Читать книгу Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - Страница 9
1.1.2 Sabine Friedrich: Bohrer und Bataille revisited
ОглавлениеAuch Sabine Friedrich1 unterzieht die Theorie Bohrers einer eingehenden Revision. In Ihrer Untersuchung zur Imagination des Bösen unternimmt sie den Versuch, die Theorie Bohrers mit der These der »dépense improductive« – der unproduktiven Verausgabung – George Batailles zu kombinieren bzw. auf Basis beider Theorien narrative »Modellierungen der Transgression« bei Laclos, Sade und Flaubert aufzudecken. Bataille, der sich u.a. in seinem Aufsatz La Littérature et le mal gleichfalls mit der Schule des Bösen auseinandersetzt, setzt das Phänomen des Bösen in Bezug zur Transgression, welche er auch in seinen übrigen Schriften zum Gegenstand der Untersuchung erhebt.2 Das Konzept der Transgression ist mit einem kulturanthropologischen Ansatz zu beschreiben. Archaische Gesellschaften zeichnen sich durch die Ausbildung zweier Bereiche aus: einen produktiven Bereich der Arbeit, welcher – um sein Fortbestehen zu garantieren – mit Verboten belegt ist, sowie einen Bereich der nutzlosen Verausgabung, der rituellen »sinnlosen Energieverschwendung«, welcher der Triebeindämmung dient.3 In diesem Zusammenhang sind rituelle Opferungen beispielsweise als solche Verausgabungshandlungen zu verstehen, da sie die Lust an der Gewalt, die normalerweise aus dem rationalen Bereich der Produktivität ausgegrenzt wird, in momentaner Aufhebung4 des Tabus kanalisieren und in der Überschreitung ekstatisch als das Heilige erfahrbar machen.5
Im Christentum ist der Begriff des Heiligen jedoch nicht länger an den Moment der Ekstase, der Lust und der Gewalt gekoppelt. Der Bereich der Sexualität, der für Bataille jedoch unauflösbar mit der Erfahrung des Heiligen verbunden ist, wird vollständig ausgegrenzt, die Transgression wird nur noch als »Sünde« begriffen. Besonders problematisch wird die Erfahrung der Transgression dann in der Moderne mit dem Tod Gottes, denn die Überschreitung setzt schließlich das Anerkennen einer metaphysischen Kraft voraus; die Sünde kann nicht mehr Sünde sein, wenn sie sich nicht auf etwas Göttliches bezieht: »Die Transgression öffnet sich in die Leere, die der Tod Gottes hinterlassen hat«.6 Das Transgressive manifestiert sich nunmehr im Heterogenen:7 Damit meint Bataille vornehmlich die »›niedere[n]‹ Phänomene, die von der homogenen – bürgerlichen – Welt als ekelerregend und anormal ausgegrenzt werden«.8 Damit lässt sich nun der Bogen zum Bösen schlagen, welches per definitionem auch die abgründigen, tabuisierten, als krankhaft und moralisch verwerflich stigmatisierten Gegenstände bezeichnet. Für Bataille markiert das Böse jedoch – neben der Erotik – einen Bereich der Überschreitung. Es agiert, wie er in La Littérature et le mal anhand der Werke Sades veranschaulicht, als »Entfesselung der Leidenschaften« (»déchaînement des passions«)9 und somit als das Andere der Vernunft, als Kraft, die vorherrschende Diskurse zerlegen und revoltieren kann, indem es präexistente rationalistische Diskurse (das Homogene) aufgreift und gleichzeitig zersetzt. Darin besteht laut Friedrich auch der Ertrag der Theorie der Transgression für eine Konzeption des Bösen, wie es sich in der Ecole du mal manifestiert:
Durch die transgressive Dynamik werden die zugrundeliegenden Begriffe entsubstantialisiert und ihre Scheinhaftigkeit bloßgelegt. Das impliziert jedoch zugleich, daß sich das transgressive Böse nur auf der Kehrseite derjenigen Diskurse entfalten kann, deren Grenzen es zugleich sprengt. Die Transgression entfaltet sich in Form der Dekonstruktion, und aus der Dekonstitution tradierter Diskurse konstituiert sich ein ambivalentes, substitutives Böses.10
Friedrich zufolge bietet Bataille damit jedoch nur ein Sprungbrett, um auch die ästhetische Dimension des Bösen beschreibbar zu machen, an der es Bohrer gelegen war (ohne dabei jedoch – wie bereits hervorgehoben wurde – konkrete Ansätze zu liefern, wie sich dieses ästhetische Böse genau formiert). Der Berührungspunkt beider Theorien liegt im Moment der Ekstase, die bei Bohrer jedoch als Intensität bzw. imaginative Entgrenzung gedacht wird. Während Bataille also die Ästhetik des Bösen größtenteils ausklammert – dabei jedoch einen inhaltlichen Ansatz zur Erfassung des Phänomens des Bösen bietet –, »lehnt Bohrer sozialhistorische oder funktionshistorische Erklärungen literarischer Konstrukte grundsätzlich ab, weil diese dadurch nicht als autonome ästhetische Akte verstanden würden«.11
Friedrich sucht nun, einen »Mittelweg« einzuschlagen, indem sie ihre Textanalysen dreischrittig ausrichtet: Zunächst geht es ihr um eine inhaltliche Analyse des Bösen auf der histoire-Ebene, d.h. sie sucht, das im Text repräsentierte Konzept des Bösen zu klassifizieren, z.B. als Profanation oder Sünde, und seine strukturelle Bedeutung für den Gesamthandlungsverlauf herauszuarbeiten. Im Zuge der Betrachtung der histoire-Ebene soll zudem Bohrers Theorie insofern fruchtbar gemacht werden, als die Semantiken des Bösen im Text identifiziert werden. In einem zweiten Schritt gelte es nun, die Diskursebene einer Untersuchung zu unterziehen, d.h. das Augenmerk liege nun auf der Ebene der Vertextungsstrategien. Die »Figurationen des Bösen«, die sich inhaltlich beschreiben lassen, unterscheidet sie hier deutlich von einer »transgressiven Bewegung«, »die sich nun nicht mehr auf ein diskursiv bestimmbares Böses als Objekt der Darstellung bezieht, sondern die durch die spezifischen ästhetischen Inszenierungsverfahren die Kehrseite, die Prämissen bzw. die blinden Stellen des Diskurses, welcher der Figuration des Bösen zugrunde liegt, aufdeckt«.12 Das, was also zunächst mithilfe tradierter Diskurse beschreibbar ist, wird in seiner defigurativen Potenz aufgedeckt, wodurch sich eine neue Form des Bösen konstituiert, ein ästhetisches Böses, welches wie das Heterogene Batailles Fragmente bestehender Diskurse rekonfiguriert.
Mit ihrem Beitrag verleiht Friedrich Bohrers Theorie des Bösen als ästhetische Kategorie ein deutlich festeres Fundament, indem sie sie mit Bataille und der Diskursanalyse in Verbindung bringt. Demgemäß ist das Böse bei Friedrich vor allen Dingen ein aggressives Konstrukt, das subversiv bestehende Diskurse unterläuft und damit vielleicht dem Konzept der Literatur als Gegendiskurs des frühen Foucault nahekommt. Die Methodik, die sie zur Analyse eines ästhetischen Bösen entwickelt, revidiert überdies Bohrers Theorie insofern, als das böse Sujet hier miteinbezogen wird – was eine Notwendigkeit zu sein scheint. Sie verweist auf die Ambiguität des Begriffes der »Ästhetik des Bösen«, der per se schon zweierlei impliziert: Geht es um die Ästhetisierung des Bösen oder ist die Ästhetik selbst böse? So argumentiert sie bezüglich der Schule des Bösen: »Einerseits wird immer wieder betont, daß es nicht um die dargestellte Thematik des Bösen geht, sondern um den Status der Fiktion; andererseits aber ist für den Kanon der Ecole du mal doch zunächst ein inhaltliches Kriterium entscheidend. Laclos, Sade und Flaubert werden dieser Tradition zugerechnet, weil sie etwas Böses darstellen.«13