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Du kannst meinen Wagen haben, hatte sein Vater gesagt und ihm den Schlüssel des silbernen Mercury Cougar in die Hand gedrückt, bevor er nach Irland ging. Das Auto stammte aus dem Jahr 2001 und somit aus der 9. Generation der Automobilserie. Eine große Kratzspur prangte an der Fahrerseite und zog sich von der Fahrertür bis zur Tür der Rückbank durch. Sein Vater hatte sie noch am selben Tag, an dem er das Auto gekauft hatte, bei einem Unfall erhalten. Die alte, verwitwete Nachbarsfrau, Mrs. Dalton, hatte kurz zuvor ihre Tochter, die an Speiseröhrenkrebs litt, verloren und war des Lebens überdrüssig geworden. Deswegen stellte sie sich an ausgerechnet dem Tag auf die Straße, an dem Paul Williams mit seinem damals noch kleinen Sohn David vom Autokauf zurückkam und grade spaßeshalber etwas auf die Tube drückte, um seinen Kleinen zum Lachen zu bringen. Er war vom ersten Tag an vernarrt in das Lachen, das ihn als Vater noch glücklicher machte als ohnehin schon. Doch seit diesem Tag jagte es ihm nur mehr Angst ein, als dass es ihm Freude bereitet hatte. So wie, als wenn man einmal in einen saftigen Apfel gebissen, in dem sich ein Wurm befunden hatte. Von dort an würde man sie schlichtweg nicht mehr mögen, sondern verschmähen. Verschmähen. Ein passendes Wort für das, was Davids Vater von jenem Tag an, als er die alte depressiv gewordene Mrs. Dalton überfahren hatte, mit David tat, wenn er lächelte.

Dieses Ereignis prägte seinen Vater so sehr, dass er psychisch krank wurde. „Sie haben eine posttraumatische Belastungsstörung, Paul“, hatte ihm der Arzt damals mitgeteilt und ihm zu einem geeigneten psychotherapeutischen Verfahren geraten. Welches das war, hatte David jedoch vergessen. „Besonders wichtig ist jetzt für Sie, dass Sie sich von Ihrer Familie und Ihren Freunden helfen lassen und sich nicht von ihnen abkapseln“, meinte sein Arzt Dr. Goodwin. Einige Jahre ging das auch gut und er konnte seine psychischen Probleme, die ihm der Unfall bereitet hatte, mit ausreichend Unterstützung, sowohl von seiner Familie als auch von seinem neuen besten Freund, Jack Daniel’s, gut bewältigen. Doch nachdem ihm der einfache Alkoholkonsum zu therapeutischen Zwecken – so redete er es sich jedenfalls ein – nicht mehr genügte, erweiterte er seinen Freundeskreis um namhafte Marken wie Johnnie Walker, Jim Beam, Buffalo Trace und gelegentlich stieß auch sein Bekannter Budweiser zur munteren Runde hinzu. Es fing morgens mit einem Glas Sekt an, welches er wenigstens noch mit einem Schuss Orangensaft mischte. Mittags trank er dann statt seiner üblichen Zitronenlimonade zwei bis drei Budweiser und füllte die Zitronen, die für die Limonade gedacht waren, abends in sein Whiskeyglas, das er mehrmals mit seinem Jack Daniel’s nachfüllte. Er wurde zum wahren Vollzeitalkoholiker. Aber dann zerfiel die Blockade, die er sich gegenüber der Vergangenheit aufgebaut hatte. „Numbing“ nannten die Ärzte seine immer wiederkehrenden Flashbacks, welche ihn zwar aus seiner Alkoholsucht holten, ihn aber wieder tiefer in seine psychische Krise stießen. Da seine Frau kein Interesse daran gehabt hatte, ihn erneut aus einem psychischen Tief zu holen, war die Gruppe der Anonymen Alkoholiker nun für seine Seelsorge zuständig. Es half ihm zwar und er fühlte sich besser, doch es befreite ihn nicht vom Numbing.

All das wurde Davids Mutter zu viel, ihr wurden die psychischen Probleme ihres Mannes langsam lästig. Deswegen suchte sie sich heimlich einen weniger bemitleidenswerten Mann, der sich um sie kümmern würde und nicht andersrum. Einige Zeit lang ging es gut, und sie wechselte ihre Liebhaber ebenso häufig wie ihre Socken. Aber eines Tages wurde sie unvorsichtig und plante ihre Treffen nicht mehr mit solch einer Sorgfalt, wie sie es hätte tun sollen.

So kam es, wie es kommen musste. Vor drei Jahren, als sie sich grade mit einem Immobilienmakler namens Ray vergnügt hatte, kehrte David von seinem Basketballspiel eine halbe Stunde früher zurück als erwartet. Er hatte die Tür aufgemacht und direkt das Stöhnen seiner Mutter aus dem Wohnzimmer vernommen.

„Sag es Baby“, hörte er eine fremde Männerstimme sagen.

„Oh mein Gott Ray, du Hengst“, stöhnte seine Mom erwidernd. Auf Rays Gesicht zeichnete sich ein fettes Grinsen ab. Seine gräulichen Haare hingen ihm vor den Augen und klebten an seiner Stirn fest. David, der alles gehört hatte, kauerte sich auf dem Boden zusammen und begann zu weinen. Seine Mutter stöhnte ein weiteres Mal. Er war nicht traurig. Er war wütend. Wütend auf seine Mutter, die seinen Vater in diesem Moment betrog, auf Ray, der seine Mutter wie eine billige Straßenhure behandelte und am meisten auf Mrs. Dalton. Warum musste sich die alte Schachtel auch ausgerechnet auf die Straße stellen? Hätte sie sich nicht einfach eine Kugel durch ihr Gehirn jagen können oder sich so lange zudröhnen können, bis sie an einer Überdosis starb. Diese Art zu sterben wäre doch schließlich auch für sie angenehmer gewesen, als von einem Kombicoupé überrollt zu werden. Warum konnte sie nicht einfach high sterben, ohne das Leben eines Menschen beziehungsweise dessen ganzer Familie zu zerstören? Die Richter hatten Paul zwar von jeder Schuld freigesprochen, aber er selber hatte das nicht. David hatte ein paar Augenblicke gebraucht, bis er die Situation realisiert hatte und sich zusammenreißen konnte. Mit Wuttränen in den Augen stürmte er aus der Tür hinaus und lief los. Erst einige Häuserblocks weiter blieb er stehen und schnappte nach Luft. Er schaute sich nach links und rechts um als würde er verfolgt werden. Erschöpft hatte er sich nach vorne gebeugt und sich mit seinen Händen auf seine Oberschenkel aufgestützt. Sein einziger Einfall war, seinen Vater anzurufen und ihm zu erzählen, was er gehört hatte. Und genau das hatte er dann auch getan. Sein Vater war gemeinsam mit Bobby zu einem Tagesausflug nach Anaheim zum Disneylandpark unterwegs. Knapp 7 Stunden mit dem Auto von ihrem Haus entfernt, das in einem Dorf zwischen Tambo und Ramirez steht.

Nachdem er seinen Vater erreicht hatte und ihm gebeichtet hatte, was in ihrem Haus vor sich ging, setzte er sich einfach auf den Boden und wartete. Worauf er gewartet hatte wusste er heute nicht mehr genau. Vielleicht wusste er es auch damals nicht. Jedenfalls hatte er so Trae das erste Mal getroffen und er hatte sich bis in den späten Abend mit ihm unterhalten. Trae hatte es sogar fertig gebracht, Davids Wut und Trauer für den Rest des Abends zu unterdrücken. Als er nach Hause kam, saß seine Mutter heulend auf dem Boden und erzählte ihm, dass sein Vater sich von ihr scheiden lassen wolle. Einen Grund hatte er nicht genannt. Dafür war David ihm mehr als nur dankbar, denn so wurde er nicht zum Sündenbock für seine Mutter und war in ihren Augen unschuldig an der ganzen Situation. Und dieses Geheimnis, dass er sie verraten hatte, hatte sie bis heute – 3 Jahre später – nicht gelüftet.

Am frühen Morgen des nächsten Tages war sein Vater mitsamt dem Schlafenden und von den Umständen total paralysierten Bobby wieder an ihrem Haus angekommen. Er ging einfach rein, umarmte David, packte seine Sachen und sagte seiner Frau, dass sie Post von seinem Anwalt bekommen würde. Dann ging er einfach aus dem Haus, verabschiedete sich von seinen Kindern, und eine Woche später waren sie geschieden. Ein Taxi hatte ihn von dem Haus seiner – von dem Tag an – Ex-Frau mit seinem restlichen Hab und Gut abgeholt. Das war der Tag, an dem er seinem ältesten Sohn David sein Auto vermacht hatte. In eben diesem Wagen war David weggefahren, wenige Minuten bevor das Telefon in der Eingangshalle von seiner Schule geklingelt hatte.

Die Schule

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