Читать книгу Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren - Lis Vibeke Kristensen - Страница 16

Edda

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Eine Frau hatte sich heute morgen im Lager versteckt. Ich habe sie gefunden.

Das Schachturnier ist zu Ende, und wir haben geschrubbt und geputzt. Der Fußboden der Halle war ganz klebrig von dem Bankett, und morgen wird wieder Handball gespielt.

Weinpfützen auf dem Boden. Wikingerblut. So stand es auf der Speisekarte. Mit Eis vom Vatnajökull. Alles, was sie bekamen, trug das Wort Wikinger im Namen.

Spanferkel war übriggeblieben, Rinderbraten lag in blutigen Bergen auf den Platten, hatte die ganze Nacht dort gelegen, aber sah noch ganz akzeptabel aus. Gunlaug holte Tüten, und wir packten uns jede eine voll. Essen für mehrere Tage.

Die Trinkhörner aus Plastik und die bedruckten Teller hatten die Gäste mit nach Hause genommen. Als Erinnerung, ebenso wie die Speisekarten, außer jenen, die zerrissen waren oder über die zuviel Wein verschüttet worden war. Es gab nicht mehr viel abzuräumen und wegzutragen.

Ich war unten, um noch mehr Schmierseife zu holen. Die Tür ist nie abgeschlossen, aber jetzt war sie es.

Ein Schlüssel wurde geholt, und hinter der Tür saß sie. Mitten auf dem Fußboden. Eine der Unterirdischen. Das dachte ich zuerst. Aber dort stand auch ein Eimer und stank vor sich hin. Eine Gefangene aus einem Lager, so sah sie aus. Ihr Haar stand in alle Richtungen ab, ihr Blick war glasig. Ich habe normalerweise keine Angst, aber sie war groß und kräftig, und sie wirkte nicht normal.

Das Pferd sei gestolpert, sagte sie. Auf isländisch. Aber sie ist Russin, eine vom Schachturnier. Dolmetscherin. Das sagte sie. Sonst sagte sie nicht sonderlich viel. Abgesehen von dieser Sache mit dem Pferd. Es ging um einen, der umgekehrt war und den es den Kopf kosten würde.

Sie folgte mir die Treppe hinauf. Ich hatte noch Kaffee in meiner Thermosflasche, den gab ich ihr.Thorunn hatte ein Milchbrötchen dabei. Wir fragten, ob sie was von dem Braten wolle. Da übergab sie sich: Kaffee, Milchbrötchen, alles. Direkt auf den Boden.

Das Pferd sei gestolpert. Das sagte sie immer wieder, während wir ihr Erbrochenes wegwischten und den Boden ein weiteres Mal putzten. Wir hatten alle keine Lust, sie danach zu fragen, was für ein Pferd das gewesen sei.

Eigentlich waren wir jetzt fertig, aber was sollten wir mit ihr anfangen? Keine von uns wußte es.

Gunlaug kam auf die Idee, die Polizei zu rufen. Aber wir hatten keine Münzen für das Telefon in der Eingangshalle. Wir ließen sie also warten und erledigten noch den Rest.

Ich könne sie mitnehmen, sagte ich zu den anderen. Sie haben es immer eilig nach Hause, weil die Kinder in die Schule müssen.

Auf mich wartet niemand.

Olafur ist weg. Gestern ist er wie immer gegangen, während ich schlief. Aber er ist nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich hatte er das Ganze über, obwohl er nicht den Eindruck erweckt hat. Jedenfalls ist er weg.

Im Bett ist es leer ohne ihn. Vermutlich soll es so sein. Einen Mann will ich nicht. Nicht einmal Olafur. Nicht einmal ihn. Aber ich hätte ihm gern Lebewohl gesagt.

Gunlaug und Thorunn haben nach ihm gefragt. Sie dachten vermutlich, ich sei traurig. Vielleicht bin ich das auch.

Sie ist nicht alt, sieht aber älter aus. Eine schwere Frau, die hinter meinem Fahrrad hertrottete. Die schlurfte. Es regnete, und ihre Schuhe wurden naß. Hohe, schiefe Absätze. Ihre Kleider sitzen schlecht. Vielleicht hat sie kürzlich zugenommen und hatte keine Zeit, neue zu kaufen. Die Bluse sitzt zu eng, und es sieht so aus, als würden gleich die Knöpfe abspringen. Ihre Brüste sind größer als meine. Groß und kugelrund wie zwei Fußbälle in einem Netz.

Olafur hat an meinen Brüsten gesaugt wie ein kleines Kind und mich gleichzeitig mit seinen dunklen Augen angesehen. Seehundsaugen. In mir habe ich eine große Hand gespürt, eine warme Hand. Trost.

Vielleicht ist es geglückt. Vielleicht brauche ich niemand anderen mehr zu suchen. In einem Monat weiß ich es sicher.

Seine Lippen sind rot. Rote Lippen in einem großen Gesicht. Die Haut nicht sonderlich straff. Jedenfalls nicht, als er kam. Jetzt ist er wieder rundlich. Man kann sich an ihn ankuscheln, und er riecht gut. Er riecht, wie ein Mann riechen soll. Nicht nach Schnaps, nicht nach Angst und auch nicht nach Rachsucht. Nicht nach Bösartigkeit. Nur gut.

Wohin sie wolle, frage ich sie, nachdem wir ein Stück gegangen sind. Sie weiß es nicht. Wir trotten weiter. Es regnet in Strömen, und ich würde mich am liebsten aufs Fahrrad schwingen und lossausen. Nach Hause zu meinem warmen Bett. Obwohl es verwaist ist.

Plötzlich kriegt sie einen Koller und rennt los. Um die Ecke, die Straße entlang, in einen Hinterhof.

Ein Auto fährt vorbei. Um diese Tageszeit ist sonst nicht viel Verkehr. Vielleicht hat sie sich deswegen aus dem Staub gemacht. Wer in dem Auto saß, konnte ich nicht erkennen.

Ich bleibe stehen und warte darauf, daß sie zurückkommt. Dann gehe ich weiter. Aber nach einer Weile höre ich sie hinter mir. Sie rennt und ist ganz außer Atem. Der Absatz des einen Schuhs ist abgebrochen. Sie steht auf bloßen Strümpfen in einer Pfütze.

»Polizei«, sage ich. »Vielleicht solltest du zur Polizei gehen. Die können dir helfen.«

Sie packt mich am Arm. Sie weint. Sie fleht mich inständig an, eine Bleibe für sie zu finden. Nur für einen Tag, vielleicht auch zwei. Ein Versteck, bis sie in Sicherheit ist.

Jetzt beginne ich zu verstehen. Sie ist ein Flüchtling. Sie will nicht zurückfahren. Nach dem, was man so gehört hat, ist das vermutlich klug. Wenn sie nicht in den Verdacht geraten will, eine Spionin zu sein. Wenn sie nicht nach Sibirien geschickt werden will. Oder noch Schlimmeres.

Olafur ist weg, und ich habe noch immer zwei von allem. Zwei Teller, zwei Gläser, zwei Messer, zwei Gabeln.

Jetzt habe ich einen neuen Gast. Vielleicht soll das ja so sein.

Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren

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