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Aus der revolutionären Vergangenheit

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Aus der revolutionären Vergangenheit

Genau zehn Jahre vor den geschilderten Vorgängen – im Jahre 1874 – hatte ich mich, damals ein Jüngling von neunzehn Jahren, der sogenannten „propagandistischen Bewegung“ angeschlossen, die zu jener Zeit einen bedeutenden Teil der studierenden Jugend in allen Gegenden Russlands erfasst hatte. Wie die meisten der jugendlichen „Propagandisten“ war ich hierbei geleitet von unendlichem Mitleid für die Leiden und Entbehrungen des Volkes. Nach unseren Anschauungen war es heilige Pflicht eines jeden ehrlichen und konsequenten Menschen, der sein Vaterland wirklich liebte, alle Kräfte in den Dienst der Befreiung des Volkes von dem wirtschaftlichen Drucke, der Versklavung, der Barbarei, in der es gehalten werde, zu stellen. Die Jugend, die stets des lebhaftesten Mitgefühls mit dem Unglück anderer fähig ist, konnte nicht gleichgültig bleiben angesichts der trostlosen Lage, in welcher sich der kurz vorher von der Leibeigenschaft befreite Bauer befand. Als einziges Mittel, die bestehende elende materielle Lage und den ganzen auf dem Volke lastenden Druck zu beseitigen, erschien den „Propagandisten“ die soziale Umwälzung in Russland; der Lehre der Sozialisten Westeuropas folgend, stellten sie sich als Ziel die Abschaffung des Privateigentums an Boden und den Produktionsmitteln und die Überführung derselben in Kollektivbesitz. Die „Propagandisten“ waren fest überzeugt, das Volk würde ohne weiteres ihre Ideen und Bestrebungen erfassen und auf den ersten Appell sich ihnen anschließen. Dieser Glaube erzeugte unendliche Begeisterung, spornte zu schrankenloser Aufopferung für die einmal erfasste Idee an. Die jungen Männer und Mädchen zögerten keinen Augenblick, ihrer bevorzugten sozialen Lage, der gesicherten Zukunft, die jedem von ihnen innerhalb der bestehenden Ordnung winkte, zu entsagen; ohne jedes Bedenken verließen sie die Lehranstalten, zerrissen rücksichtslos jegliche Familienbande, schlugen ihr persönliches Schicksal in die Schanze, um nur der Idee zu leben, um sich rückhaltlos dieser Idee zu opfern, um alle Kräfte und Mittel der heiligen Sache des Volkes dienstbar zu machen. Jedes persönliche Opfer schien diesen jugendlichen Kämpfern nicht einmal der Rede wert, wo es sich um die große Sache handelte. Die gemeinsamen Ideale, das gemeinsame Ziel und der allen eigene Enthusiasmus ließen die „Propagandisten“ zu einer einzigen, mit allen Herzensbanden zusammenhängenden Familie werden. Es bildete sich ein wahrhaft brüderliches, herzliches und intimes Verhältnis zwischen allen diesen Leuten heraus, vollendeter Altruismus beherrschte sie, und einer war für den anderen zu jedem Opfer bereit. – Nur in den großen geschichtlichen Momenten, zur Zeit des Martyriums der ersten Christen und der Verfolgung religiöser Sekten, mögen unter den Proselyten derartige persönliche Beziehungen und derartige gehobene Stimmungen geherrscht haben. [Der Leser, der sich für diese Periode der russischen revolutionären Bewegung eingehender interessiert, findet Näheres in dem Werke des Professors Peter Martin Alphons Thun (1853 – 1885): „Die Geschichte der revolutionären Bewegung in Russland“, und Stepnjak, „Das unterirdische Russland“.] Jedoch auch in dieser erlesenen Schar fanden sich, wie das ja überall bei solchen Bewegungen der Fall war, einzelne, die der Strömung nicht gewachsen waren; es fanden sich in ihrer Mitte einige Kleinmütige und selbst solche, die zu Verrätern wurden. Freilich waren es verschwindend wenige. Aber die Geschichte revolutionärer Bewegungen beweist zur Genüge, dass Hunderte der geschicktesten geheimen und öffentlichen Agenten der Regierungen einer im geheimen wirkenden Partei niemals so viel Schaden zufügen können, als ein einziger Verräter aus den eigenen Reihen. – So sollte auch den russischen „Propagandisten“ der Verrat verhängnisvoll werden. Ja das Auftauchen von Verrätern gab der Bewegung einen Charakter, den sie sonst wohl niemals erhalten hätte.

Kaum waren im Frühjahr 1874 die jungen Leute, ihrem Plane folgend, an die Arbeit gegangen, indem sie sich als Bauern verkleidet in die Dörfer begaben, um dort für die sozialistischen Ideen zu wirken, als auch schon die Verräter sich bemerkbar machten: zwei oder drei der Eingeweihten denunzierten den Plan und lieferten Hunderte von Leuten den Behörden aus. – Massenhaft fanden Haussuchungen und Verhaftungen statt; die Gendarmen stürzten sich auf Schuldige und Unschuldige; alle Kerker in Russland waren alsbald überfüllt. In dem einen Jahre wurden über tausend Personen verhaftet. Viele von ihnen erduldeten jahrelang dauernde Einkerkerung unter den furchtbarsten Umständen; manche nahmen sich das Leben, andere verloren den Verstand; viele wurden infolge der Verhaftungen krank und starben vorzeitig.

Man wird es verstehen, welcher grimme Hass unter diesen Verhältnissen in den Reihen der Sozialisten gegen die Verräter, denen so viele Menschenleben zum Opfer gefallen waren, entbrennen musste. Das namenlose Unglück der Freunde musste zur Rache reizen; es musste mit Notwendigkeit der Gedanke auftauchen, die Verräter zu strafen, durch Einschüchterung denselben das Handwerk zu legen. Zunächst jedoch blieb es bei der theoretischen Erwägung derartiger Pläne; es wurde den „Propagandisten“, die sonst äußerst friedliche Menschen waren, wahrhaftig nicht leicht, dem Gedanken die Tat folgen zu lassen. Erst im Sommer 1876 fand der erste Versuch statt, die Einschüchterungstheorie zu verwirklichen. Die näheren Umstände dabei waren folgende:

In Elisawetgrad hatten sich zeitweilig die Mitglieder der damals bekannten revolutionären Gruppe „Kiewer Buntari“ [„Bunt“ bedeutet gleichzeitig Aufstand, Revolte. „Buntari“ wäre also mit Verschwörer, in der Tat „Aufwiegler“ zu übersetzen. Die Organisation stellte sich die Aufgabe, Bauernrevolten zu organisieren.] versammelt; auch ich gehörte jener Organisation an. Viele der Mitglieder waren „illegal“ [Als „Illegale“ werden in der Sprache der russischen Revolutionäre diejenigen bezeichnet, die bereits auf irgendeine Weise den Behörden als Revolutionäre verdächtig sind, und die daher sich unter falschem Namen verbergen. Anmerkungen des Übersetzers.], und auf einige von diesen wurde seit langer Zeit von der Gendarmerie gefahndet, weil ein Verräter namens Gorinowitsch sie angezeigt hatte. Dieser Gorinowitsch war im Jahre 1874 verhaftet worden und schwebte damals in großer Gefahr; er suchte sich zu retten, indem er alles, was er über die Sozialisten wusste, aussagte, und es gelang ihm in der Tat, auf diese Weise sich zu befreien; seine Aussagen hatten sehr vielen geschadet. Es wäre wohl diesem Renegaten ebenso wenig ein Haar gekrümmt worden wie so vielen anderen, wenn er fortan die Kreise der Revolutionäre gemieden hätte. Aber ungefähr zwei Jahre nach seiner Entlassung aus der Haft suchte er von neuem sich in diese Kreise einzuschleichen. Er machte sich an einige unerfahrene junge Leute heran, die natürlich keine Ahnung hatten von der Rolle, die er gespielt, und von diesen erfuhr er, dass die Kiewer Organisation sich in Elisawetgrad befinde; er begab sich also dahin und suchte diejenigen Personen zu ermitteln, die er verraten hatte. Doch wurde er von uns erkannt, und wir mussten natürlich zu dem Schlusse kommen, dass er einen neuen Verrat plane. Da beschloss ich mit noch einem Genossen, ihn umzubringen.

In Elisawetgrad selbst durfte die Tat nicht vollbracht werden, weil die Polizei sonst leicht der Organisation auf die Spur kommen konnte. Wir überredeten daher Gorinowitsch, mit uns nach Odessa zu reisen, wo er die Gesuchten finden würde, und er willigte ein. Der Plan war, dass mein Freund auf einem abgelegenen Platze in Odessa den Verräter niedermachen sollte, worauf wir, um die Leiche unkenntlich zu machen, das Gesicht mit Schwefelsäure übergießen wollten. Es kam jedoch so, dass wir den Bewusstlosen für tot hielten. Furchtbar zugerichtet blieb er am Leben und gab der Polizei Auskunft über das gegen ihn verübte Attentat. Verhaftungen und Untersuchungen folgten auf dem Fuße. Mir gelang es damals, mich zu verbergen. Aber im Herbste des nächsten Jahres wurde ich mit anderen Genossen verhaftet; es handelte sich damals um den bekannten „Tschigirinschen Prozess“. Die Bauern des Kreises Tschigirin im Kiewer Gouvernement wollten bei der Befreiung das ihnen zugeteilte Land nicht in Privatbesitz übernehmen, sondern sie wollten das Gemeindeeigentum am Boden, wie es im Norden bestand. Die Regierung ergriff im Jahre 1875 drakonische Maßregeln: Exekutionen, Dragonaden, Verfolgungen aller Art; die Bauern blieben fest. Die Revolutionäre, unter anderen Stefanowitsch Bochanowski und ich, beschlossen daher, einen Aufstand unter den Tschigirinern zu organisieren. Unsere Pläne scheiterten, wir wurden verhaftet, und es wurde der Tschigirinsche Prozess angezettelt. Ich wurde in Kiew eingekerkert, doch gelang es mir, im Frühjahr 1876 gemeinsam mit Stefanowitsch und Bochanowski zu entfliehen.

Den wegen des Attentats gegen Gorinowitsch Angeklagten wurde der Prozess erst im Dezember 1879 gemacht, zu einer Zeit, wo bereits der rote wie der weiße Terrorismus aufgelodert war. Nach einer ganzen Reihe von Attentaten gegen verschiedene Repräsentanten der Staatsgewalt hatten die Revolutionäre zu jener Zeit ihre ganze Kraft darauf konzentriert, Alexander II. umzubringen.


Zar Alexander II.

Die terroristische Bewegung bekämpfte die Regierung durch Ausnahmegesetze, Kriegsgerichte und Todesurteile, wobei eine große Anzahl von Leuten hingerichtet wurde, die absolut keinen Anteil an jenen Taten hatten. – Einige Tage vor Beginn des Prozesses in Sachen des Attentats gegen Gorinowitsch, nachdem den Angeklagten bereits die Anklage bekannt gemacht worden war, die sie mit relativ gelinden Strafen bedrohte, hatten die Terroristen am 19. November auf der Moskauer Linie einen Zug in die Luft gesprengt, in dem man den Zaren vermutete. Die Regierung beschloss, hierfür an den des Anschlags gegen Gorinowitsch Angeklagten Rache zu nehmen. Von diesen Angeklagten war nur ein einziger direkt an der Tat beteiligt, und alle waren sie bereits zwei oder drei Jahre vor Beginn der terroristischen Bewegung verhaftet worden; sie konnten also unter keinen Umständen für diese Bewegung verantwortlich gemacht werden. Trotzdem wurde beschlossen, durch ein grausames Urteil ein „Exempel zu statuieren“. – Drei der Angeklagten, Drebjasgin, Malinka und Maidanski, wurden zum Tode durch den Strang verurteilt und am 3. Dezember hingerichtet; zwei, Kostjurin und Jankowski, zu Zwangsarbeit verurteilt und der Verräter Krajew freigesprochen.

Hätten mich diese Richter in ihre Gewalt bekommen, mein Schicksal wäre besiegelt gewesen. Ich war jedoch zu Beginn des Jahres 1880 nach dem Auslande geflüchtet und hatte mich bis zur Zeit des beschriebenen Vorgangs in Freiburg in der Schweiz aufgehalten.

Hiernach dürfte es klar sein, welche Stimmung mich bei dem Gedanken an die Auslieferung nach Russland befiel.

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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

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