Читать книгу Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren - Lis Vibeke Kristensen - Страница 11
Wladimira
ОглавлениеHeute beginnt es.
Wladimira wiederholt isländische Vokabeln. Schachbrett, Filmkamera, Schachuhr. Immer wieder, bis das Auto sie vor der Sporthalle ablädt, in der die Atmosphäre bereits zum Zerreißen gespannt ist.
Der Nervenkrieg dort oben hat sich bis in die letzten Winkel der Halle ausgebreitet, und Wladimira leidet mit dem, der unter diesen Umständen sein Bestes geben soll. Gleichzeitig strengt sie sich an, ihn nicht anzusehen, nicht an ihn zu denken, und ist sich doch die ganze Zeit seiner Anwesenheit bewußt.
Jeder Zug ist mit Bedeutung aufgeladen, und das nicht nur auf dem Brett.
Wladimira ist die Figur in einem anderen Spiel. Stunde um Stunde folgt ihre nasale Stimme Wort für Wort und verwandelt sie in Muster, die für jeden Empfänger logisch und wiedererkennbar sind. Das Ganze ist bis ins kleinste Detail korrekt. Vielleicht ist es außerdem auch elegant, sie ist sich nicht sicher. Das hat noch nie eine Rolle gespielt. Jetzt tut es das.
In der Halle beweist der Meister trotz allem seinen Scharfsinn, den eiskalten Überblick, aber jetzt weiß sie, wie hoch der Preis dafür ist. Der Mann, den sie nicht mag, platzt fast vor Stolz. Wladimira schämt sich.
Glücklicherweise wartet die nächste Aufgabe und dann eine weitere, sie ißt im Vorbeigehen ein Stück Brot, ihre Blase ist zum Bersten gefüllt und verursacht ihr Übelkeit, aber sie hat keine Zeit. Nicht einmal zum Nachdenken, und vielleicht ist das ein Glück.
Erst als sie spätabends auf ihr Bett sinkt, holt es sie ein.
Etwas Unbekanntes, das sie packt und mit sich zieht. Vom Bett, auf dem sie liegt, voll bekleidet und auf alles gefaßt. Durchs Zimmer. Zur Tür hinaus, die Treppe hinauf, deren Teppich die Geräusche ihrer Absätze verschluckt, so daß sie sich einbilden kann, daß sie sich gar nicht dort befindet, sondern immer noch hinter ihrer eigenen, sicheren Zimmertür liegt.
Der Hotelkorridor ist menschenleer. Aber hinter einer der braunen Türen wird gefeiert. Der, den sie nicht mag, erhebt die Stimme. Es klingt, als hielte er eine Rede.
Die Hauptperson nimmt nicht teil. Die Hauptperson geht in ihrem Zimmer auf und ab. Auf und ab. Und stöhnt ihr leises Stöhnen, oh, oh, oh.
Sie muß zweimal klopfen, ehe die Tür einen Spalt geöffnet wird.
»Room Service?«
Die Tür wird aufgerissen, und der Gestank von kalten Zigarettenstummeln dringt auf den Korridor. Wäre sie klug, dann würde sie jetzt umkehren. Eine neutrale Bemerkung machen. Ein Kompliment, ihm eine gute Nacht wünschen. Und dann die Beine in die Hand nehmen.
Ein großer Spiegel mit Goldrahmen wirft das Bild einer kräftigen Frau zu ihr zurück. Sie erkennt die vollen Brüste unter der unvorteilhaften Hemdbluse, den Bauch und die breiten Hüften. Sie gleicht einem Seezeichen. Stabil und wenig charmant.
»Komm her.«
Er legt einen Finger auf ihren Oberarm und schubst sie sachte durch die Tür ins Schlafzimmer.
Zerknitterte Kopfkissen liegen auf der Bettdecke. Auf einem ist ein rotbrauner Fleck. Sie schiebt es beiseite und setzt sich auf die äußerste Bettkante.
Durch sein Gewicht geben die Bettfedern nach. Ohne zu wissen, wie es eigentlich zugegangen ist, liegt sie stocksteif neben ihm. Ein Kissen wird unter ihren Kopf geschoben.
»Erzähl mir eine Geschichte.«
Er legt sich mit angezogenen Beinen und dem Rücken zu ihr hin. Der Kopf mit dem dichten Haar drückt das fleckige Kissen ein.
In Reichweite.
»Eine Geschichte, Wladimira.«
Sie kann ihre Hand zurückhalten. Die Wärme in ihrem Unterleib kann sie nicht zurückhalten.
»Ich weiß keine.«
»Erzähl schon, Wladimira.«
Geschichten sind ihre Eintrittskarte. Ohne Geschichten riskiert sie, verstoßen zu werden. Von seiner Nähe zur äußersten, einsamsten Dunkelheit, zum Gulag der Seele.
»Ein Mann«, sagt sie.
Ein Gemisch aus russischem und isländischem Kauderwelsch schwirrt hinter ihren geschlossenen Augen. Worte und Begriffe werden auf ihre Netzhaut projiziert. Kein einziges von ihnen ergibt einen Sinn.
Mit größter Mühe schaltet sie ihr Gehirn ab. Aus ihrem Mund kommt ein Satz.
»Ein Mann hieß Árni.«
Der Name ihres Vaters. Tabu, verachtet. Jetzt nimmt sie ihn in den Mund, sein Geschmack ist süß und bitter, ein Name mit samtweichen Vokalen. Der Name ihres Vaters.
Der Mann neben ihr legt sich zurecht. Jetzt nimmt sie seinen Geruch wahr. Er riecht nach einem überstandenen Fieber. Warm und ein wenig bitter.
»Árni?«
Wladimira kneift die Augen zu. Gleich wird sie die Tränen wegwischen müssen, aber jemand hat ihre Hand genommen.
Sie schwebt einen Augenblick, dann landet sie direkt oberhalb des Hemdes auf einem Hals, einem warmen Hals, in dem der Puls schlägt.
Es ist zu spät, um die Hand wieder an sich zu ziehen. Bereits als sie ihr eigenes Bett verließ, als sie an seine Tür klopfte, als sie den ersten Schritt in dieses Zimmer machte, hat sie das Recht verloren, etwas zu bereuen.
Der Kontakt mit der nackten Haut eines anderen Menschen ist nicht Bestandteil von Wladimiras normalem Repertoire. Sie verfügt nur über wenig sexuelle Erfahrungen, und diese haben keine Erinnerungen zurückgelassen, die zur Wiederholung einladen.
Jetzt schlägt der Puls eines Mannes in ihrem eigenen Blutkreislauf. Der kräftige Körper eines Mannes liegt neben ihr, und solange sie ihre Hand auf seinem Hals ruhen läßt, sind sie ein Fleisch.
Die Wärme in ihrem Unterleib hat sie gestern bis in ihr Zimmer im Stockwerk darunter und unter ihre eigene Decke begleitet. Jetzt breitet sie sich beharrlich bis zum Zwerchfell und zur Brust aus.
Ihre Brustwarzen haben sich zu Himbeeren zusammengezogen, die unter dem steifen Stoff des BHs brennen und jucken.
Die Wärme ist mit dem Chaos verwandt. Worte sind nötig, wenn sie das Schlimmste verhindern will.
»Árni«, sagt sie im letzten Moment.
Ihre Hand findet einen sichereren Ort auf dem glatten Nylonstoff der Schulter, und da weiß sie auf einmal, wovon ihre Geschichte handelt.
»Ein Gespenst ging durch Europa, und Árni folgte ihm. Er nahm nicht viel mit, nur das Buch nahm er mit, Das kommunistische Manifest. Darüber hinaus besaß Árni nichts. Nur einen hellen Kopf und seine Hoffnung und seinen Glauben. Und Elin, seine Frau und Gefährtin. Geld besaßen sie nicht. Sie arbeiteten unterwegs, er an Deck des Schiffes, sie in der Kombüse. Es war Herbst. Stürmisch und kalt, aber kein Opfer war zu groß.
Man empfing sie. Man machte sie zu Vertretern, Vertretern in Hoffnung und Glauben, und sie reisten. Für die Komintern. Zusammen und jeder für sich. Meist jeder für sich. Arbeit ist wichtiger als Liebe. Das wußten sie beide.«
Er wendet ihr sein Gesicht zu, und zwar lange genug, daß sie sein ironisches Lächeln sehen kann.
»Ach? Wußten sie das?«
»Die Sache ist wichtiger. Als die Liebe. Das wußten sie beide.«
Etwas verschlägt ihr die Stimme. Die Tränen laufen ihr in die Mundwinkel, warm und salzig, und egal wieviel sie schnieft und sich mit den Fingerspitzen und den Fäusten die Augen reibt, strömen sie aus irgendeinem unbekannten Reservoir in ihrer Brust weiter.
Wladimira weint nie.
Der Stolz ihrer Mutter, wenn die Frauen mit ihren Kindern angaben. Wolodja bekommt Prämien für Rechtschreibung. Elena näht ihre eigenen Kleider. Olga tanzt Ballett wie eine Tänzerin.
Nicht einmal als Kleinkind hat Wladimira geweint. Stramm gewickelt und in die Wiege gelegt, wo sie dann lag, ohne Tränen.
Die Geschichte von Wladimira kennt keine Tränen. Vielleicht hätte sie sich dazu entschließen sollen, statt dessen diese Geschichte zu erzählen. Jetzt ist es zu spät.
Rotz läuft ihr über die Oberlippe, sie hat es aufgegeben, ihn wegzuwischen. Statt dessen weint sie so lautlos wie möglich.
Ein Arm hebt ihren Kopf, eine Hand drückt ein Taschentuch an ihr Gesicht.
»Putz dir die Nase, Wladimira.«
Ihre tränennasse Stirn ruht auf dem Nylonstoff seines Hemds. Der Stoff klebt an seiner Schulter. Sie ist kräftig, die starke, sonnengebräunte Schulter eines Sportlers. Er ist kein verwachsenes, pubertäres Jüngelchen wie sein Gegner, er ist ein erwachsener Mann mit muskulösen Armen, die sie in seinem Duft von Hals und Haut drücken und festhalten.
Als er sie endlich losläßt, ist sie zu erschöpft, um verlegen zu sein.
Das Geräusch harter Knöchel an der Tür bringt sie wieder auf die Beine. Mit einem Satz steht sie mitten im Zimmer, das durchnäßte Taschentuch in ihrer kraftlosen Hand. Sie würde sich dort auf dem Boden am liebsten in nichts auflösen, wäre am liebsten gar nicht zur Welt gekommen und hätte ihn und dieses Zimmer am liebsten gar nicht gesehen.
»Wer da?«
Abwehrend hebt er die Hand und deutet auf die Tür neben dem Schrank. Dort drinnen funkeln weiße Fliesen.
Die Stimme vom Korridor ist rauh und etwas belegt. Sie erkennt sie wieder.
»Einen Augenblick.«
Die Badezimmertür schließt sich hinter Wladimira, und sie bleibt allein mit einem Spiegel zurück.
Ihre Nase ist hochrot. Ihre Lider erinnern an eben zur Welt gekommene Mäuse.
All diese Häßlichkeit will sie abspülen, aber glücklicherweise kann sie noch ihre Hand bremsen, ehe sie den Wasserhahn erreicht.
Ein vergoldeter Wasserhahn. Sie schluckt und starrt das Gold an.
Kein Geräusch darf sie verraten.
Im Wohnzimmer prallen Worte aneinander. Der, den sie nicht leiden kann, insistiert. Droht und schmeichelt, und Wladimira wünscht sich, der Mann dort drinnen gäbe nach und ließe sich feiern, täte seine Pflicht, wenn schon sonst nichts.
Niemand kann es sich erlauben, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen.
Der Satz ist plötzlich da. Gestern hat er über ihn gelacht, aber sie hatte recht. Wenn er sich überreden läßt, bleiben ihr seine Augen auf ihrem aufgelösten Gesicht erspart.
Erleichtert hört sie, wie er das Zimmer verläßt. Die Disziplin ist wiederhergestellt, die Disziplin, ohne die alles in Auflösung gerät.
Sie kann jetzt gehen. Sie braucht nie mehr zurückzukommen. Wie oft er noch stöhnen mag, wie sehr er auch leidet. Seine Geschichten muß er sich woanders besorgen.
Aber ihre Beine wollen sie nicht tragen, und da ist auch noch etwas anderes. Die Erregung und die psychische Anstrengung lassen ihre Blase reagieren. Der Toilettensitz ist nach Männermanier hochgeklappt, sie zieht ihre Unterhose herunter, und es gelingt ihr gerade noch, sich auf die Kante des kalten Porzellans zu setzen.
Während sie sich erleichtert, sieht sie sich um.
Ein Buch lehnt an den Fliesen. Sie nimmt es zur Hand und liest den Titel. Eine Neuausgabe der Brüder Karamasow. An einem Haken hängt ein Frotteebademantel. Der hellbraune Fleck auf dem einen Ärmel hat dieselbe Form wie Afrika. An einer Zahnbürste in einem Zahnputzbecher aus Stahl klebt Zahnpasta.
Es riecht nach Seife und Rasierwasser. Und nach etwas, was sie nicht identifizieren kann, eine ungewöhnliche Mischung. Der private Geruch eines Mannes, der gebadet und sich fertiggemacht hat. Der auf der Toilette ein Buch gelesen und darauf gewartet hat, daß die Peristaltik das Ihrige erledigt.
Sie betätigt die Spülung, wäscht sich die Hände, trocknet sie mit einem Handtuch ab, seinem Handtuch.
Auf einem Hocker steht eine Kulturtasche aus Kunstleder.
Privatleben. Das isländische Wort kennt sie. Die Idee kommt ihr suspekt vor. Jeder pflichtbewußte Sowjetbürger kann jeden beliebigen anderen Bürger mit gutem Gewissen einer Prüfung unterziehen. Außerdem hat er sie selbst eingeschlossen. Es ist ihr gutes Recht, das diffuse Schuldgefühl, das sie empfindet, als sie die Tasche öffnet, zu ignorieren.
Der Eigentümer der Kulturtasche drückt Tuben in der Mitte aus. Ein Päckchen Kondome ist schon etwas abgegriffen, als hätte es seinen Besitzer auf viele Reisen begleitet.
Wladimira stellt die Tasche dorthin zurück, wo sie sie hergenommen hat, trinkt einen Schluck Wasser aus dem Hahn. Es ist lauwarm und schmeckt schweflig.
Jetzt muß sie gehen, diesen Entschluß hat sie bereits gefaßt. Sie muß gehen, um nie mehr zurückzukehren. Aber noch einmal entzieht sich ihre eigene Schwerkraft der Kontrolle ihres Gehirns.
Noch nicht geboren worden zu sein, willenlos zu sein, im Fruchtwasser zu schwimmen. So muß es sich anfühlen.
Zwei Hände, von denen sie annehmen muß, daß es sich um ihre eigenen handelt, knöpfen ihre Bluse auf und öffnen die Haken ihres BHs am Rücken, dort wo er einschneidet. Der Rock landet in einem Ring auf der zerknitterten Badematte, und sie tritt aus ihm heraus und streift ihre zweckmäßige Unterhose ab.
Der Bademantel fühlt sich überraschend weich an. Es schaudert sie, und die Härchen auf ihren Armen und ihren kräftigen Beinen sträuben sich.
Ohne ihr Spiegelbild anzusehen, nimmt sie die Zahnbürste aus dem schimmernden Becher. Dann drückt sie sorgfältig auf die Mitte der Zahnpastatube und putzt sich die Zähne mit kleinen, energischen Bewegungen.
Der Schaum, den sie ausspuckt, hat rote Streifen. Jetzt vermischen sie ihr Blut. Was das zu sagen hat, weiß niemand.