Читать книгу Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - Страница 22

1.4.2 Literaturskandale

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Der Literaturskandal ist für die vorliegende Studie natürlich von besonderem Interesse und soll nun in Anlehnung an aktuelle Forschungsliteratur näher ausdefiniert werden. Dass Literatur es vermag, Skandale zu produzieren, ist nicht schwer nachzuweisen. Nicht zuletzt die Texte, die im Folgenden besprochen werden sollen, belegen genau dies. Ladenthin geht so weit, den Konnex zwischen (moderner) Literatur und Skandal als einander bedingend zu bezeichnen:

[D]er Skandal in der alteuropäischen Vormoderne [war] ein Sündenfall der Literatur […], während er in der Moderne der Ernstfall ist. Zugespitzt kann man formulieren, dass die Literatur der Moderne schlechthin Skandal ist. Der Skandal ist notwendiges Wesensmerkmal moderner Literatur, liegt im Begriff der Moderne eingeschlossen und ist daher ein Qualitätsmerkmal moderner Literatur.1

In der Tat scheint dies insofern nachvollziehbar, als der Blick auf die Historie von Skandalisierungen in und rund um die Kunst bzw. Literatur zu belegen scheint, dass die für die Moderne charakteristischen Avantgarde-Poetiken vor allen Dingen auf Provokation, Regelbrüchen mit konventionell gewordenen Kunstzwängen und Innovation beruhen (Dada, Expressionismus, Futurismus, Surrealismus, etc.). Dass er dies historisch in der Moderne lokalisiert, hängt natürlich mit der allgemeinen Emanzipation der Kunst im 19. Jahrhundert zusammen, die ausgehend von der Romantik nunmehr ihre Autonomie von moralisch-didaktischen Zwängen behauptet.2 Eine »Regelpoetik«, wie sie noch das 17. und 18. Jahrhundert kennt, wird mitunter zum ›Stein des Anstoßes‹ für eine Kunst, die sich modern wissen will.3 Sei dies in der Romantik, im l’art pour l’art oder auch im Symbolismus und der Dekadenzliteratur: Es gilt stets, das Konventionelle zu überwinden. Damit wird die Literatur­geschichte im Prinzip auf die Opposition von »opting in« und »opting out«4 formelhaft verkürzt, d.h. also um das Leitprinzip der Anpassung einerseits und der Differenz andererseits.

Diese Differenz kann dabei unterschiedlicher Natur sein. Zunächst kann sie den Stil und die technè des literarischen Kunstbetriebs als solchen betreffen. Es werden damit Streit­fragen um die Möglichkeiten und die Regeln der Kunst berührt, so z.B. kann man Flauberts Roman Madame Bovary anführen, der laut Auerbach insofern revolutionär scheinen muss, als er (und so auch die realistische Kunst im Allgemeinen) »breitere[r] und sozial tieferstehender[r] Menschen­gruppen zu Gegenständen problematisch-existentieller Darstel­lung« promoviert und damit bis dato gültige Stilgrenzen überschreitet.5 Der Skandal berührt also Normen innerhalb des literarisch-künstlerischen Felds und fällt damit in die von Friedrich etablierte Kategorie des autonomen Literaturskandals, d.h. also von Skandalen, die die Streitfrage über die Grenzen und die Natur der Kunst betreffen.6 Zu dieser Kategorie zählt er darüber hinaus auch den Autorenstreit, der nicht selten einem Geltungsbedürfnis entspringt und nicht zwangsläufig rein literarische Streitpunkte betreffen muss. Als weiteres Beispiel mag dabei sicherlich auch bereits die Querelle des Anciens et des Modernes im 17. Jahrhundert gelten, bei der die rückwärts­gewandte Poetik der französischen Klassik unter Beschuss durch die an Stoffen der Gegenwart interes­sierten Modernen geriet. Hier wurde auch nicht zuletzt die Literatur selbst instru­mentalisiert, um die eigene Position deutlich zu machen: Stein des Anstoßes im wahrsten Sinne des Wortes war ohne Zweifel die Verlesung Charles Perraults Lehrgedichts »Le siècle de Louis le Grand« (1687). Darüber hinaus lassen sich mit Friedrich gleichfalls Werke zu dieser Kategorie rechnen, die den Skandal als Sujet thematisieren,7 so z.B. Fontanes Effi Briest oder auch ein relativ aktuelles Beispiel aus der italienischen Literatur: Persecuzione von Alessandro Piperno. Ein gesonderter Fall des autonomen Litera­tur­skandals ist weiterhin der Autorenskandal, d.h. die »öffentliche Inszenierung von Künstlern als Skandalon«.8 Dies betrifft vor allen Dingen auch Autoren, die im Folgen­den besprochen werden, so natürlich einerseits Pier Paolo Pasolini und andererseits Michel Houellebecq, die ebenfalls als Personen des öffentlichen Lebens im Mittelpunkt des Interesses stehen.9 Dass dabei die bewusste Selbstinszenierung als Skandalfigur gleichermaßen zu einer kalkulierten Marketingstrategie werden kann, ist einleuchtend.

Dem autonomen stellt Friedrich dann den heteronomen Literaturskandal gegenüber, welcher vorliegt, »wenn Normkonflikte zwischen dem literarischen Feld und anderen unterschiedlichen Feldern, seien es Religion, Politik, Wirtschaft oder Justiz, zu Skandalen führen«.10 Zu dieser Kategorie zählen also all jene Werke, die aufgrund von Verstößen gegen sittlich-moralische Normen in Verruf geraten sind. Welche Aspekte im Spezifischen dies betrifft, vermögen die Zensur, wenn nicht gar die Klageschriften der Justiz zu indizieren. Paradebeispiele für diese Form des Literaturskandals stellen dabei natürlich de Sades 120 Journées de Sodome, Lautréamonts Les Chants de Maldoror, Baudelaires Fleurs du mal, Flauberts Madame Bovary usf. dar; es handelt sich um Werke, denen entweder faktisch (also durch die Justiz) oder im öffentlichen Diskurs (in der Literatur­kritik, im Zeitungswesen, öffentlichen Foren etc.) der Prozess gemacht wurde. Vornehm­lich gerät die Literatur dabei mit der sittlichen Moral in Konflikt, d.h. der Skandalruf ging und geht nicht selten mit dem Vorwurf der Obszönität einher. So lässt sich Ludwig Marcuses historische Kulturgeschichte des Obszönen (Obszön. Geschichte einer Entrüstung, Erstausgabe 1962) gleichermaßen als Skandalgeschichte des Literaturbetriebs lesen. Besonders konfliktgeladen ist sicherlich auch die Konstellation von Literatur und Religion oder Politik.11 Es fällt nicht schwer, Beispiele zu nennen, die demonstrieren, wie die Literatur mit Vorstellungen und Werten religiöser Natur kollidiert. Besonders brisant ist dabei wohl der Skandal um den indisch-britischen Schriftsteller Salman Rushdie, auf den wegen seines Werkes The Satanic Verses 1989 durch den iranischen Geistlichen Ajatollah Chomeini ein Kopfgeld für dessen Tötung ausgesetzt wurde.12 Bei musli­mischen Fundamentalisten geriet er wegen Gotteslästerung in Verruf; ein Verbot des vermeintlich blasphemischen Textes wurde gefordert. Jedoch zeigt – dies hebt auch Wagner-Egelhaaf hervor – der Skandal um Rushdie und die Satanic Verses gleichermaßen auf, wie die Rollen neu verteilt werden können: So wurden die Skandalierer, also die extremistischen Muslime, im Anschluss an die Affäre wiederum selbst zu Skandalisierten: Es organisierte sich das Salman Rushdie Defence Committee, welches sich öffentlich für Artikel 19 des Grundrechts, d.i. das Recht der freien Meinungsäußerung, stark machte.13 Damit wurde Rushdie zu einer Symbol- und Märtyrerfigur, deren Schicksal an die Autonomie der Literatur und eines der grundlegenden Menschenrechte gemahnt. Es wiederholt sich quasi ein bereits im 19. Jahrhundert ausgefochtener Kampf um die Unabhängigkeit der Kunst: eine Schlacht, die man sicherlich bereits gewonnen glaubte.

Beide Formen, d.h. sowohl autonome als auch heteronome Literaturskandale, lassen sich sowohl vor als auch nach der 1800-Schwelle nachweisen. Und so wie der Skandal im Allgemeinen als Normbarometer zu fungieren vermag, so kann auch der Literaturskandal auf Funktionen und Potenzen der Literatur verweisen. Zum einen verweist die potentielle Skandalträchtigkeit der Literatur auf ihre Wirkmacht und Stellung in der Gesellschaft. Es leuchtet ein, dass sie, um in der Lage dazu zu sein, die Leserschaft zu skandalisieren, überhaupt erst rezipiert und für relevant erachtet werden muss.14 Zudem ist es notwendig, dass sie dabei einen relativ autonomen Status innehat und nicht durch beispielsweise Zensur »weichgespült« und konsensfähig gemacht wird. Friedrich verweist darauf, dass paradoxer­weise totalitär ausgerichtete Gesellschaften besonders skandalfrei sind: Dies liege aber vor allen Dingen daran, dass öffentliche Medienorgane der Propaganda und Konservierung totalitären Gedankenguts dienen und es damit von höchster Priorität sei, die Ideologien möglichst unhinterfragt zu lassen.15 Zum anderen kann Literatur selbst gesellschaftliche Nor­men »reflektier[en], »bestätig[en], »bekäm­pf[en]« und damit aktiv zu deren Transfor­mation beitragen.16 Dies setzt natürlich gleicher­maßen voraus, dass ein starker Bezug von Literatur zur gesellschaftlichen Realität des Le­sers als gegeben betrachtet wird.

Ein solches Vermögen der Literatur, Skandale zu produzieren, wird in der Postmoderne nunmehr in Frage gestellt. Airaksinen17 und auch Ladenthin gehen soweit zu behaupten, dass der Literaturskandal theoretisch tot sei:

Die Postmoderne war der Grabstein beim Tod des Skandals. Sie erklärte die repressive Toleranz nicht zum Faktum […] sondern zum Gebot. Die Verweigerung von jeglichem Normativen nahm der Literatur den Gegenstand. Denn wenn kein Weltbild Geltung hat, ist auch keines mehr zu zerbrechen. Wenn jede Moral kulturell relativ ist, kann man keine mehr der Unsittlichkeit überführen.18

Im »Zeitalter der Nicht-mehr-schönen-Künste« sei ein Skandal aufgrund von Normenplu­ralität, dem Toleranzimperativ und Quasi-Totalabstumpfung gar nicht mehr möglich. Doch die Praxis widerlegt dies augenscheinlich. So räumt er ein: »Allerdings ist die Postmoderne eben nur ein begrenztes Konstrukt. Global sind die kulturellen Konstrukte nicht so plural, wie Relativitätstheoretiker es behaupten«.19 In der Tat scheint es fast so, als hätten sich Skandale gerade in den letzten Jahren nahezu multipliziert, nicht zuletzt durch Sensations­berichterstattung und bewusst provokantes Marketing.20 Aus dem literarischen Bereich seien dabei nur ein paar Namen genannt: Thomas Bernhard, Martin Walser, Bret Easton Ellis, Catherine Millet, Christine Angot, Charlotte Roche und natürlich Michel Houelle­becq. Hiergeist löst das Paradoxon von Gesellschaften, die trotz vermeintlicher (Werte-)Liberalität besonders viele Skandale produzieren, indem sie den (Literatur-)Skan­dal als anachro­nistisches Kollektivritual identifiziert, das trotz historisch wandelbarer Grundbe­dingungen gemeinschaftsstiftende Funktionen übernimmt. In einem Vergleich von Flau­berts Madame Bovary und Catherine Millets L’Histoire sexuelle des Catherine M. (2001) arbeitet sie folgende Invarianten heraus:

1. Der Skandaldiskurs zielt auf die Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion ab. 2. Ihm wohnt mit seiner Anlehnung an die Sündenbockstruktur eine starke symbolische Aufladung inne. 3. Er perpetuiert längst überholte Werte einer vormo­dernen Gesellschaftsstufe, ohne dass die Akteure hierin eine Zeitwidrigkeit erkennen würden. 4. Er ist durch einen hohen Grad an Emotionalität gekenn­zeich­net.21

Und während im 19. Jahrhundert dieser Ritus noch der Behauptung der Autonomie des Literaturbetriebs diente, setzt sich dieser Kampf in der Postmoderne symbolisch fort, obgleich er de facto obsolet erscheint. Wie der bereits erwähnte Fall Rushdie bereits zeigte, kann dabei das Rollenspiel neu besetzt werden: Der vormals Skandalierte wird zur Galions­figur eines Freiheitskampfes erkoren, steht nunmehr für den Erhalt eines mühsam erkämpften Rechts.22 Ob die Bedrohung der Kunstautonomie in einem solchen Fall real ist oder nicht, das Skandalritual mache vielmehr einen Raum der Freiheit verfügbar, der sich von der Banalität des Alltags absetze:

Indem Mitglieder einer Gemeinschaft die Autonomie des literarischen Feldes zelebrieren, inszenieren sie dieses als heiligen Raum der Evasion und Transgression, der sich von der profanen Alltagsordnung distinktiv abhebt. So gesehen übernimmt der Skandal die Funktion der Sakralisierung des Literaturbetriebs, wobei der Autor die Rolle des Propheten, seine Verteidiger die der Priester, seine Gegner die der Häretiker einnehmen.23

Hier lässt sich dann auch unschwer eine Parallele zu Bataille und seiner Konzeption der Literatur als Raum der Transgression erkennen. Die Literatur (und Kunst im Allgemeinen) behaupte sich damit kontinuierlich als Alternativraum, der sich nicht den Regeln des sozialen Gefüges des realen Lesers bzw. Rezi­pienten unterzuordnen habe.

Dieser Ansatz, der den postmodernen Literaturskandal als anthropologische Konstante und gemeinschaftsstiftendes Ritual zu definieren sucht, scheint mir äußerst lohnend, aber nicht erschöpfend. Denn – um noch einmal auf Friedrichs Einschränkung zurückzu­kommen – wir mögen uns zwar in einem Zeitalter befinden, in dem vermeintlich »anything goes«, doch gibt es dennoch Themen, die berühren und provozieren, und Literatur, die aufrütteln und anecken will. Auch wenn der Rezipient natürlich die Bereitschaft aufbringen muss, sich durch die Kunst erregen zu lassen (oder eben nicht, da wären wir bei den von Hiergeist betitelten »Atheisten des Skandals«, also jene, die »sich selbst in eine Metaposition […] katapultieren«, um »ihre eigene Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Modellen zu demon­strieren«24), reagiert er dennoch äußerst selten rein leidenschaftslos und ästhetisch. Auch der professionalisierte Leser, der dem Text eine kritische Distanz entgegenbringt, wird kaum völlig unbewegt den Gewaltimaginationen eines Bret Easton Ellis’ folgen können. Literaturskandale folgen nicht nur dem mehr oder weniger unbewussten Bedürfnis, die Literatur bzw. Kunst als sakralen Raum der Überschreitung zu markieren, sondern verweisen punktuell gleichermaßen auch auf prekäre Themen, die gegebenenfalls nicht allein kunstspezifisch, d.h. von poetischer Natur sind, sondern dem sozialen, politischen, religiösen etc. Bereich entstammen. Sofern es sich nicht aus­schließlich um einen Skandal um die Autorenperson selbst handelt (z.B. heikle Aussagen in einem Interview), können wir bei einem skandalträchtigen Text also durchaus fragen: Warum erregt er die Gemüter und was genau stellt das Skandalon dar?

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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