Читать книгу Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren - Lis Vibeke Kristensen - Страница 9
Oliviers Geschichte
ОглавлениеIch muß ganz von vorn anfangen, meine Edda. Ich muß mit meinem Vater anfangen, dem Islandfischer.
Olivier Créach, geboren in Paimpol in der Bretagne. Gestorben hier in deinem Land. Er wurde zwanzig Jahre alt.
Zweimal hatte er die Reise als Schiffsjunge gemacht. Wenn man Prügel, Strapazen und eine solche See mehr als einmal überlebt, dann ist man Vollmatrose.
Am Tag vor seiner letzten Reise fand ihre Hochzeit statt, die von ihm und meiner Mutter. Das Ergebnis der Hochzeitsnacht sitzt hier an deinem Tisch.
Ein zwanzigjähriger Vollmatrose, der eine Frau zu ernähren hatte. Der Kinder zu ernähren haben würde, natürlich würden sie Kinder bekommen.
Hunger trieb die Fischer hier hinauf. Hungernde Familien. Kinder mit weichen Knochen und schwachen Lungen.
Hier oben gab es genug Fisch, hier konnte ein tüchtiger Fischer in einer Saison viertausend Dorsche fangen. Gesalzener Fisch war bares Geld.
Ihre Hände gingen vom Salz kaputt, ihre Rücken von der harten Arbeit. Keiner der Männer, die noch am Leben sind, ist vollkommen gesund. Aber diejenigen, die überlebten, mußten immerhin nicht hungern. Reich wurden sie nicht, aber sie kamen zurecht.
Olivier Créach überlebte nicht. Das Meer forderte Olivier Créach. Er wurde Vater eines Sohnes, den er nie sah. Er wurde mein Vater, ohne je davon zu erfahren.
Mein Vater war eine Gedenktafel an der Wand der Kirche zu Hause. Einer von vielen. Das Schiff hieß L’spoir. Ein hoffnungsvoller Name.
Ich bin hierhergekommen, um . . .
Ich bin hierhergekommen.
Ich glaubte, ich wüßte es. Ich war ganz sicher. Jetzt weiß ich bald nichts mehr.
Mein Vater liegt an dieser Küste begraben. Soviel weiß ich. Seine Leiche trieb an Land, das taten nicht alle.
Will ich sein Grab sehen? Bin ich deswegen gekommen?
Das habe ich geglaubt. Ich habe geglaubt, ich könnte an seinem Grab knien und ihm von dem Leben erzählen, das er mir gegeben hat. Ich habe geglaubt, das könnte helfen.
Meine Mutter.
Meine Mutter, Caroline, la belle Paimpolaise.
Familie Créach wollte mich zu sich nehmen und mich wie ihren Sohn erziehen. Als Ersatz für den Toten und als Investition in die zukünftige Versorgung.
Aber Caroline war zu schnell für sie. Einerseits war sie Witwe mit einem unmündigen Kind, andererseits war sie siebzehn Jahre alt und schlank. Ihre schmalen Beine steckten in Holzschuhen, und sie hielt den Kopf mit dem gestärkten Kopftuch hoch erhoben. Ehe ein Jahr um war, war sie wieder verheiratet und zwar mit dem Hotelbesitzer des Ortes, einem Mann in seinen besten Jahren, der nie seinen Fuß auf ein Schiffsdeck setzte.
Damals war Krieg, meine Edda. Zwei Tage nach der Hochzeit zog der Hotelbesitzer in den Krieg, und in einem Schützengraben an der Marne sprengte man ihm den Kopf in Stücke. Caroline war erneut Witwe. Dieses Mal mit einem Erbe, mit dem sie sich selbst und ihr Kind versorgen konnte.
Vermutlich ist meine Mutter die einzige Frau, die genau drei Tage mit zwei verschiedenen Männern verheiratet war.
Caroline zwang ihren Sohn, auf das Meer zu verzichten.
Eine Landratte in einer Stadt, wo die meisten vom Meer leben und auf ihm zugrunde gehen. Vor Anker. Mit Händen und Füßen ans Hotel und an immer dieselben grauen Straßen gefesselt. Beaufsichtigt und versorgt, verwöhnt und verhätschelt. Mit Liebe erstickt, meine Edda. Mit Pflicht, Schuld und Scham.
Überfüttert bereits als Kind, fett und zum Gespött der Schlanken, Mageren und Sehnigen. Ein blinder Ochse, der ein Mühlrad antrieb. Von seiner Mutter geliebt, sonst von kaum jemandem.
So fett und kurzatmig, daß er nicht als Soldat taugte, als der nächste Krieg kam. Caroline hatte das gut eingefädelt.
Nie zur See.
Es gibt Dinge, die ich nicht erzählen kann. Über meine Mutter und mich. Weder mit Worten noch ohne.
Jetzt ist sie nicht mehr da. Caroline ist nicht mehr da.
Es fällt mir leichter, an sie als Caroline zu denken. Caroline liegt unter einem grauen Marmorgrabstein auf dem Friedhof. Und ich bin hier.
Die Papiere sind alle vorhanden. Ich besitze das Hotel. Ein Vermögen nenne ich mein eigen. Ich weiß nicht, ob ich zum Hotelbesitzer tauge, aber ich weiß, daß du bei mir sein solltest.
Hier oder dort. Und ich werde nie mehr schlafen.