Читать книгу Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren - Lis Vibeke Kristensen - Страница 13

Joyce

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Auf dem Nachttisch steht ein Raumspray neben einem kleinen Plastikkruzifix. Der Gestank ist fürchterlich.

Mutters Gesicht auf dem weißen Kissen ist hellgelb.

»Du siehst strahlend aus. Wie geht es Bill?«

Mit ihren mageren Händen umklammert sie ihren Rosenkranz. Marge und ich haben die Gebete gelernt, während wir wie hypnotisiert auf ihre raschen Finger starrten, die die Perlen aus echtem Perlmutt in Bewegung hielten. Jetzt halte ich diese Finger fest, die sich in meiner Hand wie ein paar trockene, zerbrechliche Zweige anfühlen.

»Du hättest nicht zu kommen brauchen.«

Mutters mädchenhafte Stimme hängt nur an einem seidenen Faden. Jetzt verschwindet sie ganz.

Marge kommt durch die Tür. Ihr Bauch ist womöglich noch größer als meiner, und wir können uns nicht ordentlich umarmen, und vielleicht habe ich nur darauf gewartet, damit ich endlich meinen Tränen freien Lauf lassen kann.

Wir sitzen rechts und links von Mutters Sterbebett, beide mit einem Ungeborenen im Bauch. Mutters erste Enkel. Gerade drehen sie sich dort drinnen ein letztes Mal um und bereiten sich darauf vor, ihren Kopf im Becken in Stellung zu bringen, und vielleicht lebt sie noch lange genug, um zumindest einen ihrer Enkel zu sehen, möglicherweise sogar beide. Eventuell keinen von beiden.

Es ist am wahrscheinlichsten, daß letzteres eintritt, sagt Vater, der aus seinem OP hereinschneit und sich mit uns in einer Ecke flüsternd unterhält, während Mutter herumdöst und dann wieder mit benebelten Augen erwacht, und zwar jedesmal etwas weiter entfernt.

Allmählich beginnt die Skisaison, und Vater operiert Bänderrisse und Knochenbrüche rund um die Uhr. Das kann er wirklich gut.

Marge und ich wechseln uns damit ab, zu wachen und zu schlafen. Den Gestank nehmen wir nicht mehr wahr. Wir sind nur noch zwei Paar Hände, die Mutter kalte Umschläge auf die Stirn legen und ihr den Mund mit einem kleinen Schwamm auf einem Stöckchen befeuchten. Wir sind zwei Paar Ohren, die auch die geringste Veränderung ihrer angestrengten Atemzüge wahrnehmen.

Bill ruft jeden Tag an, aber ich bin zu müde, um mich mit ihm zu unterhalten. Ich weiß auch gar nicht, was ich sagen soll.

Und dann kommt der Tag, an dem sowohl Marge als auch ich gebären. Gejammer, Lachgas, Dammschnitt, Genähtwerden und Geschrei verdunkeln den Horizont, hinter dem dann die Ruhe kommt, aber das wissen wir nicht, ehe das Ganze plötzlich überstanden ist und zwei Knäblein faltig und rosenrot in ihren Wiegen schlummern.

Meine Schwester und ich dösen in verstellbaren Betten in unserem Doppelzimmer. In der Kapelle der Klinik schläft Mutter den letzten Schlaf. Ihre dünnen Finger sind über dem Rosenkranz gefaltet, und das dicke Gesangbuch hat man ihr unter das Kinn geschoben.

Alles ist zu Ende, und alles kann beginnen.

Alles ist unerklärlich und vollkommen selbstverständlich. Die Tage bestehen aus Minuten unterschiedlicher Länge, sie stellen sich in Reih und Glied wie Dominosteine und stürzen um und hinab in einen unendlichen Abgrund aus Trauer und Babygeschrei und Windeln, die mit einer grünlichen Substanz gefüllt sind. Was Mutter wohl dazu gesagt hätte, meint Marge, und wir lachen und weinen in unseren Lehnstühlen mit unseren Söhnen an der Brust.

In der Nacht nach der Beerdigung liege ich wach. Dave ist gekommen, und eheliches Geflüster dringt von Marges Zimmer zu mir herein. Mit einem Mal weiß ich, daß ich nie mehr zu Bill zurückkehren kann.

Mein eingeborener Sohn schläft schnaufend in seiner Wiege. Bald wird er erwachen und hungrig sein, seine geheimnisvollen Babyaugen werden nach meinen suchen, während er trinkt, und wir werden ein Fleisch sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Bill ist nur ein anstrengendes Zubehör, wir brauchen ihn nicht.

An dem Tag, an dem meine Doktorarbeit fertig ist, steht mir die akademische Welt offen, und ich kann uns beide ohne größere Probleme versorgen.

Marges große Augen, einer ihrer wichtigsten Vorzüge, werden doppelt so groß, als ich ihr von meinem Beschluß erzähle.

Ob ich mit Bill gesprochen habe? Natürlich habe ich das nicht.

»Das kannst du ihm nicht antun.«

Nach nur neun Monaten Ehe gehört Marge zur Truppe der loyalen Gattinnen, die keine Grenzen dafür kennen, was Frauen sich selbst antun können.

Begriffe wie Familiengründung und gegenseitige Verpflichtungen strömen von ihren Lippen wie Manna vom Himmel. Marge ist mit der Selbstverständlichkeit eines Bären, der sich zum Winterschlaf verkriecht, in die Rolle von Daves Ehefrau und Mutter des kleinen David junior geschlüpft, und ich dringe nicht mehr zu ihr durch.

»Wie willst du mit einem Säugling im Haus eine Doktorarbeit schreiben?«

»Das klappt schon irgendwie.«

Die Stunden, bevor es für die kleine Familie Zeit ist, zum Flughafen zu fahren, laufen meine Schwester und ich im Haus herum wie zwei Fremde. Ich nehme an, daß meine Verantwortungslosigkeit Marge erbost, und ich selbst bin zu stolz, um zuzugeben, daß sie einen wunden Punkt getroffen hat.

Die Koffer werden nach unten getragen, und das Auto wird mit Marge und ihren beiden Männern, wie sie sie nennt, beladen, Vater hat bereits den Zündschlüssel umgedreht.

Ich habe auf der Veranda in sicherem Abstand von den schwesterlichen Vorwürfen Stellung bezogen.

»Wenn ich dir helfen kann, mußt du es nur sagen.«

Marge hat das Seitenfenster heruntergekurbelt und ruft mir diese letzte Bemerkung zu, während Vater bereits rückwärts aus der Auffahrt fährt.

Plötzlich weiß ich, was ich zu tun habe. Ich gebe Vater ein Zeichen, daß er warten soll. Dann renne ich Hals über Kopf ins Haus und stopfe eine Tasche mit Babysachen voll. Mein Sohn schläft den Schlaf der Gerechten in seiner Wiege und wacht nicht auf, als ich ihn in die Babytragetasche hebe.

Marge sieht mit offenem Mund mit an, wie ich Tasche und Kind neben sie und David junior auf den Rücksitz packe.

»Wenn deine Milch nicht reicht, mußt du ihm eben ein Fläschchen geben.«

Meine Schwester kennt mich von Geburt an und weiß, daß ich mich nicht mit leeren Versprechungen abspeisen lasse. Sie knickt also ein und rückt die Babytragetasche rasch auf dem Rücksitz zurecht.

Einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder, Marge. Schließlich sind wir aus demselben Holz geschnitzt, obwohl du im Augenblick etwas anderes glaubst.

Dave öffnet den Mund, offenbar will er protestieren, aber kein Laut kommt über seine Lippen. Vater starrt durch die Windschutzscheibe auf das offene Garagentor und auf die Obstkisten dort drinnen, die auf die Ernte dieses Jahres warten.

»Wie lange?« fragt meine Schwester.

»So lange wie nötig.«

Ich winke, bis das Auto nicht mehr zu sehen ist. Dann gehe ich ins Haus.

Vater sagt nichts, als er vom Flughafen zurückkommt. Er geht ins Schlafzimmer hinauf und verbringt dort ein paar Stunden, bis sein Piepser ihn zum nächsten Knochenbruch ruft. Als er nach Hause kommt, bin ich bereits bei der Arbeit.

In den wenigen Stunden, die Vater zu Hause verbringt, ist er ein Schatten, der summend und in einem alten Jogginganzug von einem Zimmer ins nächste geht. Er schleppt sich auch in den Garten und starrt träge auf die Erde unter den Apfelbäumen, wo das Obst verfault. Wenn er vergessen hat, das Garagentor zu schließen, beugt er seinen bereits stark gekrümmten Rücken, um die von den Waschbären zerrissenen Müllsäcke und verstreuten Dosen aufzusammeln. Mich beschleicht das Gefühl, daß er jeden Augenblick abheben und im Gleitflug über die Berge verschwinden könnte.

Und dies stellt letzten Endes auch meine Rettung dar. Selbst Bill kann nachvollziehen, was es für einen Mann bedeutet, seine Frau nach fast dreißig Jahren zu verlieren. Selbst Bill begreift, daß eine Tochter Pflichten hat, obwohl sie mit ihm verheiratet und Mutter seines Sohnes ist. Während eines stotternden und von Echos erfüllten Telefongesprächs einigen wir uns darauf, ihn nach Bills Großvater Joel und nach meinem Vater und dem Erzengel Gabriel zu nennen.

Es gibt keinen Grund, Bill zu verraten, wo sich Joel Gabriel im Augenblick befindet. Marge hält mich telefonisch auf dem laufenden. Offenbar hat sie so viel Milch, daß es für mehrere Zwillingspaare reichen würde, und die beiden Knäblein entwickeln sich vorbildlich, was Marge jedoch nicht daran hindert, mich auf die Verwerflichkeit meines Tuns hinzuweisen.

Marge hat sich zu Mutters Stellvertreterin auf Erden ernannt, und um ihr das Maul zu stopfen, suche ich den Priester und Beichtvater der Familie auf.

Pater Jeremy empfängt mich mit offenen Armen. Natürlich findet er meinen Plan, Bill zu verlassen, unchristlich. Als ich ihm verspreche, mir die Sache noch einmal zu überlegen, kramt er als eine Art Belohnung die Geschichte vom Salomonischen Urteil aus der Schublade, und ich verlasse beschwingt seine Wohnung. Joel ist, wo er hingehört, bei jener Person, die sich im Augenblick am besten um ihn kümmern kann.

Vaters kleines Büro habe ich in mein Arbeitszimmer verwandelt. Die alte Schreibmaschine stottert und dröhnt, aber die Papierstapel wachsen, und abgesehen von gespannten Brüsten und davon, daß ich in regelmäßigen Abständen heulen muß, weil mir mein Kleiner, mein Geliebter fehlt, bin ich so glücklich wie schon sehr, sehr lange nicht mehr

Zu Thanksgiving kommt Bill.

Dann sehen wir weiter.

Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren

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