Читать книгу Die Schule - Leon Grüne - Страница 21
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ОглавлениеGegen zehn Minuten vor eins, fast exakt eine Stunde später, rollte der schwarze Chevrolet Orlando mit gedrosseltem Tempo in die letzte Straße des Dorfes namens Reggieland, das sich etwa eine halbe Stunde nördlich von Weed befand. Die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, unterschieden sich kaum voneinander. Trüb und grau standen sie säuberlich, in gegenüberliegenden Reihen, parallel zueinander. Man konnte meinen, man befände sich in einem der ersten Farbfilme, in denen selbst die grellsten Farben nicht mehr als ein Farbstich zu sein schienen. Die Bewohner hingegen waren alles andere als grau und trüb. Viele Familien saßen auf den Terrassen beisammen und frühstückten gemeinsam. Kinder tollten durch die Gärten, jagten ihren Bällen nach oder malten Bilder mit Kreide auf die Pflastersteine ihrer Auffahrt. Es war eben genau so, wie man sich nun mal ein Dorf an einem idyllischen und warmen Sonntag zu Beginn der Sommerferien vorstellen würde. Das Auto, in welchem sich Faye und David befanden, kam vor einem Schild am Ende der Straße zum Stehen. Ein weites goldenes Rapsfeld erstreckte sich vor ihnen, als wäre es aus einem Bilderbuch entsprungen. Das Schild zu ihrer Rechten war weiß angestrichen worden. Die herunterlaufenden Farbtropfen waren getrocknet und erhoben sich von dem Holz wie die Akne auf dem Gesicht eines Teenagers.
„Lauriea Summer School“, stand darauf in schwarzen Buchstaben geschrieben. Jedoch war von einer Schule, geschweige denn von irgendeinem Gebäude, welches kein normales Wohnhaus war, weit und breit nichts zu sehen. Hinter dem Schild befand sich ein steiniger und erdiger Weg, welcher gradewegs in den Wald führte, der etwa zweihundert Meter entfernt vom freudigen Dorfleben begann.
„Da wären wir“, verkündete Faye und begutachtete zuerst das Schild und dann den Wald.
„Bist du dir sicher?“, fragte David ungläubig und musterte die Umgebung. Alles in dem Dorf wirkte so natürlich und verständlich, dass es ihm fast wie eine Lüge vorkam, die ihnen vorgespielt wurde.
„Natürlich. Dort steht es doch. Lauriea Summer School.“
„Und wo ist sie dann bitte?“
„Ah, sieh mal da ist jemand“, bemerkte seine Mutter den Mann, der aus dem Wald herauskam und ihnen zuwinkte. Nun sah auch David ihn. Wie auf Wolken spazierte der junge Mann den Weg zu ihrem Auto entlang. Das laute Geräusch der zufallenden Autotüren verzerrte die Idylle und Ruhe des Dorfes für einen Augenblick. Die Familie, die scheinbar das letzte Haus am Straßenende bewohnte, blickte empört von ihrem reich gedeckten Tisch auf. Pancakes mit Sirup und Früchten stapelten sich über gebratenen Speck, frisch gekochten Eiern, altem Cheddar und diversen anderen Köstlichkeiten, deren Geruch David in die Nase stieg.
Mittlerweile hatte der Mann die Hälfte der Strecke zurückgelegt und war nun durchaus besser zu erkennen. Trotz der Hitze hatte er die untersten zwei Knöpfe seines rosa Polohemdes zugeknöpft und trug eine lange, verblichene Jeanshose. Seine braunen Haare waren zu einem klassischen Undercut frisiert worden und passten wie die Faust aufs Auge zu seinem ebenfalls braunen Vollbart. An seinem rechten Arm trug er, zusätzlich zu einer dunklen Uhr, mehrere schwarze Leder- und Stoffarmbänder. David öffnete den Kofferraum des Autos und holte seinen Koffer und seinen Rucksack daraus hervor. Mit einem lauten Knall schloss er ihn, was einen weiteren bösen Blick der Familie hinter ihm zur Folge hatte.
„Hallo. Ich bin Mr. Brenner, ich bin von der Schule“, stellte der Mann sich aus knapp zehn Meter Entfernung vor und deutete auf das weiße Schild.
„Ich bin Ms. Williams“, entgegnete Faye freundlich und reichte ihm die Hand.
„Ist mir eine Freude“, schmeichelte er und schenkte ihr ein warmes Lächeln, das sie erwiderte.
„Du bist vermutlich David, nicht wahr?“, fragte er und reichte auch ihm die Hand.
„Ja, Sir“, antwortete er höflich und schüttelte seine Hand. Sein Händedruck war fest und hinterließ weiße Flecken auf Davids Hand.
„Haben Sie eine gute Fahrt gehabt? Ich hoffe, die Wegbeschreibung war nicht allzu katastrophal. Es verfahren sich leider andauernd Eltern auf dem Weg hierher.“
„Tatsächlich?“, fragte Davids Mutter überrascht.
„Oh ja, leider schon. Meist haben wir fünf bis zehn Schüler weniger, als uns eigentlich angekündigt wurden, weil viele einfach nicht herfinden“, erklärte Mr. Brenner.
„Nun, also an Ihrer Wegbeschreibung liegt es jedenfalls nicht, wenn Sie mich fragen“, versicherte Faye ihm mit einem zuckersüßen Lächeln auf den Lippen. David drehte sich der Magen um. Er kannte ihr Lächeln genau und wusste, dass sie es meistens nur dann aufsetzte, wenn sie etwas haben wollte. Und in diesem Fall schien es der attraktive Mr. Brenner zu sein, den sie wollte.
„Verzeihung, Mr. Brenner?“, unterbrach der offensichtliche Familienvater des Hauses hinter ihnen die fröhliche Stimmung.
„Ja, Mr. Clarke?“, entgegnete er dem leicht korpulenten Mann, der ein beige, blau gestreiftes Leinenstrukturhemd trug.
„Ich möchte Sie freundlichst daran erinnern, dass es hier auch Bürger gibt, die ihren wohlverdienten Sonntag mit einer gewissen Ruhe verbringen möchten“, legte ihm Mr. Clarke nahe.
„Aber natürlich, ich bitte um Verzeihung. Ich versichere Ihnen, dass ich mich gleich wieder auf den Weg machen werde“, entschuldigte sich Mr. Brenner aufrichtig.
„Tun Sie das. Und Sie, gnädige Frau, bitte ich auch darum, sich möglichst leise zu entfernen“, wandte er sich nun Ms. Williams zu. Genervt rollte sie mit den Augen und stöhnte leise auf. Innerlich dankte David dem schlecht gelaunten Mann, der sich grade ein gewaltiges Stück des Cheddars abschnitt und genüsslich verspeiste, dass er den Verführungsversuch seiner Mutter unterbrochen hatte.
„Bis dann, mein Großer.“
Sie nahm ihn herzlich in den Arm und drückte ihn fest an sich. Er erwiderte ihre Umarmung und drückte sie ebenfalls fest.
„Pass auf dich auf.“
„Werde ich Mom, keine Sorge“, versprach er ihr.
„Ich ruf dich an, in Ordnung?“
Faye nickte in seine Schulter hinein.
„Ich hab dich lieb.“
Zum ersten Mal seit Jahren hatte er ihr das wieder sagen können, ohne dass es sich wie eine Lüge anfühlte.
„Ich dich auch“, erwiderte sie und drückte ihn noch einmal an sich, bevor sie ihn losließ.
„Bis dann, Mom.“
„Machs gut“, verabschiedete sie sich und drehte sich zu ihrem Auto um. Ihr Blick blieb an Mr. Clarke hängen.
„Haben Sie ein Problem?“, fragte er angesäuert.
„Wenn ich mir Sie so ansehe, Mister, merke ich eigentlich eher, dass ich ziemlich wenig Probleme habe, und es Menschen gibt, die es viel schlimmer haben“, entgegnete sie schlagfertig.
„Ein schönes Leben Ihnen noch, Mr. Clarke. So kurz es bei Ihren vermutlich längst verfetteten Organen auch sein wird.“
Empört stand er auf und blähte wutentbrannt seine Wangen auf, um etwas Schlagkräftiges zu erwidern. Doch ehe ihm ein passender Konterspruch eingefallen war, saß Faye schon in ihrem Chevrolet und startete den Motor. Sein Gesicht färbte sich vor Scham und Zorn gleichermaßen rot und stellte einen idealen Kontrast zu seinen grauen Koteletten dar, die ihm bis auf Höhe seiner Unterlippe reichten. David konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als Mr. Clarke sich auch, nachdem seine Mutter bereits weggefahren war, nicht setzen wollte. Beleidigt stand er an dem überfüllten Tisch auf seiner Terrasse und blickte ihr nach, als ob er immer noch etwas erwidern könnte und es jeden Moment aus ihm herausplatzen würde.
„Das findest du lustig, nicht wahr, du Bengel?“, meckerte er David an.
„Wenn ich ehrlich bin, schon“, gab er offen zu und musste noch stärker grinsen.
„Na warte, du Rotzlöffel!“
Er riss die Serviette aus dem Ausschnitt seines Hemdes und warf sie zornig auf seinen Teller. Doch bevor er den Tisch überhaupt wirklich verlassen konnte, ging Mr. Brenner dazwischen.
„Beruhigen Sie sich, Mr. Clarke. Sie wissen doch, wie das mit den Kindern ist. Sie denken nicht nach und sind nicht wirklich schlau, deswegen kommen sie ja zu uns. Ein gestandener Mann, wie Sie, steht da doch drüber, oder nicht?“ Einen kurzen Moment überlegte er, dann schien er sich wieder zu beruhigen.
„Sie haben natürlich Recht. Ich lasse mich nicht auf das Niveau dieser ungebildeten Proleten und Nichtskönner herab.“
Sein Gesicht nahm wieder eine normale gesunde Farbe an.
„Das weiß ich doch. Guten Tag, Mr. Clarke“, verabschiedete sich Mr. Brenner und hob seinen Arm. Der nun wieder beruhigte Mr. Clarke tat es ihm gleich und wünschte ihm ebenfalls einen guten Tag, bevor er sich wieder zu seiner Frau und seinen beiden Kindern an den Tisch setzte. Keiner von ihnen hatte während der Auseinandersetzung etwas gesagt oder versucht Partei für ihn zu ergreifen. Umso erfreuter waren sie, als David gemeinsam mit Mr. Brenner in Richtung des Waldes ging, und sie in Ruhe ohne weiteren Zwischenfall ihr Frühstück beenden konnten.