetischen Ansätzen und der Anregung von Diskursen können wesentliche Ansprüche moderner Künstler gesehen werden«,2 die natürlich auch der Selbstinszenierung und Aufmerk­samkeitssteigerung dienen. Die intentionale Provokation ist ein performativer Gestus, der auf der Schaubühne des Medienskandals inszeniert wird.3 Andererseits wird damit potentiell ein Austausch über Werte und Normen incentiviert, der einer Wertetrans­formation bzw. –aktualisierung zugute kommen kann. Eine Poetik des Skandals umfasst also einerseits die Ebene der (Rezeptions-)Ästhetik und diesbezüglich die wirkungs­ästhetisch effektvollen Kunstmittel bzw. Textstrategien, derer sich ein Schrift­steller bedienen kann, um den Rezipienten affektiv zu treffen. Die ästhetische Erfahrung kommt einem Sinnenschock gleich, der das Skandalon des Textes ausmachen kann. Andererseits vermag eine Poetik des Skandals aber gleichermaßen ein soziales Engagement seitens des Autors zu implizieren, der im und durch das Kunstwerk strittige, heikle, provokante Themen problematisierend bespricht. Der literarische Text kann also gleichsam als »ethische Handlung« verstanden werden, die dem Rezipienten wiederum eine Form der »ethischen Erfahrung« ermöglicht.

Der Begriff des Skandals bietet also den Vorteil, dass er systematisch die unterschied­lichen Aspekte von (Wirkungs-)Ästhetik einerseits und Ethik andererseits umfasst, die der Diskurs über – lapidar formuliert – »böse Literatur« involviert. Statt von einer Ästhetik des Bösen soll in der Folge vielmehr von einer Ästhetik bzw. Poetik des Skandals die Rede sein. Darüber hinaus lässt sich das Kommunikationsmodell des Skandals auch auf den Text selbst übertragen. Die außerfiktionale Kommunika­tions­situation kann dabei innerfiktional gespiegelt werden. Hierbei wird zunächst nach dem Skandalon gefragt: Worin besteht der Normverstoß und wie wird dieser inszeniert? Der Begriff des Normverstoßes muss dabei weiter ausdifferenziert werden: Wird er bereits im Text als Transgression markiert (also in der Welt des Textes als Verstoß gedacht) oder wird er zum Stein des Anstoßes im eigentlichen Sinne erst im Kontakt mit der außerfiktionalen Bezugswelt des Lesers? Ferner: Wie verhält sich dabei die Erzählinstanz? Wird sie selbst zum Skandalierer, d.h. inszeniert sie den Normverstoß als transgressiv oder enthält sie sich einer Wertung? Und: Wie wird das Publikum »besetzt«? Sind »Leer­stellen«4 vorhanden, d.h. wird der (reale) Leser zu einer (emotionalen, engagierten) Lektüre angeregt? Welche Appellstrukturen enthält der Text? In diesem Zusammenhang kann es auch interessant sein, das Figureninventar zu überprüfen: Sind innerfiktional »Zuschauerfiguren« vorhanden, die die beobachtende Position des realen Lesers spiegeln und damit gegebenenfalls die Rezeption lenken? Dies sollen mitunter Leitfragen für die im Folgenden vorgenommene Textanalyse sein, um damit die spezifischen Wirkungs­weisen, aber auch kontextgebundenen Funktionen der hier rele­van­ten ›skandalträchtigen‹ Texte möglichst umfassend darlegen zu können.

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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