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IV. Der Besuch „meiner Gattin“
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An einem der nächsten Tage wurde ich abermals in das Besuchszimmer gerufen. Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, als sich eine junge Dame unter Lachen und Weinen mir in die Arme warf – die Frau meines Freundes Buligin! Da ich angeblich als ihr Gatte verhaftet worden war, war sie herbeigeeilt, um hier die Rolle meiner Frau zu spielen. Und sie spielte sie so gut, dass selbst der strenge Staatsanwalt, der Zeuge dieser rührenden Szene des Wiedersehens zweier jungen, sich zärtlich liebenden Eheleute war, weich wurde. Er schritt nicht sofort ein und ließ uns gewähren. Erst als die stürmische Begrüßung stattgefunden, forderte er mich auf, mit „meiner Gattin“ deutsch zu sprechen, aber sein Ton war doch diesmal weniger streng und trocken, als während des Besuches der Frau Axelrod.
Frau Buligin hatte mir jedoch sofort zugeflüstert, ich solle unbedingt darauf bestehen, dass wir russisch sprechen dürfen, da sie mit mir über wichtige Dinge zu reden habe. Ich drang also in Herrn v. Berg, er möchte gestatten, uns des Russischen zu bedienen.
„Das darf ich nicht“, versetzte er kurz. „Sie sprechen beide genügend deutsch, um sich zu verständigen.
„Sie werden zugeben“, erwiderte ich, „dass wenn man noch so gut eine fremde Sprache beherrscht, man doch das Bedürfnis hat, mit seiner Gattin, die man wochenlang nicht gesehen, und die man unter solchen Umständen, wie im Kerker, wiedersieht, in der Muttersprache verkehren möchte. Von unseren Familienverhältnissen, von unserem Kinde in einer fremden Sprache zu erzählen, wird meiner Frau unmöglich sein. Ich begreife auch nicht“, fuhr ich fort, „wie die Gesetzlichkeit, deren Vertreter Sie sind, Schaden nehmen sollte, warum sie ein Hindernis sein soll, uns diese Freude zu gewähren. Wenn Sie Zweifel in dieser Beziehung haben, können Sie ja den Übersetzer, Herrn Professor Thun kommen lassen, damit er unserem Gespräch beiwohnt.“
„Ich bin gesetzlich nicht dazu verpflichtet, wenn Sie beide der deutschen Sprache hinlänglich mächtig erscheinen“, meinte der steife Greis.
„Nach dem Gesetze sind Sie freilich im Rechte, aber es gibt auch eine Pflicht der Humanität, die alle gebildeten Menschen trifft, und diese sollte Sie bewegen, uns den Gebrauch der Muttersprache nicht zu verweigern.“
Ich hatte das Wort „Humanität“ scharf betont, und es schien Eindruck gemacht zu haben – der Staatsanwalt kapitulierte. Er willigte ein, dass wir russisch sprechen, wenn Professor Thun sich bereit zeigt, zugegen zu sein. Aber er wollte ihn nicht holen lassen: wieder war er „gesetzlich dazu nicht verpflichtet“! Natürlich durfte ich meine Beziehung zu Professor Thun nicht verraten und fragte geflissentlich nach der Adresse, obwohl ich sie genau von dem Professor selbst erfahren hatte.
„Man wird es Ihrer Gemahlin in meiner Kanzlei sagen.“
Damit verließ er mit Frau Buligin das Zimmer, und ich wurde in meine Zelle zurückgeführt.
Nach einiger Zeit wurde ich abermals in das Besuchszimmer geführt und fand dort außer Frau Buligin und dem Staatsanwalt auch Professor Thun. Diesen hatte ich in der letzten Zeit lange nicht gesehen, da er zu den Osterferien verreist war. Auch war seine Aufgabe als Übersetzer beendet, und seit die Akten an den Staatsanwalt gegangen waren, konnte er nicht mehr so ungeniert mit mir verkehren.
Frau Buligin erklärte mir, sie sei herbeigeeilt, weil meine Freunde in großer Sorge um mich seien. In Genf drängen sich russische Spione um meine nächsten Bekannten und Freunde, zeigen meine Photographie vor, die genau der aus Freiburg geschickten gleicht, und forschen, wo ich sei. Daraus schließen meine Freunde, dass die russische Regierung bereits auf der Fährte sei, wer sich unter dem Namen Buligin verbirgt, und wenn meine Haft noch länger dauern sollte, so sei mit Sicherheit zu erwarten, dass mein wirklicher Name in Erfahrung gebracht werde.
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