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Der Rechtsanwalt

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Der Rechtsanwalt

Ich erwartete, dort Professor Thun zu finden, und war erstaunt, als ich einem mir gänzlich unbekannten Manne gegenüberstand. Er nannte mir seinen Namen, der mir leider jetzt entfallen ist, und teilte mir mit, er sei Rechtsanwalt, und meine Freunde hätten ihn aufgefordert, meine Verteidigung zu führen; er gerierte sich sofort als Mitglied der deutschen Sozialdemokratie, als Parteigenosse und forderte mich auf, ganz offen gegen ihn zu sein, da meine Freunde ihm bereits alles, was meine Vergangenheit anbetreffe, erzählt hätten.

„Sie wollen einen Fluchtversuch unternehmen?“ fragte er mich im Flüsterton, und als ich bejahte, erwiderte er eifrig: „Das wäre ein unverzeihlicher Schritt Ihrerseits! Ich habe soeben die Akten eingesehen. Ihre Sache steht sehr günstig, und ich zweifle nicht, dass man Sie bald freilässt. Warum wollen Sie sich der Gefahr einer Flucht aussetzen? Misslingt der Versuch, dann verschlimmern Sie Ihre Lage bedeutend. Ich habe auch mit dem Untersuchungsrichter gesprochen; er ist überzeugt, dass nichts von Bedeutung gegen Sie vorliegt. Sobald die Recherchen über Ihre Personalien in der Schweiz ein günstiges Resultat ergeben, wird man Sie freilassen.“

„Nun, und wenn man gleichzeitig Recherchen über meine Personalien in Russland anstellt?“ wendete ich ein.

„Es liegt nicht der geringste Grund für eine solche Annahme vor“, erwiderte der Jurist. „Ein solches Vorhaben müsste doch auf irgendeine Weise sich bemerkbar machen. Wir haben doch schließlich hier in Deutschland nicht russische Zustände, das Verfahren ist nicht geheim. Im Gegenteil, das Gesetz bestimmt, dass die Untersuchung nicht geheim gehalten werden darf, und mir, als Ihrem Rechtsbeistand, sind anstandslos alle Akten in Ihrer Angelegenheit ausgeliefert worden. Es müsste also in diesen Akten irgendwo erwähnt sein, dass man sich mit Russland verständigen wolle. Bei unserem Prozessverfahren ist es absolut ausgeschlossen, dass eine derart komplizierte Erhebung geheim bleiben sollte.“

„Ja“, warf ich ein, „woher haben Sie aber die Gewissheit, dass nicht die Gerichtsbehörde, wohl aber die administrativen oder politischen Behörden unterdessen mit den russischen sich ins Einvernehmen setzen?“

„Verwaltung und Polizei dürfen sich in Deutschland nicht unaufgefordert in Gerichtssachen mischen. Sie wurden verhaftet, weil Gründe für die Annahme vorlagen, dass Sie in Beziehung mit Personen stehen, die in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden; sind Sie jedoch einmal freigesprochen – und weder ich noch der Untersuchungsrichter haben den geringsten Zweifel, dass man Sie freispricht –, so werden Sie unbedingt entlassen; es handelt sich einzig um die Bestätigung Ihrer Personalien in der Schweiz. Sie können sich darauf verlassen: als deutscher Jurist kenne ich doch unser Gesetz und Gerichtsverfahren; Sie dagegen urteilen auf Grund der russischen Zustände, die aber absolut andere sind.“

Zwar sagte mir eine innere Stimme, dass der deutschen Gesetzmäßigkeit nicht so ganz zu trauen sei, aber Vernunftgründe hatte ich nicht zur Verfügung, da mir ja in der Tat die deutschen Verhältnisse gänzlich fremd waren, und ein Fluchtversuch, wenn auch in der ersten Zeit leicht zu bewerkstelligen, schloss doch immerhin ein bedeutendes Risiko ein; niemand konnte für den Ausgang garantieren. Diese Erwägungen führten mich dazu, die Fluchtpläne zwar nicht ganz aufzugeben, aber doch zu verschieben, bis Beweise vorlagen, dass die deutschen Behörden sich über meine Person mit der russischen Regierung ins Einvernehmen setzten. Es schien, dass derartige Schritte mir nicht verborgen bleiben würden, hatte ich doch den angesehenen und einflussreichen Professor Thun auf meiner Seite, zu dem die Freiburger und badischen Behörden in besten Beziehungen standen; es musste also gelingen, durch ihn Nachricht zu erhalten, ob und was gegen mich geplant war.

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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

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