Читать книгу Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren - Lis Vibeke Kristensen - Страница 12
Olivier
ОглавлениеEs liegen dreißig Jahre zwischen ihnen. Der Gedanke verfolgt ihn. Edda streicht ihm über die Schläfe, an der sich graue Haare in die schwarzen mischen, und er wendet rasch den Kopf ab.
Die Linke bewegt sich vorsichtig nach oben, um die schlaffe Haut seines Halses zu verbergen.
Tagsüber, wenn sie nebeneinander zwischen den grauen und bunten Häusern herumlaufen, wenn er ihre Hand so hält, daß er sie nicht verliert, schämt er sich ihres Spiegelbildes in den Fensterscheiben. Ein Vater mit seiner Tochter an der Hand – als Liebende. Das ist gegen die Natur. Das ist eine Sünde, und das sollte es auf Erden nicht geben.
Tagsüber späht er in die Augen der Leute und sucht nach Abscheu und Verurteilung.
Nachts, wenn sie miteinander verschmelzen und sich zur Ruhe wiegen, sanft und gewaltsam, flüchtig und beharrlich, wild und mild, hat keiner von ihnen ein Alter und deswegen keinen Anlaß zu Schuldgefühlen.
Tagsüber muß er sich dazu zwingen, sich dem Licht und den Blicken zu stellen.
Mitten in der Nacht erwacht er. Eine samtige Wange auf dem Kissen neben ihm lädt zum Küssen ein, aber er widersteht der Versuchung. Sie braucht ihren Schlaf.
In der morgendlichen Dunkelheit, es duftet schon nach Kaffee, rüttelt er sie sanft wach. Ihre Hand hält ihn fest, und er will wieder zu ihr ins Bett kriechen und vergessen, daß die Sonne bald aufgehen wird. Wenn sie die Decke beiseite schlägt, sich reckt und so ausgiebig gähnt, daß ihre hellrote Zunge zu sehen ist, wird er beim Anblick ihres nackten Körpers im Schein der Nachttischlampe ganz benommen vor Glück.
Es ist immer noch dunkel, als er sie durch die schlafende Stadt begleitet. Seine Hand ruht auf ihrer am Lenker, während sie geduldig ihr Fahrrad neben ihm herschiebt. In der Halle lachen die Frauen. Sie bringen ihm Wörter bei, lachen über seine Aussprache und klopfen sich dabei auf ihre kräftigen Schenkel.
Kona heißt Frau. Nur daran wird er sich erinnern.
Sie singen bei der Arbeit. Edda singt ebenfalls. Lieder, die er nicht kennt, isländische Lieder und solche, die klingen wie amerikanische Schlager. Zusammen mit Edda und den gut gelaunten Frauen verschwinden seine Schuldgefühle.
In der großen Halle hallt es leer. Der besondere Tisch und die gepolsterten Stühle sind in einen kleineren Raum gebracht worden, aber es gibt immer noch genug damit zu tun, Bonbonpapierchen, Zigarettenstummel und den Dreck von unzähligen Schuhsohlen in dem großen Gebäude zusammenzukehren.
Er hilft gerne mit. Er leert Eimer mit Schmutzwasser und füllt sie erneut am Wasserhahn. Mit warmem Wasser, das nach Schwefel riecht, wie nach einem Mittel für Pestbeulen, reinigend und gesund.
Der Schwefelgeruch sitzt noch lange nach dem täglichen Besuch der Badeanstalt in der Haut. Im Schwefeldampf des Duschraums sehen etliche aus wie er, fett wie er und noch älter. Faltige Männer, Kleinkinder und abgearbeitete, sehnige Frauen befinden sich im Becken, und es gibt nichts, weswegen er in Verlegenheit geraten müßte.
Zusammen mit Edda sitzt er geschrubbt und in seiner neuen Badehose in einem Becken mit gebärmutterwarmem, tröstendem Wasser, und er merkt, wie sich sein Körper auflöst und wieder geboren wird, hellrot und neu.
Edda schläft nach Arbeit und Bad ihren Vormittagsschlaf. Er pflegt währenddessen einen Spaziergang auf dem Friedhof zu unternehmen, um sie nicht zu stören, zwischen den Steinen mit den merkwürdigen Namen.
Dort hinter der Mauer verblassen die Blumen mit jedem Tag mehr. Die dünnen, moosbewachsenen Bäume haben ihr Laub verloren, das Gras verändert seine Farbe von Grün über Gelb zu Grau. Bald ist Winter.