Читать книгу Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren - Lis Vibeke Kristensen - Страница 14
Wladimira
ОглавлениеReykjavík ist in diesen Tagen ein Hexenkessel aus Gerüchten. Unbekannte Kräfte aus amerikanischen U-Booten beeinflussen das Gehirn des Meisters. Auf seinen Stuhl wird ein Sabotageakt verübt. Der Kaffee ist vergiftet, jemand hat ihm Medizin in den Saft gemischt, die ihn träge macht und ihm die Kräfte raubt.
Gestern spendete er seinem Gegner Applaus. Jeder andere hätte sich zurückgezogen, um seine Revanche vorzubereiten, er nicht. Mit gebeugtem Kopf, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, stand er da und klatschte.
In der großen Halle, in der das Staunen zu einem gemeinsamen Seufzer gerann, war Wladimira die einzige, die begriff, warum das geschah.
Das Korrekteste und Eleganteste hat Beifallsstürme verdient. Diese Einsicht ist logisch und lebensgefährlich zugleich.
Ein Sieg wird ihm den Heiligenschein eines Helden sichern, aber der Held ist am Ende, und es ist fraglich, ob er einen Sieg überleben wird, ebenso eine Niederlage.
Was auch geschehen mag, sie wird ihn verlieren. Sie wird dazu verurteilt sein, den Rest ihres Lebens mit einem unerträglichen, unauslöschlichen Mangel zu leben.
Zwischen Schlafen und Wachen schwebt ein roter Ballon. Zwischen Schlafen und Wachen klopft es an der Tür.
In ihrem Traum klopft jemand an ihrer Tür. Sie rappelt sich aus dem Bett auf und zieht sich hastig einen Unterrock über ihren nackten Körper.
Draußen ist niemand.
Die Stille im Korridor ist ohrenbetäubend. Bald ist es Morgen.
Die letzten Nächte hat sie an ihrem Beschluß festgehalten, ihn nicht mehr aufzusuchen. Aber morgen landet ein Flugzeug mit seiner Frau. Morgen ist es zu spät.
Noch einmal steht sie vor seiner Tür.
»Wladimira.«
Sie sieht es seinen Augen an, daß er nicht geschlafen hat. Eine Zigarette verglimmt im Aschenbecher, der auf dem Fußboden neben dem Schachbrett steht. Er zieht sie ins Zimmer, aber seine Beine tragen ihn nicht, er schwankt und stolpert und fällt mit dem Kopf zwischen die Schachfiguren, die in alle Richtungen kullern.
Sie kniet sich neben ihn und legt eine Hand auf seinen kraftlosen Arm.
»Bist du krank?«
Eine idiotische Frage! Trotzdem wiederholt sie sie, schreit sie ihm ins Gesicht, schüttelt sie in seinen unbeweglichen Körper, und bekommt nur ein Flüstern zur Antwort.
Zuletzt läßt sie ihn liegen.
Er hat die Knie angezogen und liegt mit der Stirn auf dem Muster des Teppichs.
Seine nackten Füße haben einen hohen Spann. Es handelt sich um seltsam unverbrauchte Füße ohne Hühneraugen und Hornhaut. Die Füße einer Statue. Sie nimmt den Fuß, der ihr am nächsten liegt, in die Hände. Er ist kalt wie Marmor, und sie reibt ihn warm. Wie ihre Mutter es machte, als sie klein war, rieb und knetete, bis es weh tat und sich eine angenehme Wärme ausbreitete, prickelnd wie leichtes Jucken.
Das senfgelbe Hemd hängt aus der Hose. Es ist hochgerutscht, denn er trägt keinen Gürtel. Die Haut seines Bauchs ist bleich und mit rötlichen Haaren bedeckt.
Auch der andere Fuß ist jetzt warm, und er streckt die Beine aus, reckt sich, dreht sich auf den Rücken und starrt an die Decke.
»Wladimira.«
Er holt Atem. Dann kommen die Worte. Zögernd, stotternd, undeutlich, aber nicht mißzuverstehen.
»So ein Mist. Du hast es ja gehört. Er hat dagesessen und zum Schiedsrichter rübergeschielt. So ein Mist. In dem Moment habe ich den Kampf verloren. Es hat keinen Sinn, es zu leugnen. In diesem Augenblick war es entschieden. Ich habe verloren. Ich hätte gehen sollen. Ich bin sitzen geblieben. Er hat mir leid getan. Wir sind Opfer, Wladimira. Wir verlieren beide. Die Gladiatoren hatten eine Chance, wir haben keine.«
Er hat ihren Arm gepackt und hält sie fest. Sie riecht, daß er sich schon lange nicht mehr die Zähne geputzt hat, und sie will ihm ihr Gesicht hinhalten, damit er auf ihre Lider atmet, auf ihren Mund, damit er seinen bitteren Atem in ihre Nase bläst und ihr Leben schenkt, ein neues Leben jenseits dessen, das sie beide nur allzu gut kennen.
»Erzähl mir eine Geschichte, Wladimira.«
Isländisch. Sie summt, ein Wiegenlied, und seine verspannten Glieder werden weich unter ihrer Hand, und jetzt kommt es, es bricht hervor und wird zu einer Rettungsleine, die Halt bietet, es wird zu Vision und Realität, zu einer praktischen, durchführbaren Wirklichkeit. Nichts ist mehr unmöglich.
»Ein roter Ballon schwebt über einer Straße. Ein Kind rennt hinter dem Ballon her. Der Bus bremst rechtzeitig, die Autos bleiben stehen, um das Kind vorbeizulassen, das Kind, das seinem Ballon über den Rasen hinterherläuft. Den grünen, üppigen Rasen. Das Kind läuft zum Meer hinunter. Das Meer empfängt das Kind und trägt es an eine andere Küste, das Kind winkt, und der Ballon leuchtet, ein kleiner roter Punkt an einem anderen Ufer.«
»Wovon handelt deine Geschichte, Wladimira?«
Jetzt auf russisch.
»Es war einmal ein Mann, der ...Nein. Das spielt keine Rolle. Ein Mann. Steht auf. Steht auf und geht. Jemand nimmt ihn bei der Hand. Sie gehen gemeinsam. Sie rennen. Über den Rasen. Das Gras ist grün, es ist saftig. Sie laufen, hinunter zum Meer. Ins Meer hinaus. Das Meer empfängt sie und trägt sie an eine andere Küste. Dort stehen sie und winken, und der Ballon leuchtet, ein kleiner roter Punkt an einem anderen Ufer.«
»Welcher Ballon?«
»Der rote Ballon. Dem sie hinterhergerannt sind. Der ihnen fast weggeflogen wäre.«
»Wo wollen sie hin?«
»Woandershin. Sie wollen woandershin.«
Und sie erzählt, und Lüge mischt sich mit Wahrheit und Mythos mit Wirklichkeit. Sie malt ein Bild der Möglichkeiten, auch von ihrer isländischen Familie, die sie nie gesehen hat, aber was macht das schon. Eine ganze Insel, ein ganzes Land wird bereitstehen mit Hilfe, mit einem Dach über dem Kopf und mit Freundlichkeit.
Es gibt Arbeit, das hat sie gehört, darüber sprechen die Menschen auf dieser Insel, auf der alle ständig arbeiten. Sie arbeiten doppelt, fast wie zu Hause, aber nicht um zu überleben. Für die Extras, für ein Auto, einen Kühlschrank, einen Fernseher, alles gibt es zu kaufen, Autos gibt es auf allen Straßen, und Fernseher flimmern hinter jeder Fensterscheibe.
»Das ist ein Traum, Wladimira. Dein Traum ist schön.«
»Das ist kein Traum.«
Der Traum ist, daß er sie lieben wird. Daß das andere Wirklichkeit wird. Wenn er nur will.
Mit dem Rücken zum Bett sitzt er neben ihr, und sie kann sein Gesicht nicht sehen, aber jetzt gibt es kein Zurück.
Wladimira ist der Kavalier, der gerade die Tanzfläche überquert, einer der Kadetten, zu deren Bällen sie ab und zu während ihres Studiums eingeladen wurde, weiße Handschuhe, den Blick zu Boden gerichtet und die Hand wund vom stumpfen Rasiermesser, bereit dazu, mit einer widerstrebenden Partnerin zu tanzen, gefaßt darauf, abgewiesen zu werden.
Wladimira, schwer und phantasielos, geduldig und loyal, Wladimira, die den Kopf über Wasser behält, hat ihr Debüt als Verführerin und ist halb bewußtlos vor Anstrengung, aber falls sie Zweifel hegt, dann weist sie diese Zweifel von sich. In Wladimiras Körper und Kopf wird ein Pakt geboren.
Bald ist der Traum vorbei, und das wache Leben kann beginnen.