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Erst als die Uhr im Taurus auf 19.01 Uhr ruckte, kam Marta in Society Hill unweit Steeres Haus an, dabei konnte sie von Glück sagen, daß sie überhaupt durchgekommen war. Der Stau in der Locust Street hatte sich ewig nicht aufgelöst, sie war nur herausgekommen, weil sie irgendwann einen halben Block weit über den Bürgersteig gefahren und in eine Seitenstraße abgebogen war. Eine klirrendkalte Nacht hatte sich herabgesenkt, und es schneite noch heftiger. Die Scheibenwischer gaben ihr Bestes, und die Enteisungsanlage hatte sich endlich mit Erfolg durchgesetzt.

Marta suchte in der Nähe von Steeres Haus nach einer Parklücke. Die am Bordstein geparkten Wagen waren allesamt teure Schneehaufen. Society Hill war das schickste Wohnviertel der Stadt, aber offensichtlich hatte man hier mit Parkplatzproblemen zu kämpfen. Marta umrundete den Block und hielt angestrengt nach einer Lücke Ausschau. Ständig irrte ihr Blick zurück zu den Leuchtziffern der Uhr. 19.04, 19.05, 19.06.

Verdammt. Sie war spät dran. Sie hatte keine Zeit, mit dem dämlichen Wagen in der Gegend herumzugondeln. Es durfte ruhig ein verbotswidriger Parkplatz sein, nur frei mußte er sein. Da. Marta pflügte durch den Schnee und fuhr vor der Bushaltestelle an den Straßenrand. Sie stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen.

Eine kalte Windbö schlug ihr entgegen. Der Wind fuhr durch ihr Kostüm und den Regenmantel. Der Schnee wehte eiskalt gegen ihre Schienbeine und durchnäßte ihre besten Pumps. Marta hätte gerne Stiefel angehabt, aber das letzte Paar hatte sie in ihrer Kindheit besessen. Seit sie eine erwachsene Frau war, ging sie nur noch von der Flughafenlimousine ins Hotel, vom Taxi ins Gerichtsgebäude. In einer ausgefahrenen Reifenspur eilte sie die Straße entlang.

Teure Klinkerreihenhäuser aus der Kolonialzeit mit malerischen Schneehauben auf den restaurierten Fensterläden säumten die schmale Straße. Jedes Haus stand unter Denkmalschutz, aber Marta hatte wenig Sinn für Geschichte. Ihre eigene Geschichte war keinen Pfifferling wert. Ein Therapeut hatte sie einmal als »selbsterschaffen« bezeichnet, und dafür hatte sie ihn gefeuert.

He, Mister! Es schneit wieder stark. Bitte, Mister, anhalten!

Ein blauer Kombi hält. Er ist so groß wie ein Haus. Die Beifahrertür öffnet sich weit, der Mann am Steuer trägt eine Brille mit dunklen Gläsern und eine Krawatte. Marta will nicht einsteigen, obwohl es in dem Kombi warm ist. Der Fahrer ist ihr nicht geheuer. Irgend etwas in seinem Lächeln. Ihre Mutter ist zu betrunken, sie bemerkt nichts. Dem Himmel sei Dank, sagt ihre Mutter, und es beginnt von vorn.

Marta verdrängte die Erinnerungen. Warum wurden sie ausgerechnet jetzt lebendig? Lag es am Schnee? Egal, sie hatte keine Zeit dafür. Als sie an die Straßenecke kam, mußte sie sich zwischen den parkenden Autos hindurchquetschen, und ihre Beine waren hinterher weiß gepudert. Sie trat auf den Gehweg. Die Straßen waren verlassen, aber in den Reihenhäusern entlang der Straße strahlten Lichter. Alle hielten sich in ihren Häusern auf, kuschelten sich zusammen und warteten auf das Ende des Unwetters.

Vorbei an Erdgeschoßfenstern hastete Marta über den Bürgersteig. Durch die Lamellen der Holzläden fiel warmer gelber Lichtschein. In einem Wohnzimmer brannte ein Feuer im Kamin, der Widerschein der Flammen flackerte oben an der hohen Decke. Marta sah die Familien vor sich, wie sie geborgen und selbstzufrieden in ihren Heimen saßen; wohlhabende Familien, mit Schränken voller Essen, Bücherregalen in jedem Zimmer und Bücherstapeln auf jedem Couchtischchen. Vom CD-Player leise Musik von Mozart. Es war reine Phantasie, aber nicht die ihre. Nicht mehr.

Marta war empfindlich kalt, sie lief schneller. Sie ging mit eingezogenem Kopf, um so wenig wie möglich von dem beißenden Schnee abzubekommen, aber auch um ihr Gesicht zu verbergen. Sie mußte damit rechnen, daß Reporter vor dem Haus warteten oder die Bullen. Sie wollte nicht gesehen, schon gar nicht erkannt werden. Die Front Street, in der Steere wohnte, lag gleich um die Ecke. Die Straße verlief in Richtung Schnellstraße und Delaware River, und kaum bog Marta in die Front Street ein, schlug ihr eine feuchte, mit Schnee vermischte Windbö entgegen.

Sie zog ihren Kragen am Hals enger zusammen und visierte Steeres Haus an, das etwa in der Mitte der Straße wuchtig zwischen anderen millionenschweren Häusern thronte. Marta verlangsamte ihren Schritt. Vor dem Haus war keine Menschenseele zu sehen. Ein Auto fuhr langsam die Straße herauf, und Marta versank tiefer in ihrem Wollkragen und wandte das Gesicht ab. Als das Auto an ihr vorbei war und die verschneite Straße wieder ruhig dalag, marschierte sie entschlossen auf Steeres Haus zu.

Es handelte sich um ein renoviertes Haus aus der Kolonialzeit mit Sprossenfenstern, deren Glas Unebenheiten aufwies. Mit seinen drei Stockwerken war es das größte in der Straße, zu protzig für Martas Geschmack. Marta hatte ein Faible für Häuser, sie besaß vier, eine Eigentumswohnung mitgerechnet; Steeres Haus erinnerte sie an ihres in Beacon Hill, in dem es immer kalt, dunkel und zugig wie in einer Burg war. Neben der getäfelten Haustür, zurückversetzt von der Straße hinter einer ein Meter achtzig hohen Ziegelmauer, brannte eine Gaslaterne und erhellte das Haus. Oben auf dem schmalen Mauergrat türmte sich der Schnee, in der Mitte der Mauer war ein Tor aus Eisenstäben eingelassen, das abgeschlossen war.

Während Marta über die Front Street auf das Haus zuging, hoffte sie, daß das Hausmädchen daheim war. Wie käme sie sonst hinein? Im Erdgeschoß und im ersten Stock brannte Licht, ein gutes Zeichen. Marta stand vor dem Hoftor, das zu hoch war, um hinüberzuklettern, selbst wenn sie verzweifelt genug gewesen wäre, den Versuch zu wagen. Sie drückte auf die Klingel neben einer in die Ziegelmauer eingebauten Sprechanlage. Keine Antwort. Sie läutete noch einmal, energischer diesmal.

Aus der Sprechanlage kam ein Knistern, dann erklang die Stimme der Hausangestellten. »Wer ist da?« fragte sie deutlich genug, daß Marta sie verstehen konnte.

»Ms. Richter, Mr. Steeres Anwältin. Ich muß ins Haus. Offnen Sie bitte das Tor.« Es folgte eine Pause, dann ein metallisches Klicken am Riegel des Tores. Das Tor rührte sich nicht, offensichtlich war das Öl durch die Kälte zäh geworden. »Ich versuch’s noch mal«, sagte Marta und versetzte dem Tor einen kräftigen Stoß. Es ging weit genug auf, daß sie hindurchschlüpfen konnte, und sie stieg die paar Stufen zur Eingangstür hinauf, die sich einen Spaltbreit öffnete.

Das Hausmädchen, eingehüllt in eine Strickjacke, die sie eng um ihre Dienstuniform gezogen hatte, stand auf der Schwelle und starrte blinzelnd in den Schnee. Das kalte Licht, das aus der Eingangshalle fiel, zeichnete den Umriß ihrer schmalen, kleinen Gestalt nach. Marta hatte sie einmal gesehen, konnte sich aber nicht mehr an ihren Namen erinnern. »Missa Richter«, sagte die Hausangestellte, eine ältere Frau. Marta erinnerte sich vage, daß sie Polin oder so etwas Ähnliches war.

Marta stand auf der obersten Stufe und stampfte mit den Füßen, damit ihre halberfrorenen Schienbeine auftauten. »Und Sie sind ...«

»Ich bin am Heimgehen. Meine Tochter, sie braucht mich. Morgen ist schulfrei, wegen des Schnees«, schwatzte sie, während sie Marta in die mit Marmorfliesen ausgelegte Halle führte und hinter ihr die Eingangstür zumachte und abschloß. »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«

»Nein, ich behalte ihn an. Sie müssen mir helfen. Ich muß für Mr. Steere etwas holen. Er hat mich gebeten, es ihm zu bringen.«

»Gut, gut, wie Sie meinen«, sagte die Hausangestellte. Ihr Gesicht war gezeichnet von Alter und Müdigkeit, und ihr Kopf mit den krausen grauen Löckchen nickte. Sie schien nervös, aber Marta hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, daß sie Leute nervös machte, und nutzte das meist zu ihrem Vorteil.

»Mr. Steere benötigt einige bestimmte Unterlagen für seinen Prozeß. Er meinte, es sei auch möglich, daß diese bei seiner Freundin sind. Könnten Sie mir, falls ich die Unterlagen hier nicht finde, ihre Telefonnummer geben?«

»Seine Freundin?« Die Hausangestellte runzelte die Stirn.

»Ja. Ich bin eingeweiht, was seine Freundin angeht. Haben Sie ihre Nummer?«

»Nein, ich muß jetzt auch weg. Meine Tochter, sie holt mich ab.« Die Hausangestellte zog ihre Strickjacke noch enger um ihre mageren Schultern.

»Wie heißt seine Freundin doch gleich? Mir ist ihr Name entfallen, und ich muß sie erreichen.«

Sichtlich nervös schüttelte die Frau den Kopf. Sie blickte über ihre Schulter und bog in einen Marmorflur ein. »Ich muß weg.« Sie drehte sich um und eilte davon, aber Marta lief ihr nach.

»Warten Sie doch! Bleiben Sie stehen!« Marta hastete an einem schmalen Aufzug und einer Gästetoilette vorbei. »Wollen Sie Mr. Steere denn nicht helfen? Er nimmt es Ihnen bestimmt übel, wenn Sie es nicht tun.«

Am Ende des Flures gelangte Marta in eine höhlenartige, von Bücherwänden mit deckenhohen Regalen aus Kirschholz umgebene Bibliothek. Bibliotheksleitern aus Holz lehnten an den Regalen, und vor einem kalten Kamin standen lederne Ohrensessel. Kein Mensch war in der Bibliothek. Die Hausangestellte war wie vom Erdboden verschluckt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers öffnete sich eine Doppeltür aus Mahagoni auf ein geräumiges konventionelles Speisezimmer mit Marmorfußboden. Moderne, hochlehnige Stühle standen um einen langen Glastisch, den ein vielzackiger Tafelaufsatz aus Kristall dominierte, der wie eine aus Glas geschnittene Schneeflocke aussah. Ein mattierter Kristallkronleuchter warf Lichtfacetten in den ganzen Raum.

Wo war das Hausmädchen? Marta wurde unheimlich zumute. Sie fühlte den Angriff in dem Bruchteil der Sekunde kommen, bevor sie ein Paar kräftige Hände an der Kehle packten, ihr den Atem abschnürten und sie wie eine Feder in die Luft hoben.

Freispruch für einen Mörder

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