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Judy Carrier stand in der Locust Street vor dem Geschäftshaus, in dem sich die Büros von Rosato & Associates befanden, und schüttelte vor Empörung den Kopf. Ihre Hoheit war ein Ekel. Sie wußte, Judy würde Mary nie im Stich lassen. Was wäre das für eine Bergsteigerin, die ihre Freundin hilflos am Seil baumeln ließe? Judy seufzte. Wieder ein Punkt für die Mächte des Bösen. Vermutlich erforderte es diesen Grad an Rücksichtslosigkeit, wenn man Erfolg haben wollte, aber Judy war nicht bereit, diesen Preis zu bezahlen.

Zum Schutz gegen den Schneesturm zog sie ihre Skimütze bis zu den Augenbrauen. Der Himmel war ein kompaktes Grau, aus dem unaufhörlich Schneeflocken herabwirbelten. Laut Wetterbericht fielen pro Stunde fünfundzwanzig Zentimeter Schnee. Judy machte das Spaß. Der Winter gefiel ihr an der Ostküste mit am besten, besonders ein so gewaltiger Schneesturm wie dieser. Da setzte sich nach all dem Selbstbehauptungstraining die wahre Natur durch. Und rief allen in Erinnerung, daß die Natur über Partner, Mitarbeiter und Sekretärinnen erhaben war.

Prüfend schaute Judy auf die Straße. Der Verkehr schlich wie eine Raupe Zentimeter um Zentimeter an ihr vorbei. Wie sollte sie dahin kommen, wo sie hinmußte? Ihr Wagen stand in der Nähe ihrer Wohnung auf der Straße und war inzwischen zweifellos ein gewaltiger Schneehaufen. Ihn auszubuddeln dauerte ewig, ganz abgesehen davon, daß sämtliche Straßen verstopft waren. Judy konnte nicht warten, bis endlich ein Bus kam, und an ein Taxi war nicht zu denken. Mit dem Mietwagen war Ihre Hoheit unterwegs, und zum Laufen war es zu weit. Die Stadt entvölkerte sich, nicht mehr lange, und sie wäre autofrei. Nur der sich in den Straßen höher und höher türmende Schnee bliebe zurück. Locker, trocken, pulverig. Perfekt.

Judy stieß den rechten Stock in den Schnee, bis er auf Asphalt aufschlug, dann schob sie das linke Bein vor und glitt durch Pulver, das so tief war, daß ihr Ski darin verschwand. Eine leichte Bewegung aus der Hüfte und das rechte Bein vor, und schon hatte sie den natürlich gleitenden Rhythmus der geübten Langläuferin. Abwechselnd linkes Bein, rechtes Bein glitt sie in einem gelben Patagonia-Parka und Thermohosen durch den Schnee. Noch nicht einmal eine Stunde war vergangen, und schon war Judy auf Skiern unterwegs durch die Innenstadt. Es machte Spaß. War fast wie in Valley Forge, bis auf die Crack-Fläschchen.

Sie atmete kraftvoll aus, und ihr Atem bildete Wölkchen, die wie der Dampf einer Spielzeuglokomotive vor ihr aufstiegen. Innerhalb kürzester Zeit schwitzte Judy trotz des eisigen Windes und des Schnees. Es wurde dunkler, und der Schnee dämpfte die letzten Geräusche des Alltags. Judy hörte keinen Laut außer ihrem eigenen Keuchen, dem Ssssching ihrer Skier und dem erbarmungslosen Brausen des Windes. Sie fuhr Richtung Südwesten und nahm so viele Nebenstraßen wie möglich. Nur selten stach das Scheinwerferlicht eines Autos durch den Flockenwirbel, die wenigsten Fahrer trotzten den Straßenverhältnissen. Je weiter stadtauswärts Judy kam, um so spärlicher wurde der Verkehr, und bald war sie auf der verschneiten Straße allein auf weiter Flur.

Judy genoß das zunehmende Empfinden, allein auf der Welt zu sein; es war das gleiche Gefühl wie beim Klettern, wenn es nur sie gab und den Fels. Sie stieß die Stöcke in den Schnee und kam flott voran. Als sie in Grays Ferry anlangte, war sie völlig entspannt. Ihr Herz schlug wie befreit, und ihre Muskeln waren warm und geschmeidig. Es war gar nicht so abwegig, Skier zu nehmen, um einen vorgegebenen Bestimmungsort zu erreichen. Zumindest nicht abwegiger als die ihr gestellte Aufgabe.

Rückkehr an den Schauplatz des Verbrechens, nach fast einem Jahr. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Wenn die Staatsanwaltschaft plötzlich einen Beweis hatte, der Steere belastete, dann stammte dieser ganz sicher nicht vom Tatort. Sämtliche Bedingungen hatten sich geändert. Der Überfall auf den Wagen fand im späten Frühjahr und nicht im Winter, um Mitternacht und nicht tagsüber statt. Der ihr erteilte Auftrag war absurd. Dennoch stieg Judy aus den Bindungen, ließ Skier und Stöcke am Randstein liegen und eilte, plötzlich leichtfüßig geworden, zu der Stelle unter der Brücke über der 25th Street, wo der Überfall stattgefunden hatte.

Grays Ferry, ehemals Schlachthausbezirk der Stadt, prägten verwaiste Wohnhäuser, leerstehende Lagerhäuser und Rassenunruhen. Die Brücke über der 25th Street, eine ehemalige Trasse einer durch das Viertel geschlagenen Hochbahn Richtung Westen, war nur noch ein im Verfallstadium befindlicher Übergang nach nirgendwo. Die massiven Betonpfeiler waren zerfressen, die rostigen Armierungsstäbe stachen hervor wie freigelegte Rippen, und aus der Brückenunterseite waren große Stücke herausgebrochen. Aus breiten, gezackten Rissen an den Stellen, wo sich die Verbindungsnähte ausgedehnt hatten und der Beton geborsten war, ragten Eiszapfen. Die Brücke zog sich wie ein langgestrecktes, allerdings niedriges Dach über die 25th Street. Ein rußiges Schild an einem der Pfeiler verkündete WARNUNG – MINDESTHÖHE 4,50 METER.

Ein idiotischer Auftrag. Judy stand direkt unter der Brücke mitten auf der Straße, wo die doppelte Mittellinie unter dem Schnee verschwand, den der Wind hierhergeweht hatte. Zwei Fahrspuren verliefen im Gegenverkehr unter der Brücke, aber wegen des Blizzards fuhr so gut wie kein Auto. Die Brücke schützte Judy zwar vor dem Schnee, aber es zog gewaltig. Ein heftiger Wind brauste zwischen den Pfeilern hindurch, und sie spürte, wie ihr in der eisigen Luft Tränen in die Augen traten. Der Überfall auf den Wagen ihres Mandanten hatte sich auf der rechten, nach Westen führenden Spur ereignet. Judys tränennasser Blick fiel auf die Stelle.

Als sie zum ersten Mal am Tatort gewesen war, hatte ein todbringender Teich aus Blut den rauhen Asphalt besudelt. Judy war noch nie zuvor am Tatort eines Gewaltverbrechens gewesen, und sie hatte lange auf das Blut gestarrt und versucht, einen professionellen Eindruck zu erwecken, was so viel hieß wie, keine Gefühle zu zeigen. Die Polizei hatte den groben Umriß der Leiche auf der Straße nachgeklebt und winzige Karten, gefaltet und numeriert, wie makabre Tischkarten neben einen Blutfleck und eine Geschoßhülse gestellt. Jetzt hatte Schnee den Blutfleck zugedeckt und zweifellos auch jeden eventuell noch vorhandenen Hinweis zugeweht. Mein Gott, war das blöd. Gruselig und blöd.

In der Kälte wurden Judys Muskeln starr, und sie stakste steifbeinig unter der Brücke bis zu der Querstraße, wo sich die Tat ereignet hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was der Staatsanwalt für einen Beweis gegen Steere haben sollte. Möglich, daß Steere überreagiert hatte, aber wer könnte das in so einer Situation gegen ihn auslegen? Im Geist rekonstruierte Judy das Verbrechen. Steere war nach einem Wohltätigkeitsessen im University Museum auf dem Weg nach Hause gewesen. Der Unternehmer hatte keine Verabredung, obwohl er der begehrteste Junggeselle Philadelphias war. Er war auf dem Heimweg zu seinem Haus in Society Hill, aber weil er ein klein wenig zuviel getrunken hatte, war er falsch abgebogen. Das hätte jedem passieren können; Judy hatte sich ebenfalls rettungslos verfahren, als sie zum ersten Mal von Palo Alto nach Philadelphia gekommen war.

Judy blinzelte wegen der Schneeflocken, die sich zahlreich unter die Brücke verirrten. Links von ihr stand ein runder Betonpfeiler, einer aus der Reihe, die sich über die ganze Straße zog. Die Pfeiler waren dick, ungefähr einen Meter zwanzig im Durchmesser, in jedem Fall dick genug, damit sich ein Mann dahinter verstecken konnte. Genau das war Steere widerfahren. Es war nach Mitternacht, und er hatte an der Querstraße unter der Brücke angehalten, weil die Ampel auf Rot schaltete. Steere hatte das Autoradio voll aufgedreht. Das gefiel Judy. Es war das einzige, was ihr an Elliot Steere gefiel.

In jener Nacht waren hier sonst keine Autos unterwegs gewesen, niemand befand sich auf der Straße. Es war warm und schwül, ein Vorgeschmack auf den typischen Sommer in Philadelphia, und Steere hatte das Verdeck seines Cabrios, eines perlweißen zweisitzigen Mercedes, geöffnet. Zur Tatzeit war der Wagen nagelneu, und als Judy ihn sich auf dem Parkplatz der Polizei, wo auch abgeschleppte Wagen abgestellt wurden, angesehen hatte, war sein jungfräulicher Lack von einem Sprühregen getrockneter Blutstropfen befleckt gewesen. Judy, hinter Ihrer Hoheit und dem Blutexperten stehend, hatte sich das Tropfenmuster genau ansehen müssen. Der Sachverständige hatte erklärt, das Muster stimme mit Steeres Angaben bezüglich des Tathergangs überein. Ihre Hoheit hätte ihn postwendend nach Hause geschickt, wenn er etwas anderes gesagt hätte.

Judy stellte sich vor, wie Steere, müde und ein bißchen weggetreten, mitten in der Nacht an der Ampel hinter dem Lenkrad eines teuren Cabrios sitzt. Plötzlich springt ein hochgewachsener Mann hinter einem der Pfeiler hervor. Nach der ersten Schrecksekunde will Steere aufs Gas treten, aber der Mann reißt schon die Cabriotür auf, hält Steere ein Messer an die Kehle und verlangt die Herausgabe des Mercedes. Voller Angst steigt Steere aus dem Wagen, er hat vor zu kapitulieren. Aber für den Fall der Fälle hat er immer seine Waffe bei sich. Der Räuber schlitzt Steeres Wange auf, und Steere sieht sein eigenes Blut in einem Bogen durch die Luft spritzen und spürt den warmen Regen auf seinem Gesicht. Er kämpft um sein Leben. Während die beiden Männer miteinander ringen, löst sich ein Schuß aus der Waffe. Der Gangster sinkt auf die Knie und wird zu dem später auf der Straße nachgestellten Umriß.

Judy fröstelte innerlich, als sie auf den Schnee sah, der wie großzügig verstreuter Babypuder auf der Straße lag, und sich auf dem Weiß das üppig vergossene rote Blut vorstellte. Sie kannte sogar dessen Zusammensetzung: Die Untersuchungen hatten ergeben, daß der Gangster Blutgruppe o hatte und Steere AB. Judys Aufgabe im Steere-Prozeß war es gewesen, sich um die Gutachten und Beweise zu kümmern, aber keine Erkenntnis, die sie daraus gewonnen hatte, half ihr hier weiter. Sie ging in die Hocke und fegte mit der Hand Schnee vom Tatort, aber der Anblick der feinen Struktur der Flocken lenkte sie ab. Seit der Trennung von Kurt, der einige seiner Malutensilien bei ihr zurückgelassen hatte, malte Judy. Sie hatte Freude daran und war überzeugt, daß sie seitdem eine aufmerksamere Beobachterin ihrer Umwelt geworden war.

Judy richtete sich auf und klopfte den Schnee von ihren Knien. Alles war weiß, der einzige Farbklecks war die Ampel an der Querstraße, die von Gelb auf Rot schaltete, wie in der Nacht, als Steere überfallen wurde. Judy beobachtete die Ampel unter der Brücke, die beim Umschalten in kräftigen, sich lebhaft und plastisch vom Schnee abhebenden Farben aufflammte. Am stärksten leuchtete das rote Licht, es ließ die Eiszapfen auf der Metallhaube der Ampel hochrot aufglühen. Das Grün war mosaikartig durchscheinend wie ein grünes Lutschbonbon. Das Gelb brannte einen sonnenähnlichen Kreis in den Schnee; ein dichtes Chromgelb, eine Van-Gogh-Farbe. Judy sah Heuhaufen und Sonnenblumen und das üppige Gold des Strohhuts vor sich, den der Maler auf einem Selbstbildnis trägt. Auf ihren Bildern bekam sie die Gelbtöne nie richtig hin.

Eigenartig. Gelb, rot, dann grün. Judy war es zuvor nicht aufgefallen, und es wäre ihr auch jetzt nicht aufgefallen, wäre nicht der Kontrast zwischen dem weißen Schnee und den Farben gewesen. Unter der Brücke, wo Steere überfallen worden war, waren die Ampellichter seitlich nebeneinander angebracht. Horizontal. Sie waren an Metallrahmen unter der von Pfeilern getragenen Brückendecke befestigt, vielleicht wegen der geringen Durchfahrtshöhe. Dick ummantelte Kabel schlängelten sich zu der Metallverkleidung, in der die Ampelkreise in einer horizontalen Reihe montiert waren. Ganz links saß der rote Kreis, gelb befand sich in der Mitte, das grüne Licht ganz rechts.

Merkwürdig. Judy konnte sich nicht erinnern, an einer anderen Stelle in der Stadt je eine Ampel gesehen zu haben, deren Lichter nebeneinander angebracht waren, zumindest war es ungewöhnlich. Als sie zum ersten Mal hier gewesen war, war es ihr nicht aufgefallen, damals hatte sie sich ausschließlich auf das Blut und die Schreckensszenerie des Tatorts konzentriert. Judy blickte blinzelnd zu der Ampel hinüber, die zurückblinzelte. Vor dem weißen Hintergrund leuchteten die Farben grell auf. Die weiße Welt sah Judy nur als ein leeres Blatt ohne jede Eigenfarbe. Sie konnte sich noch so große Mühe geben, weiß war für sie einfach keine Farbe, bedeutete lediglich das Fehlen von Farbe, und eine Welt ohne Farbe konnte sie sich nicht vorstellen.

Ihr fiel das ärztliche Gutachten über Steere ein, ein Bericht des Krankenhauses, der dem Gericht als Beweis vorgelegt worden war. Nach dem Überfall hatte man Steere in ein Krankenhaus gebracht, wo ihm ein Notfallchirurg den Schnitt unter dem Auge genäht hatte. Ein anderer Arzt hatte ihn einem Sehtest unterzogen und vermerkt, daß sein Sehvermögen verschwommen war. Aber Judy dachte an eine andere Anmerkung aus dem medizinischen Bericht. Dichromasie. Farbenblindheit. Sie hatte Steere später einmal danach gefragt, und er hatte bestätigt, daß er farbenblind sei und nicht zwischen Rot und Grün unterscheiden könne. Judy hatte sich gefragt, wie er beim Autofahren damit zurechtkäme, war aber davon ausgegangen, er wüßte einfach, welches Licht von den dreien oben war. Jeder wußte das. Rot war oben.

Augenblick mal. Judy beobachtete, wie die Ampel unter der Brücke von Rot auf Grün sprang, in seitlicher Reihenfolge. Woher wußte Steere, daß die Ampel rot geworden war, wenn die Lichter nebeneinander angebracht waren? Kein Grund, keine Logik sprach dafür, daß Rot links sein mußte. Genausogut könnte es umgekehrt sein. Ein Farbenblinder konnte es nicht erkennen. Und selbst wenn es Steere gewußt hätte, er hatte es in keinem Gespräch und keiner Vernehmung erwähnt, und er war ausführlich nach allen Details befragt worden.

Judys Herzschlag beschleunigte sich. Wenn Steere nicht sicher sein konnte, ob die Ampel auf Rot geschaltet hatte, warum hatte er dann angehalten, noch dazu in einer derart üblen Gegend? Wenn man nicht hundertprozentig wußte, ob eine Ampel rot oder grün war und weit und breit kein Auto zu sehen war, fuhr man dann nicht einfach durch? War an Steeres Version etwas faul? Hatte er den Mann vorsätzlich umgebracht? War das der Punkt, auf den der Staatsanwalt gestoßen war?

Judy eilte zurück zu der Stelle, wo ihre Skier lagen. Sie wollte mit Mary sprechen, bevor Ihre Hoheit wieder auftauchte. Sie drückte ihre Stiefel in die Skibindungen, schob die Hände durch die Schlaufen ihrer Stöcke und fuhr zurück ins Büro. Es war praktisch schon dunkel, und kein Anzeichen deutete darauf hin, daß der Schneefall nachlassen könnte.

Auf Skiern glitt Judy durch das Schneegestöber, jede Ampel auf ihrem Rückweg zog wie magisch ihren Blick auf sich. Schnee tanzte in roten Spiralen und grünen Bogen um die Ampeln. Flocken wirbelten in bizarren Lichthöfen um die weißen Lichter der Straßenlampen, die sich gegen den nächtlichen Himmel abhoben, als seien sie mit dicken Pinselstrichen aufgetragen worden. Die Szene erinnerte Judy an die Sternennacht, an van Gogh selbst, und sie fragte sich, wie es möglich war, daß jemand, der vollkommen normal zu sein schien, in Wahrheit absolut und komplett wahnsinnig sein konnte.

Freispruch für einen Mörder

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