Читать книгу Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - Страница 15

1.2.4 Der Ekel

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Eine Theorie des Erhabenen löst das scheinbare Paradoxon des Wohlgefallens an per se missfälligen Gegenständen auf und beschreibt dabei gleichsam ästhetische Wirkungs­weisen schauerlicher Gegenstände, die, wie im Vorigen beschrieben, unterschied­licher Natur sein können. Die dergestalt provozierten Primäraffekte wie Schaudern, Angst, Überwältigung etc. sind dabei ästhetisch genießbar. Tatsächlich findet sich jedoch vor allen in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts recht einhellig ein Affekt vom ästhetisch Bekömmlichen ausge­schlossen: der Ekel. So bei Kant: »nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt.«1 Kant zufolge handelt es sich also um eine Form der ästhetischen Aggression, die nicht mehr aufhebbar ist. Auch Moses Mendelssohn stimmt dem zu und findet folgende Begründung:

Hier zeigen sich schon handgreifliche Ursachen, warum der Eckel von den unangenehmen Empfindungen, die in der Nachahmung gefallen, schlechterdinges ausgeschlossen sey. Vors erste, ist der Eckel eine Empfindung, die in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit nach, blos den allerdunkelsten Sinnen, als dem Geschmack, dem Geruche und dem Gefühle zukommen, und diese Sinne haben überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste. Die Nachahmung in den Künsten arbeitet blos für die deutlichere Sinne, für das Gesicht und das Gehör. Das Gesicht aber, hat keine eigene ekelhafte Gegenstände; […].2

Der Ekelaffekt berührt im Unterschied zu ›edleren‹ Empfindungen wie Angst, Schauder, Wut etc. die »allerdunkelsten Sinne«, die gegenüber dem durch den Kunstgebrauch geadelten Sehsinn und Gehör als Kontaktsinne deutlich ›leibgebundener‹ sind. Für Men­delssohn ist der Ekel nicht abstrahierbar; allein die Vorstellung eines ekelerregenden Gegenstands genüge, um selbigen hervorzurufen.3 Tatsächlich handelt es sich beim Ekel um einen Primäraffekt (wie Angst, Trauer, Freude, Überraschung, Wut), d.h. »[s]ein mimischer Ausdruck ist dem Menschen von Geburt an verfügbar«.4 Doch zeichnet er sich wohl besonders durch seine Körperbezogenheit und Intensität aus, wie Liessmann bemerkt: »Kein Affekt kommt, im wörtlichen Sinn, so aus den Tiefen der Eingeweide des Menschen wie der Ekel; und kein Affekt wird, metaphorisch gewendet, so sehr zum Indiz einer metaphysischen Misere wie der Ekel.«5

Obgleich er sich dergestalt zunächst als immediater und leibgebundener Affekt prä­sentiert, kommen ihm diverse Funktionen und Wertigkeiten zu, je nachdem in welchem Kontext er manifest wird. Zu differenzieren sind hier die Ebene der Ästhetik, der Physis, der Philosophie und der Ethik.6 Ästhetisch ist der Ekel, wie aus Kants und Mendelssohns Bemerkungen ersichtlich wurde, vor allen Dingen der Gegenpol des Schönen, »Kehrseite des ästhetischen goût«, der das ästhetisch Genießbare transzendiert.7 Gleichzeitig ist er aber nicht nur das »schlechthin Andere[s]« des Ästhetischen, sondern auch »eigenste Tendenz des Schönen«:8 Wie Menninghaus vorführt, kann ein Zuviel an Schönem zum Überdrussekel führen, der sich einstellt, wenn nach der Sättigung durch einen als positiv (schön) bewerteten Reiz dessen Fortbestehen oder Übermaß als unangenehm empfunden wird. Gleich einer Süßigkeit, derer man zuviel isst, wird das in geringen Mengen Schmack­hafte unbekömmlich.9 Damit ist »das Schöne [ist] an sich selbst zugleich das (tenden­ziell) Ekelhafte; es ist aus sich heraus von der Gefahr bedroht, sich unversehens als ein Vomitiv zu erweisen.«10 Jedoch wird der Ekel bereits am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext von Sensualismus und den frühromantischen Erlebnispoetiken gleichsam zum Maximalreiz promoviert.11 Friedrich Schlegel diagnostizierte dabei das Choquante, »sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich« als grundlegende Tendenz der Kunst, die immer stärkere Effekte zu provozieren sucht.12

Physisch ist der Ekel wie bereits erwähnt ein angeborener Primäraffekt, der ferner körperliche Reaktionen wie Würgen und Erbrechen hervorrufen kann. Auslöser können dabei vor allem potenziell schädliche Gegenstände wie Verdorbenes oder giftige Lebensmittel sein.13 In der Philosophie kommt dem Ekel spätestens seit Nietzsche und Sartre eine besondere Wertigkeit zu. In Anlehnung an ersteren nennt Menninghaus den Ekel ein »spontanes und besonders kräftiges Nein-Sagen«, welches sich in diesem Fall gegen das Dasein selbst richtet.14 Der Lebensekel bzw. Lebensüberdruss ist damit durchaus der Melancholie und dem ennui anverwandt.15 Schließlich lässt sich darüber hinaus von einem moralischen Ekel sprechen, also einem »Abwehrgefühl gegen Hand­lungen, die als der sittlichen Moral widersprechend angesehen werden«.16 Das eigentlich Gegenständliche des physischen Ekels wird demnach auf der ethischen Ebene zum moralisch Verwerflichen und damit Anstößigen abstrahiert.

Der Ekelaffekt in seiner besonders heftigen Spontaneität kommt in all seiner Intensität eigentlich erst zum Tragen, wenn der Ekelreiz als aufdringlich empfunden wird. Der Ekel kann damit gleichsam als Abstoßung eines in seiner unmittelbaren Intimität als uner­träglich empfundenen Gegenstands beschrieben werden. Indessen kann dieser Gegenstand aber nicht nur reinen, ungetrübten Abscheu hervorrufen, sondern durchaus auch faszinieren. In diesem Sinne ist Ekel bei Freud und Kristeva eine Form der Verdrängung bzw. Ab­spaltung ureigenster Triebe – eine Verdrängung, die sich das Ich zur Selbsterhaltung bzw. zur Subjektkonstitution selbst auferlegt hat.17 Somit lässt sich der Ekel mit Menninghaus wie folgt verstehen als

die heftige Abwehr (1) einer physischen Präsenz bzw. eines uns nahe angehenden Phänomens (2), von dem in unterschiedlichen Graden zugleich eine unterbewußte Attraktion bis offene Faszination ausgehen kann (3).18

Ferner wird er von Reiß weiter ausdifferenziert in Ekel erster Ordnung und Ekel zweiter Ordnung.19 Ekel erster Ordnung bezeichnet dabei den »gemeinschaftsbildenden Ekel«, welcher durch Objekte ausgelöst wird, die kollektiv als ekel­erregend empfunden wer­den.20 Einen eindrucksvollen und umfassenden Katalog relativ universaler Ekelobjekte erstellte der österreichisch-britische Philosoph Aurel Kolnai in seinem 1929 erschienenen Essay »Der Ekel«. Als Gegenstand des Ekels benennt er Objekte, die den folgenden Kategorien angehören: a) dem »Erscheinungskreis der Fäulnis«, d.h. der Verwesung und Zersetzung; b) dem Bereich der Exkremente, d.h. die »Zersetzungsprodukte des Lebens«, sowie c) der Kategorie der körperlichen Ausscheidungen; ferner verweist er auf d) den Ekeltyp des Klebens, d.h. alles, was dort haften bleibt, wo es nicht bleiben soll; e) ekelerregende Tiere, vor allem Insekten; f) Speisen, im Besonderen, weil diese im Übermaß genossen zum Überdrussekel führen; g) der menschliche Leib, wenn dieser als aufdringlich, physisch zu nah in all seiner Körperlichkeit empfunden wird; h) den Ekel vor dem »wuchernden Leben«, der »üppigen Fruchtbarkeit«, d.h. »das Geistig-Ekelhafte der Idee formlos schäumender Vitalität, qualitätsgleichgültiger Drauflosproduktion von Keimen und Brut«; i) den Bereich der Krankheit und »körperlichen Verwachsenheit«, d.h. der Ekel vor dem deformierten menschlichen Körper.21 Gleichwohl liefert Kolnai einen Apparat an moralisch Ekeler­regendem, der sich auf die folgenden Kategorien reduzieren lässt: a) den Überdrussekel; b) in Analogie zum physischen Ekel ein Übermaß an oder falscherorts entfalteter Vitalität; c) die ungeordnete, ungezähmte Sexualität; d) die Lüge; e) die Falschheit bzw. Untreue und f) die moralische Weichheit.22 Diese Objekte (sowohl physisch-mate­rieller als auch moralischer Natur) fallen damit in den Bannkreis zumindest größtenteils kollektiv empfundener Ekelempfindungen und gehören damit dem Ekel erster Ordnung an. Reiß grenzt demgegenüber den Ekel zweiter Ordnung ab, den der sogenannte Lebensekel konstitutiert.23 Da dieser deutlich diffuser, weniger an konkrete Gegenstände gebunden ist, gilt er gleichsam als subjektiv und individuell variabel.24

Wie eingangs mit Rekurs auf Kant und Mendelssohn erläutert wurde, besteht die vordergründige Problematik des Ekelaffektes in seiner scheinbaren Nicht-Ästheti­sierbar­keit. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass der Ekel das ästhetische Spiel mit der Fiktion durchbreche, in jedem Fall stets Natur, nie aber Kunst sei. Tatsächlich ist der durch Kunst erzeugte Ekel anderer Natur als der realiter produzierte.25 Wahrnehmungssubjekt und Kunstrezipient fallen hier in eins, doch in der Regel weiß letzterer um die Tatsache, dass er sich einer Fiktion ausliefert und hat in gewissem Maß die Kontrolle darüber, inwieweit er sich ihr aussetzt. Das Ekelobjekt ist in dieser Situation nicht physisch präsent, sondern lediglich in der Nachahmung. Das Kunstwerk fungiert quasi als Vermittler zwischen Rezipient und Ekelobjekt; das dem Ekelaffekt zugrundeliegende Gefühl von überwäl­tigender Nähe wird durch das Kunstwerk hergestellt. Es scheint naheliegend, dass gewisse Schlüsselreize auch in der Mimesis der Fiktion wirken: So wird eine besonders plastische bildliche Darstellung eines verwesenden Leichnams oder die ausnehmend detaillierte Schilderung einer stinkenden, schmutzigen Kloake auch in der Vorstellung eine Form des Ekels erzeugen. Somit ist für den Künstler wiederum in gewisser Weise absehbar, wie das Kunstwerk wirken wird: Sofern Ekelobjekte, die in der Regel als kollektiv ekelhaft gelten, in der Darstellung nachgeahmt werden, kann davon ausgegangen werden, dass sie auf ähnliche Weise auf den Rezipienten einwirken, wie sie dies in der Realität tun. Wie Reiß herausstellt, lassen sich somit »phänomenologische Motivketten des Ekels erster Ordnung« detektieren, welche besonders effektiv den Ekelaffekt zu produzieren ver­mögen.26 Gleichsam vermag Kunst aber sicherlich auch moralischen Ekel hervor­zurufen, indem sie ethisch fragliche Handlungen an Ekelzu­schreibungen koppelt.

In der Moderne und Postmoderne scheint die Position, wie sie noch Kant und Mendelssohn u.a. vertraten, kaum noch adäquat: Längst gilt Ekelerregendes nicht mehr als Ausschlusskriterium für künstlerisch Wertvolles und ästhetisch Genießbares. Genres und Strömungen wie die gothic novel, Dekadenz, Naturalismus und Expressionismus, das »théâtre de la cruauté« oder auch abject art in den bildenden Künsten – um nur ein paar Beispiele zu nennen – belegen, dass Kunst und Ekelmotive sich nicht gegenseitig ausschließen. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass in Anbetracht der Ubiquität von Gewalt, Elend und Sexualität sowohl in den Künsten als auch der gegenwärtigen Popkultur (ein Trend, der sich seit den 90er Jahren fortsetzt) eine vollständige Integration, gar Abstumpfung von Ekelreizen stattgefunden hat. Thomas Anz lotet die Möglichkeiten des Genusses von Ekelhaftem in der Literatur und Kunst aus und macht dabei gleichsam die Theorie des Erhabenen für ein besseres Verständnis der Wirkungsweisen des Ekelhaften nutzbar.27 Analog zu den Kategorien des Tragischen und Entsetzlichen kann der menschliche Geist seine Stärke auch an der Kategorie des Ekelhaften erproben, sich über die drohende Reizüberwältigung erhaben zu fühlen: »Gelingt es dem Subjekt, sogar noch diesem Angst- und Ekelgemisch [gemeint ist das Beispiel eines verwesenden Leichnams] standzuhalten, kann es den Stolz seiner Autonomie um so mächtiger erfahren.«28

Eine weitere Möglichkeit der positiven Umwertung des Ekelhaften in der Kunst ist aber vor allen Dingen die moralische Lust, d.h. das »Gefühl der Erleichterung, der Genugtuung oder sogar des Triumphes, wenn die Guten siegen und die Bösen vernichtet werden«.29 In diesem Sinne lizenziert moralische Verwerflichkeit eine besonders schauderliche Zele­brierung des Ekelhaften, sofern es um dessen Zerschlagung geht. Brittnacher beobachtet in Bezug auf die phantastische Literatur, dass sich diese genau jenes Prinzip aneignet:

Die Phantastik rehabilitiert jene Mittel, die die Aufklärung gerade aus dem Repertoire zivilen Verhaltens verbannt hatte. Der Horror vereinfacht: Er macht das Böse so widerlich, daß das vermeintlich Gute mit gutem Gewissen so böse wie das Böse werden darf. Der Ekel berechtigt zu einem hemmungslosen, befreienden Gewalt­bacchanal der Opfer, in dem das Ekelhafte zerschlagen, zertreten, verbrannt oder in die Luft gesprengt wird.30

Ähnlich dem Prinzip der Katharsis kommt es so zu einer Triebabfuhr: Durch die Kunst können Aggressionen kanalisiert und sublimiert werden, welche sich umso wirkungsvoller entladen, je schauderlicher und ekelerregender die geschilderte Bannung des Bösen ist.31 Generell können Ekelmotive letztlich für eine Affektsteigerung instrumentalisiert werden. So wird die detaillierte Beschreibung des geschundenen Leichnams des Hippolyte in Racines Phèdre gleichsam den Schauder und Jammer um seinen tragischen Tod erhöhen. Analog verhält es sich mit dem Märtyrertod, der umso imposanter wirkt, je größer die Qualen im Diesseits sind.32

Letztlich liegt eine der großen Attraktionen des Ekelhaften aber auch in seiner Reizstärke, eben genau in der Tatsache, dass er mit einer solchen, nahezu unerträglichen Intensität auf das Subjekt einwirkt. Hier kommt wieder Du Bos’ Maxime zum Tragen, der zufolge es uns ein unermessliches Vergnügen bereitet, von der Kunst bewegt, gar betrübt zu werden. Die Seele genießt es, sich in Agitation zu sehen und dies sogar im Ekel, denn »[s]chlimmer als Schrecken oder Ekel ist […] der Horror vacui, die emotionale Leere«.33 Somit wohnen sogar dem Ekelhaften gewisse ästhetische Qualitäten inne, wobei es in seinen Wirkungs­weisen dem Erhabenen ähnlich ist. Trotzdem sind dem Ekelhaften als ästhetische Kategorie gewisse Grenzen gesetzt, wie Brittnacher bemerkt:

Die unhintergehbare Verpflichtung des narrativen Diskurses auf das Prinzip der Sukzession muß die phantastische Prosa um die ersehnte skandalöse Wirkung bringen. Die hyperbolische Darstellung des Abartigen und die ausufernde Be­schreibung seiner Vernichtung enden unweigerlich in einer repetitiven Suada des Unappetitlichen. Der Ekel kennt – das ist sein ästhetisches Manko – keine Innovation, sondern bestenfalls Verstärkung durch das wiederholte Herabsetzen von Hemm­schwellen. Doch sind diese schon im ersten Ekelaffekt gefallen.34

Gerade in der Literatur ist die Darstellung des Ekelhaften an die Sukzession der Narration gebunden. Ist eben einmal der Ekel auf den Plan gerufen worden, so kennt er keine (ästhetische) Steigerung mehr, sondern nur noch die Wiederholung, welche letztendlich den ursprünglich wirksamen Reiz abnutzen wird. Damit ist auch der Ekel als Anderes des Ästhetischen und Maximalaffekt nur vorübergehend ästhetisch wirksam.

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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