Читать книгу Schockästhetik: Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq - Lena Schönwälder - Страница 21

1.4 Skandal 1.4.1 Skandal: Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs

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Der Versuch einer Definition des Bösen hat erwiesen, dass seine Funktionalität als kategorialer Begriff problematisch ist. Er bezeichnet weder ein rein ethisches Konzept (mit all seinen philosophischen und theologischen Implikationen), noch ein ästhetisches. Dementsprechend schwer objektivierbar gestaltet sich eine Klassifikation eines Textes/Kunstwerks oder auch eines dargestellten Inhalts als »böse«. Es bleibt demgemäß stets zu differenzieren, ob der Text selbst eine provokante Wirkung hat (und ihm damit eine subver­sive, normenzersetzende Kraft eignet) oder ob jener Reflexionen über das Wesen des Bösen anstellt. Bezieht sich der Text auf ethisch-moralische Vorstellungswelten, die dem Leser bekannt sind oder setzt er diese außer Kraft? Kurz: Gibt es in der Kunst überhaupt noch ein Böses und wenn ja, welcher Art? Im gegenwärtigen Zeitalter des anything goes, der ultima­tiven Abstumpfung, drängt sich die Frage nach dem Status des Bösen bzw. nach dem ethischen Wert dieses Begriffs nahezu auf. Ohne dabei die im Vorfeld angestellten Überlegungen zum Bösen und der Literatur als nichtig erklären zu wollen, soll im Folgenden jedoch ein weiterer Begriff eingeführt werden, der Aspekte ethischer Natur (Reflexion über Normen und Werte, gesellschaftlicher Status und Wert der Kunst) mit jenen ästhetischer (Schaulust, ästhetische Erfahrung und Emotionen) zu subsumieren vermag: der Skandal.

Wörtlich bedeutet der Begriff zunächst »Ärgernis«, »Aufsehen« und wurde dem Franzö­sischen scandale entlehnt, das wiederum auf das Lateinische scandalum zurückgeht. Dieses leitet sich jedoch von griechisch skándalon (σκάνδαλον) ab, was so viel bedeutet wie »Fall­strick«, »Ärgernis«, »Anstoß«, und von dem ebenfalls griechischen Begriff skandalēthron (σκάνδάληθρου), welcher eine »Auslösevorrichtung in einer Tierfalle« bezeichnet.1 Skandalon meint dabei den Stein des Anstoßes, der dem ursprüng­lichen Wortsinn nach die Tierfalle zuschnappen lässt und an dem sich im übertragenen Sinne die (öffentliche) Empörung ent­zündet. Wie Steffen Burkhardt erläutert, dehnte sich der ursprüngliche Wort­sinn »Stellhölzchen einer Falle« qua pars pro toto zunächst auf den der Falle aus, um gleichsam metaphorisch gebraucht zu werden, wie eine Komödie des Aristophanes (um 445–385 v. Chr.) belegt. Im religiösen Bereich (zwar auch in der altgriechischen Bibelüber­setzung des Alten Testaments, aber vor allem im Neuen Testament) wird der Begriff in seiner lateinischen Übersetzung scandalum gleichfalls in der Bedeutung »Falle« verwendet. Diese wird jedoch erweitert auf »Hindernis« und ferner »Ursache des Verderbens«.2 In der Tat ist der Konnex von religiösen Konno­tationen des Begriffs »Skandalon« mit einer religiös-theologischen Konzeption des Bösen augen­scheinlich:

So fungiert das σκάνδαλον (skandalon) als Stein des Anstoßes, Fels des Strauchelns, zur Bezeichnung von Verderblichem, Anstößigem, Schädlichem wie der Anbetung von Götzenbildern und Götzendienst oder wird in einem weiteren Sinne auch als Anlass zum Fall durch eigene Schuld und Verführung zur Sünde verwendet – kurzum: das σκάνδαλον (skandalon) bezeichnet Gesetzesübertretungen aller Art und die Ursache allen Unheils per se. Es wird zu einem leeren Signifikanten, zu einem vereinheitlichenden Zeichen für alles, was das System gefährdet. Das σκάνδαλον (skandalon) wird zu einem Platzhalter für das der Ideologie der religiösen Gruppe im Weg Stehende. Es ist der Weg in die Verdammnis und bildet eine Art biblische Achse des Bösen, die zu überschreiten mit göttlicher Bestrafung geahndet wird. 3

Das Skandalon wird hier explizit mit dem Bösen in Beziehung gesetzt.4 Analog verhält es sich dann mit den moralischen Implikationen, über die der Begriff verfügt: »Der Skandal ist das, woran die Moral Anstoß nimmt«.5 Bösch zufolge bezeichnet der Skandal damit zweierlei, und zwar zum einen das Ärgernis erregende Moment als solches (also das Skandalon) sowie den »Vorgang der Erregung selbst«.6 In der Tat handelt es sich bei einem Skandal bzw. bei der Skandalisierung um einen »Kommunikationsprozess«, dem ein mehrschrittiger Mechanismus zugrunde liegt,7 der in der Regel durch einen Norm­bruch8 initiiert wird.

In Anlehnung an die Forschungsliteratur kann »von einem Skandal im analytischen Sinne« dann die Rede sein, wenn folgende drei Bedingungen erfüllt sind: a) Ein »prakti­zierter oder angenommener Normbruch« wird von einer Person, einer Gruppe oder einer Institution begangen; b) in der Folge wird eben dieser Normbruch an die Öffent­lichkeit gebracht und c) erregt Ärgernis bei einem breiten Publikum.9 In der Tatsache, dass ein Skandal ohne Öffentlichkeit quasi nicht existieren kann, manifestiert sich denn auch seine Theatralität: Der publik gemachte Skandalruf drängt den Skanda­lierten in das Schein­werferlicht des öffentlichen Diskurses, welcher sich vor dem empörten, in seinen Werten gekränkten Publikum zu verantworten hat. Betrachtet man die Rollen, die in einem Skandal­prozess besetzt werden, in Hinblick auf ihre Funktionalität, lassen sich diese mit Sighard Neckel in seiner Studie zum politischen Skandal auf insgesamt drei, die sogenannte Skandal-Triade, bringen:

Denn schiebt man nur die jeweils besonderen Kulissen des Skandals zur Seite, entkleidet man die Darsteller ihrer historischen Kostüme, bleiben immer dieselben Aktoren auf der Bühne zurück: der Skandalierte (der einer Verfehlung von öffentlichem Interesse öffentlich bezichtigt wird), der Skandalierer (einer, der diese Verfehlung öffentlich denunziert) sowie ein, oder besser: mehrere Dritte, denen über das, was zum Skandal geworden ist, berichtet wird und die daraufhin eine wie auch immer geartete Reaktion zeigen. 10

Die von Neckel betonte Analogie zum Theater stellt auch Wagner-Egelhaaf heraus, wenn sie aufzeigt, dass der Skandal in seinen Grundstrukturen der Poetik des klassischen Dramas in wesentlichen Punkten entspricht:

Im I. Akt wird die Normalität überraschend gestört – das wäre im klassischen Drama die Exposition. Im II. Akt zeigen sich die Normbrecher und deren Opfer in Person – im klassischen Drama entspräche dies der Steigerung. Im III. Akt, auf dem Höhepunkt, der Peripetie, explodiert das Geschehen, indem es in die interaktive, symbolische Sphäre eintritt. Im IV. Akt findet ein Prozess der Reinigung und der Selbstver­gewisserung statt; der Transgressor wird bestraft und Reformen werden beschlossen. Im klassischen Drama käme diese Phase dem retardierenden Moment gleich. Im V. Akt schließlich kehrt Normalität in Gestalt reformierter Normvorgaben ein, die das System vor zukünftigen Störungen schützen sollen, bis sich der nächste Skandal ankündigt. Dramentechnisch wäre das ironischerweise die Katastrophe.11

Eine solche Analogie lässt sich sogar gewissermaßen bis zum Wirkziel der Tragödie aufrechterhalten. Während die durch das Dramenstück effektuierte Katharsis den Zu­schauer von Negativaffekten reinigt, dient auch der Skandal einer Art Säuberung, denn:

Skandale machen sichtbar, was in einer Gesellschaft problematisch ist, indem sie Normverstöße und Verletzungen von Werten offen legen. Sie scheinen anzuzeigen, dass es mit einer Gesellschaft nicht zum Besten steht. Dass Skandale als solche überhaupt entstehen können und nicht vielmehr unter den Teppich gekehrt werden, zeigt jedoch an, dass Selbstreinigungskräfte am Werk sind.12

Damit wären gleichermaßen die Funktionen des Skandals benannt: Er kann einerseits als Normenbarometer13 fungieren, indem er zunächst aufzeigt, dass in irgendeiner Form ein Normverstoß vorliegt, und weiterhin indiziert, welche Normen dies betrifft. In historischer Perspektive kann die Anzahl und Natur von Skandalisierungen gleichermaßen Aufschluss über »Moralisierungswellen«14 geben, und damit über Schwellenmomente und Umbruch­pha­sen innerhalb einer Gesellschaft, die Werte in einem öffentlichen Diskurs thematisiert, diskutiert, Normverstöße sanktioniert und gleichermaßen neue Werte erschließt und alte aktualisiert.15 Es ist dabei nicht von der Hand zu weisen, dass der Skandal mitunter ein soziales Ritual darstellt, in dem sich durch »eruptive[n] Entladung angestauter Span­nungen« die Gesellschaft selbst reinigt.16 Und diese Energie richtet sich auf den Skandalisierten, der gleichsam als Sündenbock17 fungieren kann. Ein Sündenbock, der per definitionem erst qua Projektion und Transfer zu einem solchen wird,18 kann dabei völlig unschuldig der Sünden sein, die er repräsentiert; der Skandal fußt jedoch in der Regel auf einem realen Verstoß, auch wenn dieser erst durch Zuschreibung seitens des Skandalierers publik bzw. problematisierend zum Gegenstand des öffentlichen Interesses gemacht wird. Doch wird ein Skandal im öffentlichen Raum über die Medien ausgetragen, welche als Kommunika­tionsorgane entscheidend zur Gestaltung der »Geschichte« bei­tragen. Dabei fungieren sie quasi als impliziter Autor, der bestimmte Fakten bzw. Aspekte selektiert, hyperbolisch ausschmückt, stärker gewichtet als andere und insgesamt prägend auf die Darstellung einwirkt. Dabei kann die öffentliche Abstrafung des Skandalierten »durch Moralisierung, Verkürzung oder Negativismus« deutlich harscher ausfallen, als dies der ursprüngliche Regelverstoß tatsächlich erfordern würde.19

Dass die Medien in diesem Zusammenhang eine solche Einflussmacht haben, verweist auf die Funktion des Skandals als sogenanntes »Mediennarrativ«: »Eine multidimensionale Ereignissequenz wird auf eine spezifische Form gebracht und dabei zum einen um einzelne Elemente verkürzt, zum anderen mit Sinn angereichert.«20 In diesem Sinne lassen sich durch Skandalforschung gleichfalls die »Definitionsmacht«21 von Medien erkennen und ferner ihre »Funktionslogiken« und inneren Arbeitsmechanismen erschließen. Somit ist eine Geschichte des Skandals gleichsam eine Geschichte der Medien einerseits und der Öffentlichkeit22 andererseits, wie Bösch feststellt.23 Skandalisierungen können dabei in verschiedenen Kontexten stattfinden, besonders häufig in den Medien vertreten sind dabei Skandale im Bereich der Politik, der Religion, aber auch der Massenkultur und natürlich der Kunst24 (einschließlich der Literatur).25 Im Folgenden soll der spezifische Fall des Litera­tur­skandals näher beleuchtet werden.

Schockästhetik:  Von der Ecole du mal über die letteratura pulp bis Michel Houellebecq

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