Читать книгу Die Schule - Leon Grüne - Страница 11
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ОглавлениеDer restliche Nachmittag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Zoe und David aßen Pfannkuchen mit Erdbeeren und Ahornsirup, während sie sich auf dem Sofa sitzend „Frozen“ ansahen. Etwas unpassend für die Jahreszeit, fand David, aber das störte Zoe nicht. Ihr Glas Kool Aid hatte sie nicht bekommen. Stattdessen hielt sie nun ein Glas Orangensaft, den sie durch einen blauen Strohhalm trank, in der Hand und schaute gebannt zu, wie Anna und Kristoff sich grade auf dem Bildschirm küssten. David kannte die Szene in und auswendig. Schließlich sahen sie sich den Film gefühlt jede Woche an, da Zoe auch nicht bereit war, mal etwas Neues auszuprobieren. Sie hing etwas in dem Wunschdenken fest, dass sie eines Tages als Anna in David ihren Kristoff finden würde. Doch so lange sich dieser Wunsch nicht erfüllt hatte, blieb ihr nur der sehnsüchtige Blick auf den Fernseher und ihre Fantasie. Der Abspann des Filmes begann und David schaltete den Fernseher aus.
„Nochmal“, sagte sie müde und begann zu gähnen. Mittlerweile war es viertel nach sechs geworden.
„Oh Nein“, lachte David und nahm ihr das Glas aus der Hand, um es auf den Tisch zu stellen.
„Du musst gleich nach Hause und dann bald ins Bett, so müde wie du bist“, erklärte er ihr und stupste mit einem Finger ihre Nase an.
„Bin nicht müde“, entgegnete sie ihm empört und richtete sich aus ihrer liegenden Pose über seinem linken Oberschenkel wieder auf.
„Natürlich nicht.“ Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„David?“
„Ja, Zoe? Was ist?“
„Wirst du in den Ferien hier sein?“, fragte sie und kletterte auf seinen Schoß.
„Nicht jeden Tag, aber im Großen und Ganzen, ja. Wieso fragst du?“ Er griff ihr unter die Arme und half ihr auf seinen Schoß zu kommen. Sie zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht. Ich will nicht, dass du weg gehst. Du sollst hier bei mir bleiben. Dann beschütze ich dich“, erklärte sie ihm und lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust an.
„Wie meinst du das?“ David sah sie amüsiert und zugleich verwundert an.
„Was macht ein Pirat mit seinem Schatz?“
„Er vergräbt ihn.“
„Und warum?“, fragte Zoe weiter.
„Ach so. Ich bin dein Schatz, den du vergräbst, damit andere Piraten ihn dir nicht klauen können?“, fragte David, der verstanden hatte, worauf sie hinaus wollte. Sie hatte Angst jemand könnte sie ersetzen, wenn er längere Zeit nicht in ihrer Nähe wäre. Statt etwas zu sagen nickte sie stumm und sah ihn traurig mit ihren großen dunkelbraunen Augen an.
„Mach dir keine Sorgen, meine Große. Du hast mich schon so tief vergraben, dass mich garantiert keiner finden wird“, beschwichtige er sie und streichelte ihre blonden Haare. Ihr trauriger Blick verschwand und machte einem freudestrahlendem Lächeln Platz. Seine Antwort schien sie zufriedenzustellen. Zoe drehte sich in einer etwas schwankenden Bewegung herum und umarmte ihn mit ganzer Kraft und schmiegte sich dabei eng an seine Brust. Davids Blick wanderte zu der Wanduhr aus Eichenholz, die sich an der Wand rechts vom Sofa befand. Sie zeigte zwanzig nach sechs an. Beziehungsweise sollte sie das. Um genau zu sein, zeigte sie eigentlich gar nichts mehr an. Der kleine Zeiger war bei irgendeinem Frühlingsputz abgefallen und nicht mehr aufgetaucht. Lediglich der große Minutenzeiger befand sich noch an der Uhr und funktionierte, wie er es auch sollte. Davids Mutter hatte sie jedoch nie reparieren wollen, da sie Sorge hatte, dass sie dabei beschädigt werden könnte. Deswegen ließ sie sie dort einfach ohne Stundenzeiger hängen. Eigentlich wäre es nicht dramatisch, weil sie ja auch so noch wunderschön – potthässlich würde es besser treffen – sei und dem Raum das gewisse Etwas verleihen würde. Dass das gewisse Etwas in diesem Fall die Wirkung eines Fremdkörpers im Auge hatte, kümmerte sie nicht. Denn dafür, dass sie die Uhr eigentlich so schön fand, sah sie den traurigen Kreis aus Eichenholz mit nur einem Zeiger ziemlich selten an.
„Trink deinen Saft aus und dann bringe ich dich nach Hause“, sagte David und streichelte ihr über den Rücken. Er fühlte den warmen Schweiß durch den dünnen Stoff des T-Shirts hindurch. Sie würde nachher - wenn sie sie nicht schon jetzt hatte - fürchterliche Kopfschmerzen bekommen, dachte er sich. Sie hatte definitiv mehr Flüssigkeit verloren, als sie aufgenommen hatte. Sie kletterte von seinem Schoß hinunter und griff nach dem Glas, das auf der Glasplatte des Couchtisches stand. David erhob sich und stapelte die Teller, von denen sie vorhin gegessen hatten, um sie in die Spüle zu stellen. Das Abwaschen würde er auch erledigen können, wenn er wieder da war. Als er die Teller in die Spüle gestellt hatte, bedeckte er die übrig gebliebenen Pfannkuchen mit einer Plastikhaube, um sie vor Insekten zu schützen. Er hatte die Hoffnung, dass die schlechte Laune seiner Mutter verfliegen würde, wenn er ihr nachher – aus reiner Herzensgüte versteht sich – die restlichen drei Pfannkuchen anbieten würde.
„Fertig“, verkündete Zoe müde, aber auch stolz und reckte ihr leeres Glas mit dem zerkauten Strohhalm in die Höhe.
„Sehr schön, bringst du mir das Glas noch kurz?“, fragte er sie freundlich, während er noch mit dem Gedanken beschäftigt war, wie er seine Mutter am besten besänftigen konnte, ohne dass er sich entschuldigen musste. Grade, als er gedankenversunken den Wasserhahn aufdrehte um den klebrigen Ahornsirup von den Tellern grob zu lösen, klirrte hinter ihm Zoes Glas, in dem sich noch ein Bodensatz Saft befand, auf den harten Fliesen. Erschrocken zuckte David zusammen und fuhr herum. Zoe hockte bereits auf dem Boden, im Begriff die Scherben aufzuheben. Doch bevor er sie warnen konnte, war es schon zu spät. Ihre Hand und die gut vier Zentimeter lange Glasscherbe färbten sich rot. Blut rann aus ihrer Handfläche und tropfte auf den Boden zwischen die Reste des zersplitterten Trinkgefäßes. Sofort begann sie vor Schmerz zu schreien und zu weinen. Sie ließ die Scherbe, die die Form eines Halbmondes hatte, aus ihrer Hand fallen. In Windeseile schnappte David sich geistesgegenwärtig zwei Fixierbinden und eine sterile Kompresse aus dem Erste-Hilfe-Kasten, welchen seine Mutter, nach diversen Schnittverletzungen beim Kochen, in unmittelbarer Nähe zum Herd deponiert hatte. Man konnte ihr zwar vorwerfen, dass sie eine schlechte Mutter, eine Schlampe oder eine engstirnige Person sei, aber man konnte ihr keineswegs Vorwürfe machen, dass sie leichtfertig mit ihrer Sicherheit oder der ihrer Mitmenschen umgehen würde. Speziell aus diesem Grund war es mehr als nur merkwürdig, dass sie sich kaum um Bobby nach dessen Verschwinden, gesorgt hatte. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass er sich nicht mehr in ihrem Kontrollbereich befand. Schließlich kümmerte sie sich um die Sachen, die sie kontrollieren konnte, ganz besonders. Jedoch interessierten sie die Sachen, die außerhalb ihrer Reichweite waren, schon immer recht wenig.
„Was ist denn da unten los?“, tönte es vom oberen Treppenende herunter. David, der gemeinsam mit den Binden und der Wundkompresse die auf dem Boden sitzende Zoe erreicht hatte, hörte sie gar nicht. Er war viel zu konzentriert darauf Zoe schnellstmöglich einen Druckverband anzulegen. Der Schnitt des Glases war sauber und ziemlich tief, wie David feststellen musste. Ihre Hand war genau entlang der in der chinesischen Astrologie genannten „Head Line“ aufgeschnitten. Unter dem lauten Jaulen des kleinen Mädchens packte er eine der Binden aus und drückte die Kompresse auf die blutende Schnittwunde. Dann versuchte er in Windeseile die Technik, die ihm im Erste-Hilfe-Kurs beigebracht wurde, anzuwenden und wickelte die erste Binde drei Mal um ihre Hand. Als nächstes nahm er die andere verpackte Binde und drückte sie auf die Stelle, an der er die Kompresse bereits fixiert hatte und wickelte den Rest der Binde um sein sporadisches Druckpolster und verstaute das Ende in einer der entstandenen Falten. In der Zwischenzeit war auch Faye unten am Ort des Geschehens angelangt und beobachtete, wie David nun die blutige Scherbe vom Boden entfernte und sie in den Mülleimer warf.
„Ist ja gut Kleines. Ist alles in Ordnung. Es hört gleich auf zu bluten“, beruhigte David sie und nahm sie auf seinen Arm, wobei er sorgsam darauf achtete, dass er ihre linke Hand nicht bewegte. Ihre Tränen durchnässten den Ärmel seines T-Shirts und vermischten sich dort mit dem aus ihrer Nase laufendem Sekret. Vor dem Sofa blieb er stehen und setzte sie ab.
„Sieh mich an, meine Süße“, sagte er mit beruhigender Stimme während er sich vor sie hockte und begann ihren Kopf zu streicheln. Zoes Blick wanderte zu ihrer verletzten Hand. Sie schien kurz davor zu sein, einen weiteren Heulkrampf zu bekommen.
„Hey, ich bin hier oben“, riss David sie aus ihrem Tunnelblick. „Alles wird gut werden. Deiner Hand wird es bald besser gehen. Hab keine Angst, es blutet bald nicht mehr so schlimm.“
Doch seine beruhigenden Worte hatten keinen Einfluss auf sie. Sie schluchzte und weinte weiterhin in derselben Lautstärke wie zuvor. Im Hintergrund kehrte Faye die Scherben vom Boden auf. Eigentlich wollte sie David eine Szene machen, dass er sich doch gefälligst um sie kümmern sollte, jedoch konnte und wollte sie das nicht mehr, als sie gesehen hatte, dass er beinahe lehrbuchmäßig reagiert hatte. Es gab also keinen Grund, ihm einen Vorwurf zu machen. Ein erfahrener Sanitäter hätte zwar bemängelt, dass er Zoe nicht erklärt hatte, was er tun würde, um sie nicht zu verunsichern, aber sie wusste genau, dass das bei ihr auch nicht nötig war. Zoe vertraute ihm in jeder Situation blind und würde keine seiner Handlungen anzweifeln. Die Scherben klirrten, als sie im Mülleimer landeten.
„Es ist gar nicht viel Blut.“
Zoe hörte plötzlich auf zu schluchzen.
„Keine Sorge. Es wird dir gut gehen, meine Kleine“, fuhr er fort in dem Glauben, sie damit weiter von der Verletzung an ihrer Hand ablenken zu können. Das tat er auch. Die Angst und die Schmerzen ihrer Wunde waren vergessen. Jedoch weckten seine Worte eine neue noch viel größere Angst in ihr. Sie wusste nicht wieso und wollte es auch nicht wissen. Alles was sie wusste war, dass das, was er sagte, ihr mehr Angst einjagte als der Schnitt, der sich durch ihre linke Hand zog.
„Was ist passiert?“, unterbrach seine Mutter ihn. Beide sahen zu ihr auf. Ihre Haare waren zerzaust und klebten an ihrer schweißnassen Stirn.
„Ich hab ein Glas fallen gelassen, und sie hat sich an einer Scherbe geschnitten, weil sie helfen wollte“, log er ihr vor, um Zoe vor seiner Mutter zu schützen. Er konnte jetzt keine wütende Faye Williams gebrauchen, die der ohnehin schon eingeschüchterten Zoe sinnlos noch mehr Angst einjagen würde. Zu seiner Überraschung wurde sie aber nicht wütend. Weder auf ihn noch auf sie. Im Gegenteil. Sie schien beruhigt zu sein. Beruhigt, weil ihr Sohn ohne sarkastische oder beleidigende Bemerkungen mit ihr geredet hatte. Das kaputte Glas war nun eher sekundär in ihren Augen. Auch sie begann, Zoe zur Beruhigung leicht an der Schulter zu streicheln. Hilfesuchend sah Zoe, die auf dem hellbraunen Ecksofa saß, Faye an.
„Es verheilt bald wieder“, tröstete sie das kleine Mädchen und schenkte ihr ein freundliches Lächeln.
„Ich bringe sie besser mal nach Hause“, meinte David und sah seine Mutter in der Hoffnung auf Zustimmung an. Sie nickte verständnisvoll und streichelte ein letztes Mal Zoes Schulter.
„Wollen wir dich zu deiner Mom bringen?“ Sofort bejahte sie seine Frage. Nichts war ihr lieber, als nach Hause zu ihrer Mutter zu gehen, die sich vermutlich vollkommen überarbeitet um den Haushalt kümmerte, während ihr Vater mit einem Bier in der Hand auf dem alten blassgelben Gartenstuhl sitzen und ein Sportmagazin nach dem nächsten durchblättern würde. Ihm wäre es egal, ob sie wieder da wäre oder nicht, doch ihre Mutter würde sich sicher freuen, ihr kleines Mädchen wiederzusehen, bevor sie zu ihrem nächsten Job müsste. Schließlich arbeitete ihr Mann nicht mehr, seit er vor einigen Jahren wegen seinen Rücken- und Schulterproblemen von seinem Arbeitgeber gefeuert worden war. Seitdem hatte er nicht einmal versucht, sich eine neue Arbeitsstelle zu beschaffen, geschweige denn irgendwie anderweitig Geld zu verdienen. Er gab lieber das Geld, das seine Frau verdiente, für Alkohol, Zeitschriften und diverse Sportwetten aus. Wirklich Erfolg hatte er damit aber bisher noch nicht gehabt.
„Irgendwann wird er kommen, Sarah! Der große Coup! Der Tag, an dem ich mit einer Wette endlich abkassiere und keiner von uns mehr arbeiten muss. Vertrau mir! Ich brauche nur noch etwas Geld, um die Wetten zu finanzieren“, hatte er sie jedes Mal angebettelt nach einer vergeigten Wette und sie jedes Mal überzeugen können. Trotz seiner schlecht platzierten Wetten und seinem verschwenderischen Umgang mit dem Geld, das ihm formal nicht einmal gehörte, schlug sie ihm nie einen Wunsch ab. Ihre blinde Vernarrtheit in sein früheres Ich, das noch Erfolg im Leben hatte und sich nicht mittags um zwölf seine erste Dose Bier öffnete, war das Fundament ihrer Ehe. Früher einmal galt er als gefragter Security bei höheren Anlässen und war auf dem besten Weg, nach ganz oben aufzusteigen. Doch eines Tages nahmen seine körperlichen Beschwerden überhand, und er bekam noch im Krankenhaus sein Kündigungsschreiben. Einen physisch eingeschränkten Security konnte man schließlich nicht gebrauchen. Ein paar wenige Male hatte er versucht, als Türsteher bei einem miesen Nachtclub wieder den qualifizierten Security zu mimen, doch bereits die erste Auseinandersetzung machte sein Rücken nicht mehr mit, und er gab das Security-Dasein auf. Von dem Tag an saß er zuhause rum und vertrieb sich die Zeit mit Trübsal blasen und eine Dose Budweiser nach der nächsten in sich hinein zu kippen. Wie jeder andere in dem kleinen Dorf hatte also auch er eine Geschichte, die nicht als Komödie sondern als Tragödie zu erzählen war.
Zoe erhob sich leicht schniefend vom Sofa und versuchte, in ihre halboffenen zitronengelben Schuhe einzusteigen.
„Warte, ich helf dir“, bat David ihr an und weitete die Schuhe mit beiden Händen, um ihr den Einstieg zu erleichtern. Langsam steckte sie erst ihren rechten und dann ihren linken Fuß in die Schuhe, welche David dann mit dem vorhandenen Klettverschluss schloss.
„Bin gleich wieder da, Mom“, verabschiedete er sich kurz angebunden und zog sich nun auch seine Skechers an.
„Ich sauge die übrigen Splitter in der Zeit weg“, sagte sie, und ein Hauch von Zufriedenheit mischte sich in ihren Satz ein. Der Stolz darauf, wie ihr Ältester reagiert hatte, schien noch etwas vorzuhalten.
„Danke“, erwiderte er trocken und öffnete Zoe, der es immer noch aus Angst die Sprache verschlagen hatte, die Tür. Dann verließen sie gemeinsam das Haus und ließen eine unentschlossene Faye zurück, die sich im Unklaren war, ob sie es übers Herz bringen würde, ihren Sohn weg zu schicken. Wäre es ein ganz normaler Ort an den sie ihn schicken würde, würde ihr die Entscheidung leicht fallen. Aber da man so allerhand hörte und mitbekam von anderen Eltern, war die Wahrscheinlichkeit nicht sonderlich hoch, dass er je zurückkehren würde. Sie holte den Staubsauger aus der Besenkammer und dachte nicht weiter über diese Frage nach, sondern beschäftigte sich mit der Problematik, wie sie, ohne sich Socken oder Schuhe holen zu müssen, nicht in die kleinen Splitter trat, die die Größe eines Reiskorns hatten und weit auf dem Boden verstreut lagen.