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Stille herrschte in dem Haus der Williams, als David die Eingangstür öffnete. Er zog seine Schuhe aus und stellte sie sorgfältig unter die Garderobe zu den High Heels seiner Mutter. Echte Markenschuhe aus schwarzem Leder von Christian Louboutin. Normalerweise standen sie in ihrem Kleiderschrank, damit sie bestmöglich vor Schmutz und anderen unschönen Verunreinigungen geschützt waren. Sie standen aus dem Grunde dort, weil Faye die letzte Nacht gemeinsam mit ihrer Cousine – der Direktorin von Davids High School – im Club, welcher sich etwas außerhalb des Dorfes befand, durchgetanzt hatte. Geschlafen, beziehungsweise gewartet, bis sie wieder halbwegs nüchtern und imstande gewesen war, sich auf den Heimweg zu begeben, hatte sie bei ihrer Cousine, die nur einen knappen Kilometer von dem Club entfernt wohnte. Praktisch, wenn man Single war und keine anderen Interessen hatte, außer sich zu besaufen und sich auf der Tanzfläche einen attraktiven – oder auch weniger attraktiven, was machte das schon, wenn man sternhagelvoll war - Mann zu suchen und mit diesem im Besten Falle schnell nach Hause ins heimische Bett steigen zu können. Als Faye gegen neun Uhr zuhause angelangt war, kümmerten sie die Schuhe keinesfalls mehr. Sie wollte nur noch ins Bett und ihren Rausch ausschlafen können. Nachdem David seine Schuhe ausgezogen hatte, begab er sich in die Küche und öffnete den Tiefkühlschrank. Sofort spürte er die Kälte, die er abgab und seine überhitzte Haut zumindest kurzfristig auf eine angenehme Temperatur herunterkühlte. Er öffnete das Mittlere der fünf Fächer und holte einen Beutel heraus, in welchem sich eine Mischung aus diversen tiefgefrorenen Waldbeeren befand. Das gesamte Fach war bis oben hin gefüllt mit den blauen Plastikbeuteln. Eigentlich war fast der gesamte Tiefkühler gefüllt mit gefrorenen Früchten und Beeren jeder Art. Die Ausnahme stellten ein paar „Ben & Jerry’s Cookie Dough“ Eisbecher in der obersten Schublade dar. Faye hatte sie sich nach Pauls Trennung gekauft, um klischeehaft gegen den Frust und die Trauer anzuessen. Jedoch hatte sie bereits bei dem ersten Becher nach der Hälfte aufgehört, zu essen und somit das Drama beendet. Seitdem standen die übrigen zwei Eisbecher dort unberührt. Auch David wollte sie nicht anrühren, da sie ihm erstens einfach viel zu süß waren, und zweitens wurde sein persönliches Numbing selbst durch diese Masse aus Zucker, Vanilleextrakt, Kakao und Eiern ausgelöst. Zwar würde kein Psychologe der Welt es wirklich als Numbing in der Situation bezeichnen, sondern als Assoziierung mit einem schmerzlichen und bisher unverarbeiteten Ereignis kennzeichnen, aber dieses Wort verfolgte ihn immer und überall. Numbing war der Grund für seine zerrüttete Familie, somit gehörte es auch ein Stück weit zu ihm.

David drückte die Packung mit den Beeren auf sein linkes Auge, welches vor wenigen Minuten der betrunkene und gefrustete Cal Hillton versucht hatte, zu malträtieren. Inzwischen war es etwas angeschwollen und färbte sich bereits unter dem Augapfel leicht bläulich. Mit Schwung warf er die Tür zu.

„So eine Scheiße!“, brüllte er sich selbst an und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Küchenablage auf. Der gesamte Tag war ein einziges Desaster, und mittlerweile war er noch gereizter als heute Nachmittag, als seine vom Feiern übermüdete Mutter ihn aufgefordert hatte, sich für sein Verhalten und seine berechtigten Kommentare zu entschuldigen.

„Schatz, was ist los?“, fragte seine Mutter, die um die Ecke kam und immer noch dasselbe Outfit wie vor einigen Stunden trug.

„Wonach sieht es denn aus?“, entgegnete er genervt und starrte die blassgelbe Küchenwand vor sich an.

„Was meinst du?“ Verbittert erhob er sich aus seiner gebeugten Position und offenbarte seiner Mutter sein wachsendes Veilchen am linken Auge.

„David, was ist passiert?“, fragte sie erschrocken, „Bist du dem Abhängigen über den Weg gelaufen? Hat er dir das angetan?“

„Verdammte Scheiße, Nein! Lass doch endlich Trae aus deinen Fantasien raus, Mom!“, brüllte er ihr wütend entgegen und stützte sich wieder mit den Ellenbogen auf der Ablage auf. Seine Mutter war zwar verärgert über seinen Ausbruch, brachte dem jedoch nichts entgegen, da sie selbst wusste, dass es ungerecht war, direkt auf Trae zu schließen. Schließlich macht der Drogenkonsum einen Menschen nicht automatisch zum Schläger oder zu einem schlechten Menschen.

„Mr. Hillton hat mich geschlagen. Er war betrunken und dachte, ich hätte Zoe verletzt und sie absichtlich mit einer Glasscherbe geschnitten. Er hält mich für irgend so einen Pädophilen, glaube ich, der seine Tochter anfasst und irgendwelche kranken Fetische an ihr ausüben würde“, erklärte er seiner Mutter mit gedrosselter Lautstärke. Wie erwartet reagierte seine Mutter nicht. Alles, was sie tat, war ihm sanft den Arm um die Schulter zu legen. Keine tröstenden Worte oder eine Empörung über sein Verhalten. Einfach nur ihr Arm und seine Schulter. Genau wie früher schon, war sie unfassbar schlecht darin eine Mutter zu sein und sich wie eine zu verhalten. Sie scheute sich nicht einmal davor, ihr Desinteresse offen zu zeigen. Der einzige Versuch, einen Hauch an Interesse vorzutäuschen, bestand darin, dass sie sich überhaupt dazu herabließ, ihn zu fragen, was passiert sei.

„Wie ist es ausgegangen?“, erkundigte sie sich, wobei die Frage nach dem Ausgang der Situation aus ihrem Munde so klang, als würde sie nach den Ergebnissen vom Sport fragen, und nicht nach der körperlichen Auseinandersetzung ihres Sohnes mit dem betrunkenen Mr. Hillton.

„Ich habe versucht, mich zu wehren“, erzählte er.

„Ich habe ihm einen Kinnhaken verpasst. Er fiel hin und musste sich übergeben. Ich habe ihm scheinbar einen Zahn ausgeschlagen, jedenfalls hat er ein Stück davon ausgespuckt.“

Enttäuscht von sich selbst senkte er den Blick. Sein Vater hatte ihm früher beigebracht, dass, wenn jemand ihm auf die Wange schlägt, er auch die andere hinhalten solle. Er hatte gesagt, dass das eine von Jesus‘ Lehren aus der Bibel sei und er sich daran halten müsse und keinem Schaden zufügen dürfte, schließlich sei er ein guter Christ, was er in Wirklichkeit ganz und gar nicht war. Was er ihm jedoch nicht erzählt hatte, war, dass Jesus, wenn ein übergewichtiger, wütender Ex-Security auf ihn einschlagen würde, er sich diese Worte wahrscheinlich noch einmal gut überlegt hätte.

„Ich bin stolz auf dich“, sagte seine Mutter, womit sie erneut ihre Unfähigkeit bestätigte. Kein vernünftiges Elternteil würde seinem Sohn sagen, dass es stolz auf ihn wäre, wenn er einen Mann, der ihn geschlagen hatte, zurückgeschlagen hätte. Ein verständnisvolles „es war nicht deine Schuld, du hast dich schließlich nur gewehrt“ wäre die deutlich neutralere und pädagogisch wertvollere Aussage gewesen.

„Als ob du wüsstest, was es heißt, stolz auf mich zu sein“, entgegnete er ihr schlagkräftig und entzog sich ihrer Umarmung.

„Was soll das schon wieder heißen?“, fragte Faye aufgebracht.

„Sag mal, ist eigentlich alles, was ich sage, so ein großes Rätsel für dich?“

Seine Mutter reagierte nicht.

„Du hast doch keine Ahnung was es heißt stolz zu sein! Was du als Stolz bezeichnest, ist einfach nur deine Ignoranz und deine elende Vorstellung, alles zu wissen und jedem etwas vormachen zu können!“ Während er seine Schimpftirade hielt, entfernte er sich immer weiter von ihr, wobei er ihr jedoch weiterhin in die Augen sah. Er wollte, dass sie sah, wie ernst es ihm war. Ansonsten würde sie wieder mithilfe ihrer Klatschblattweisheiten schlussfolgern, dass er, wenn er sich von ihr abwendete, einfach zeigte, dass er verletzt wäre. Dies müsste dann nicht einmal auf sie zurückzuführen sein, hatte sie gelesen. Jedenfalls redete sie sich das ein, denn in Wahrheit hatte sie noch nirgendwo gelesen, dass der Angesprochene somit von jeder Schuld ausgenommen werden konnte.

„Toll, dass du dem Nachbarsjungen den Ball gestohlen hast, weil er ihn ausversehen auf unser Grundstück geschossen hat. Gut gemacht, ich bin stolz auf dich! Ja, wie wunderbar, dass du zugesehen hast, wie ein Kind, das neu an der High School war, von vier Jungen, die drei Jahre jünger als du sind, verprügelt wurde und nichts getan hast! Das hast du erstklassig gemacht! Super, dass du Mr. Hillton einen Zahn ausgeschlagen hast, weil man ja Schläge mit Schlägen vergelten soll! Noch besser wäre es gewesen, wenn er jetzt im Krankenhaus liegen würde, denn dann könnte ich noch viel stolzer auf dich sein!“, imitierte er lauthals seine Mutter. Doch dann geschah etwas, was er seit der Scheidung seiner Eltern nicht mehr gesehen hatte. Sie begann zu weinen. Nicht schluchzend oder irgendwie hörbar, aber man konnte beobachten wie einzelne, glänzende Tränen ihre Wangen hinunterkullerten. Jetzt drehte David sich doch von seiner Mutter weg und wagte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Er hatte Sorge ein schlechtes Gewissen zu bekommen, nur, weil er das ausgesprochen hatte, was er schon längst hätte aussprechen sollen. Der Knoten war gewissermaßen geplatzt. Nach mehreren Jahren vergeblicher Liebesmüh, seiner Mom auf irgendeine Weise beizubringen, dass sie als Mutter ein einziger Katastrophenfall war, hatte er es nun nach diesem mehr als entnervenden Tag vollbracht, es ihr offen ins Gesicht zu schmettern. Aber er durfte jetzt nicht einlenken, denn wenn er das täte, dann würde sie es ganz einfach überspielen und vergessen lassen. Genau jetzt war der Zeitpunkt, reinen Tisch zu machen. Doch wozu noch? In nicht allzu langer Zeit würde er hier verschwinden und sich sein eigenes Leben aufbauen, fernab von alledem was ihn hier nur bedrückte. Er entschied sich, es nicht als Vorwurf oder beleidigend weiterführen zu wollen, sondern ihr es als Rat und Bitte für die Zukunft offenzulegen.

„Du hast mir nie irgendwelche Regeln aufgestellt oder mir gesagt, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Du hast mich nie wirklich erzogen. Du hast dich nie für das interessiert, was ich getan habe oder für das, was Bobby getan hat als er noch da war. Du hast dich nie für einen von uns beiden interessiert. Nie habe ich mich mit dir über meine Probleme aussprechen können, nie habe ich etwas Zuneigung oder Aufmerksamkeit von dir verlangt, weil du nie jemanden um dich wolltest, der auch nur eine Sekunde über seine eigenen Probleme sprechen wollte“, erzählte er ihr. David drehte sich erneut zu ihr um, um ihr in die Augen sehen zu können. Der Fluss an Tränen hatte nachgelassen und eine dünne glitzernde Spur auf ihren Wangen nach sich gezogen.

„Mom, was ich dir damit sagen will…“ Faye hob ihre Hand, um ihm zu signalisieren, dass er aufhören solle, weiter zu sprechen. Sie hatte sich genug Schwachsinn - welcher eigentlich keiner war - vorwerfen lassen müssen. Für sie war die Grenze nun lange überschritten. Ihre Entscheidung war gefallen. Nichts und niemand hätte sie nun noch umstimmen können.

„Das, was du sagst, verletzt mich sehr“, sprach sie mit gemäßigtem Ton und biss sich auf die Unterlippe.

„Du hast Recht. Das hier kann so nicht weitergehen.“

„Was meinst du damit?“ Jetzt war David derjenige, der nicht verstand, was vor sich ging.

„Wir brauchen eine Pause voneinander, um zu sehen, ob wir beide noch gemeinsam unter diesem Dach hier wohnen werden. Deswegen denke ich, brauchen wir etwas Abstand voneinander.“ Der Schock zeichnete sich deutlich in Davids Gesicht ab. Der Beutel mit den Tiefkühlbeeren entfernte sich langsam von seinem Auge und sank auf die Höhe seiner Hüfte herab. Er hatte mit vielem gerechnet. Aber mit Abstand? Ob sie noch gemeinsam wohnen werden? Er war erst 17 und noch gar nicht in der Lage, sich allein finanzieren zu können. Geschweige denn eine Wohnung oder einen einzigen Wocheneinkauf. Wie stellte sie sich das vor? Sollte er in seinem Auto leben? Oder bei Trae? Oder gar bei Zoe und ihrem Möchtegern Captain America von Vater? Das konnte einfach nicht ihr Ernst sein. Sie stritten zwar und waren kaum einer Meinung, doch würde sie ihn einfach so verstoßen?

„Du willst mich loswerden, stimmts?“

Die Wut stieg in ihm hoch. Nach all den Jahren, die sie es miteinander ausgehalten hatten, wollte sie ihn ausgerechnet dann loswerden, als er grade versuchte, etwas zu ihr zurückzufinden.

„Hör auf, David! Stell nicht immer mich als die Böse hin! Das ist auf deinen Mist gewachsen, und du hast es selbst zu verantworten! Akzeptier deine Fehler!“

„Ich soll meine Fehler akzeptieren? Und wieso tust du es dann nicht und gibst einfach zu, dass du versagt hast? Du hast Dad verscheucht! Bobby ist wegen dir abgehauen, und du hast noch nicht einmal versucht, ihn zu finden! Und jetzt brauchst du nur noch mich loswerden, und dann hast du es geschafft. Wenn ich weg bin, hast du dein Triple an verjagten Männern komplettiert. Dann kannst du für den Rest deines Lebens auf dem Sofa liegen und einen nach dem Nächsten zusehen, wie er angekrochen kommt, um sich dann doch abservieren zu lassen. Wieder und wieder.“

Sein Ausdruck von Schock war aus seinem Gesicht gewichen und hatte seinem Zorn die gesamte Kontrolle übergeben. Wie angewurzelt stand Faye einfach nur da, unfähig etwas auf Davids Wörterschwall zu erwidern.

„So denkst du über mich?“, quetschte sie mit aller Mühe doch noch aus ihrem scheinbar zugeschweißten Mund heraus. Diesmal würdigte David ihrer Frage keine Antwort. Langsam kam er auf sie zu.

„Was hast du vor? Wie sieht deine tolle Pause aus?“, fragte er mit sarkastischem Unterton. Faye atmete tief durch. Ein langer Atemzug, dann drehte sie sich um und verließ die Küche.

„Pff“, schnaubte David verächtlich und drückte sich die Tüte erneut auf sein angeschwollenes Auge. Doch anstatt, dass sie vor der Antwort flüchtete, kam sie wenige Sekunden später mit einem Zettel in der Hand zurück.

„Lauriea Summer School“, sagte sie emotionslos und legte ihm den Zettel auf den Ebenholztisch hinter ihm.

„Das ist unsere Pause. Du wirst die Ferien dort verbringen.“

Ein Lächeln bildete sich auf Davids Lippen.

Eine Sommerschule? Wie kreativ, um jemanden loszuwerden, um in Ruhe miese Immobilienmakler zu sich ins Haus zu locken, wie die Hexe in Hänsel und Gretel.

Nur mit der Ausnahme, dass sie in diesem Fall das Lebkuchenhaus darstellte und die Hexe ihren schlechten und unausstehlichen Charakter. Erst lockte sie die Männer mit ihrer Verführungskunst an, um sie dann von ihrer inneren Hexe alles für sie tun zu lassen, damit sie noch etwas länger von dem süßen Pfefferkuchenhäuschen naschen konnten. Denn genau das war sie. Eine süße Versuchung, die sich jedoch im Laufe der Zeit als tödliche Herausforderung offenbaren würde. Überrascht von dem bestimmten und offensichtlich geplanten Handeln seiner Mutter, drehte er sich herum und sah sich schmunzelnd den Schrieb an, den seine Mutter scheinbar schon länger in der Hinterhand hatte, falls es ihr einmal zu viel mit ihm werden würde. Sowohl am Briefkopf, auf dem als Datum der 23.05.2018 prangte, als auch an den unteren Ecken waren deutliche Falten zu erkennen, und in der Mitte zog sich ein Knick quer durch das Blatt. Es war bereits öfter zusammengefaltet und wieder auseinandergebreitet worden. Vermutlich in allen Situationen, in denen sie überlegt hatte, ob sie ihn dort hinschicken sollte oder nicht. Dutzende Male hatte sie den Brief überflogen und sich dann doch entschieden, es nicht zu tun. Doch der heutige Tag hatte das ohnehin schon randvolle Fass noch voller gemacht, als es eigentlich überhaupt sein könnte. Mit einem Male schien alles anders und all ihre Bedenken verschwunden zu sein. Trotz dessen schaffte sie es nicht, ruhig zu bleiben, während ihr Sohn das zerknitterte Blatt Papier in den Händen hielt und sich einen Überblick über dessen Inhalt verschaffte. Nervös fuhr sie sich durchs Haar und kratzte sich immer wieder im Nacken. Seltsam wenn man bedenkt, dass sie kein einziges Mal einen ihrer nervösen Tics hatte, als Paul überraschenderweise seine Koffer gepackt hatte. Scheinbar hatte sie das nicht so mitgenommen, wie es die aktuelle Situation grade tat.

„Reggieland?“, las er laut vor und sah seine Mutter fragend an.

„Das ist ein Dorf. Etwa drei Autostunden von hier entfernt“, erklärte sie ihm und kratzte sich nun an der Schläfe. Ohne etwas zu entgegnen wandte er sich wieder dem Brief zu. Er las das Infoblatt zu Ende und legte es wieder auf den Tisch. „Ich fasse das mal zusammen. Du schickst mich trotz meiner guten Noten auf eine Sommerschule mitten im Nirgendwo, wo der Ausgang sowie das Mitführen sämtlicher elektronischer Geräte und jeglicher religiöser Schriftstücke verboten ist“, zitierte er den Brief. Auch, wenn die Situation scheinbar ungünstig für so etwas war, musste er in sich hineinschmunzeln, als er die letzte Bedingung vorlas.

Gepriesen sei das Mobiltelefon, doch weder das eine noch das andere ist hier erlaubt, mein Sohn. Amen.

„Um Abstand generieren zu können, weil du unsere Lage neu bewerten willst?“, fuhr er fort und warf ihr einen verzweifelten Blick zu.

„Ja, das ist das, was ich dir sagen will“, bestätigte ihn seine Mutter. Ihr kalter Blick und ihr kühler Unterton erwischte ihn wie ein Blitzschlag und ließ ihn die Situation erstmals tatsächlich ernstnehmen.

„Behalt deinen dämlichen Wisch!“

Erzürnt zerknüllte er das Blatt und warf es durch die Küche. So einfach ließe er sich nicht vorführen.

„Wieso stellt du dich quer?“ Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, fühlte sich an wie eine Nadel, die direkt in seinen Gehörgang stach.

„Wieso ich mich…“ Empört schlug er die gefrorenen Beeren so hart auf den Tisch, dass es knallte.

„Warum ich mich quer stelle?!“, brüllte er sie an. „Du willst mich loswerden! Mich von der Bildfläche verschwinden lassen! Das ist es doch, was du willst!“

„Es ist eine Sommerschule. Kein Grund hier wie ein Verrückter zu schreien.“

„Oh ja, natürlich eine gewöhnliche Sommerschule. Eine ganz normale Schule auf die ganz normale Jugendliche gehen. Nur, dass normal in dem Fall verblödet oder wahrscheinlich gewalttätig heißt!“

„Nein, das heißt es nicht, denn das bist du nicht.“

„Weißt du auch warum? Weil ich dort nicht hingehöre! Ich bin keiner von denen! Ich bin kein Schulschwänzer, kein Mobber, kein Schläger und kein verblödeter Typ, der es zu nichts bringen wird im Leben!“ Mit lodernden Augen und brodelnder Wut in seinem Inneren stampfte er aus der Küche.

„Ich werde mich nicht wochenlang mit diesem Haufen von Irren einsperren lassen!“

„Du hast keine andere Wahl“, sagte Faye ruhig, ohne sich zu ihm umzudrehen. Er blieb im halbrunden, türlosen Durchgang zum Wohnzimmer stehen. Wortlos drehte er sich um und ging auf sie zu.

„Ach ja? Warum nicht? Wieso sollte ich freiwillig dort hingehen?“

„Wenn du nicht gehst, dann wirst du deine Sachen packen und dieses Haus verlassen.“ David stellte sich in ihr Sichtfeld. Jetzt war er derjenige, der ihr in die Augen sehen wollte.

„Du schmeißt mich raus?“ Seine Stimmlage klang erheblich entspannter. Ebenso wie seine Gesichtszüge, hatte sich auch seine Haltung verändert. Statt des selbstbewussten, wütenden Davids trat nun der verletzliche, traurige David in den Vordergrund. Sie versuchte jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Trotz ihrer klar definierten Position spielten ihre Gedanken wie verrückt miteinander Ping Pong.

„Ich schmeiße dich nicht raus. Wir werden nur nicht mehr gemeinsam in diesem Haus hier leben.“

Sie stockte einen Augenblick und stemmte die Hände in die Seiten. Erwartungsvoll sah David seine Mutter durch ihre zerzausten und verfilzten Haare an, die vor ihrem Gesicht hingen.

„Du wirst anderweitig unterkommen müssen, aber ich werde dich bei der Suche nach einer Bleibe unterstützen“, mit ernster und zugleich trauriger Miene hob sie den Kopf und blickte ihren Sohn mit ihren graublauen Augen an. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als ihre Blicke sich trafen. Kein einziges ihrer Körperteile signalisierte ihm unterschwellig, dass sie es nicht ernst meinte. Ihre Augen waren das Einzige an ihrer Erscheinung, die etwas anderes sagen zu wollen schienen. Sie wirkten im Vergleich zum Rest ihrer Körperhaltung unentschlossen. Die Verzweiflung in ihnen war in etwa so passend zu ihrem Auftritt wie ein in Ketten gelegtes Volk zu einem freien demokratischen Land.

„Ein milder Trost, findest du nicht?“

Keine Antwort.

„Wenn du mich loswerden willst, nur zu. Doch so leicht werde ich es dir nicht machen.“ Der traurige Ausdruck aus ihren Augen verschwand. Überraschung war nun das Gefühl, das sich in ihrem matten Glanz zeigte.

„Was meinst du?“ Er atmete tief ein und wieder aus. Sein Kopf senkte sich auf seine Brust, und er schloss die Augen.

„Ich gehe auf deine bescheuerte Sommerschule.“ Faye huschte ein Lächeln über die Lippen, wie man es eigentlich nur nach einem anstrengenden, aber schlussendlich siegreichen Kampf aufsetzen würde.

„Aber ich habe eine Bedingung!“, warf David ein, der das Siegesgefühl seiner Mutter schon witterte. Eigentlich war es hirnrissig, seiner Mutter nachzugeben. Sie war die Fehlermacherin, die für ihre Vergehen gradestehen sollte, nicht er, der diese Vergehen jahrelang miterleben und ausbaden musste, während sie schon längst wieder neue Fehler machte. Aber er war der Diskussionen und der Streitereien müde. Aus diesem Grund blieb ihm also nichts anderes übrig, als auf ihren Vorschlag, so schwachsinnig er auch sein mochte, einzugehen und zu hoffen, dass nach den Ferien wirklich alles besser werden würde.

„Wenn ich zurück bin, endet das hier. Keine weiteren Streitereien, Beleidigungen oder Vernachlässigungen mehr. Ich will mich nicht bis ans Ende meines Lebens mit dir streiten und allein gelassen werden. Wir beide werden mein letztes Jahr auf der High School zusammen in Frieden hier in diesem Haus verbringen. Einverstanden?“

„Ja, das bin ich“, antwortete sie ohne zu zögern. Ein weiteres Mal begann seine Mutter zu lächeln. Diesmal nicht triumphierend, sondern erleichtert. Auch David war erleichtert. Er hatte mit einem Bein schon auf der Straße gestanden und hatte sich mit diesem Kompromiss selbst wieder von dort zurück in die eigenen vier Wände gebracht. Wobei man diesen Beschluss auf keinen Fall einen Kompromiss nennen konnte. Die Definition eines Kompromisses war schließlich die Einigung auf etwas durch ein gegenseitiges Zugeständnis. Doch in diesem Fall gab es kein gegenseitiges Zugeständnis. Es gab nur die Androhung, ihn rauszuwerfen. Man konnte es also bestenfalls eine Erpressung von ihrer Seite aus nennen. Von einer Einigung oder einem Mittelweg konnte keine Rede sein. Sie schloss ihn in die Arme und drückte ihn an sich. Sein Kopf legte sich auf ihre Schulter, und erstmals am heutigen Tag fühlte er etwas wie Zufriedenheit in seinem Gefühlschaos. Zufriedenheit darüber, dass die Zeit des Streits so gut wie vorbei war. Ein paar Wochen würde er schon aushalten. Nicht gerne, aber er würde es tun, um den aufgestauten Zwist der vergangenen Jahre hinter sich zu lassen und nach vorne sehen zu können. Er hatte nach jedem Strohhalm gegriffen, den er in die Finger bekommen hatte und sah nun die Chance, endlich nach einem stabilen Stahlrohr greifen zu können. Seine Hoffnung, dass dies einfach nichts anderes war als ein weiterer Griff nach dem berühmten Strohhalm war verschwindend gering.

„Alles wird gut werden, Großer“, tröstete Faye ihn und streichelte ihm über den Rücken.

„Ich hoffe es“, entgegnete er seufzend.

„Keine Sorge. Bis du wieder hier bist, werden wir beide wieder im Klaren sein, und dann wird sich hier alles ändern“, versprach sie ihm, was sie jedoch sofort wieder bereute. Er löste sich aus ihrer Umarmung.

„Ich nehme dich beim Wort.“

Ihre Hand tätschelte seine rechte Wange. Unter ihren Fingerkuppen spürte sie die rauen, piksenden Bartstoppeln seiner kurzen, kaum sichtbaren Koteletten.

„Das darfst du“, versicherte sie ihm mit einem warmen Lächeln.

„Wann muss ich dort sein?“, unterbrach er die versöhnliche Stimmung.

„Am Montag schon. Aber die Schulleitung empfiehlt, bereits einige Tage vor Beginn der Unterrichtseinheiten vor Ort zu sein, um sich mit dem doch recht ungewöhnlichen Terrain sowie mit dem Schul- und Wohngebäude vertraut machen zu können.“

„Verständlich“, murmelte David gedankenversunken. Er konnte das, was grade passierte, immer noch nicht gänzlich verarbeiten. Zu überraschend war die Aufforderung seiner Mutter gekommen, die Ferien doch bitte am sprichwörtlichen Ende der Welt zu verbringen.

„Freut mich, dass du das auch so siehst. Wie wäre es, wenn ich dich morgen schon vorbeibringe? Dann hättest du genügend Zeit, die Lehrer kennenzulernen und dir die Schule anzusehen“, schlug sie ihm vor, ohne auch nur ihre Freude über das Fernbleiben ihres Sohnes zu verstecken. Du kannst es echt nicht abwarten, mich loszuwerden, wollte er sagen, entschied sich aber dazu, es besser nicht zu tun. Eine weise Entscheidung. Denn, wenn er seinen Gedanken laut ausplappern würde, hätte Faye ihm ohne zu zögern jede Chance auf ein Mitspracherecht, was den Abreisetag anbelangte, verwehrt. Doch somit wahrte er die Chance der Isolation von der Außenwelt, die ihn erwarten würde, noch einen Tag hinauszuschieben.

„Nein. Nicht morgen schon. Wir können Sonntag fahren. Ich muss mich noch von Zoe verabschieden. Die Kleine wird völlig aufgewühlt sein, dass ich weg bin“, versuchte er ihr mit seiner gesamten Überredungskunst zu erklären. Zu seiner Überraschung versuchte sie nicht, ihn umzustimmen, sondern willigte verständnisvoll ein. Scheinbar konnte sie sich doch noch etwas gedulden, bis sie das Haus für sich und ihre Verehrer allein hatte. Peinliches Schweigen trat ein. Keiner der beiden wusste, was er sagen sollte. Ratlos standen sie sich gegenüber und starrten auf die Fugen zwischen den Fliesen, welche den Küchenboden zierten. Der Klingelton seines Handys brach die Stille, die sich im Raum ausgebreitet hatte.

„Tut mir leid, ich schalte es aus“, entschuldigte er sich und griff in seine Hosentasche.

„Nein, schon gut. Geh ruhig ran. Ich muss mich sowieso beeilen. In einer Stunde beginnt meine Schicht“, erwiderte sie mit einem flüchtigen Blick auf ihre Uhr. Sie arbeitete als Pflegerin in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie und war eng mit dem dort zuständigen Chefarzt befreundet, was ihr schon den ein oder anderen Bonus eingebracht hatte. Zudem hatte sie das Glück aufgrund dieser Freundschaft mit besagtem Vorgesetzten, dass sie noch nie in ihrer bisherigen Berufslaufbahn zwischen den Schichten pendeln musste. Nach ihrem freien Tag gestern erwarteten sie nun vier Nächte, die sie damit verbringen musste, auf die mehr oder weniger schlafenden „Psychoratten“ – einer ihrer geläufigsten Begriffe für psychisch kranke Kinder – aufzupassen. Außerdem konnte sie ihren Beruf wunderbar als Ausrede nutzen, um sich nicht um Davids Probleme kümmern zu müssen. Jedes Mal wenn er es versucht hatte, wurde er immer wieder auf dieselbe Art von ihr zurückgewiesen.

David bitte, das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ich habe schon auf der Arbeit genügend Psychostress, dann brauch ich das nicht auch hier zuhause noch.

„Alles klar, dann gehe ich auf mein Zimmer“, sagte er und winkte ihr mit dem Smartphone in seiner Hand zu.

„In Ordnung. Bis morgen .“

„Bis morgen, Mom“, verabschiedete er sich ebenfalls von ihr und verschwand in den Flur. Sein Blick wanderte zu seinem Display auf dem groß der Name „Trae“ zu lesen war.

„Yo Trae, was gibt’s?“, meldete er sich.

„Hey Bruder, was geht?“

„Hol dir lieber was zu essen und machs dir bequem.“

„Wieso das?“, fragte Trae, der sowieso zweifelsohne in diesem Moment mit einer Tüte Paprikachips in seinem Bett lag und ihm zuhörte.

„Es könnte etwas dauern, wenn du das wirklich wissen willst“, seufzte David in das Mikrofon seines Handys und schloss schwungvoll die Tür hinter sich.

Die Schule

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