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Um 16 Uhr lagen auf den Gehwegen Philadelphias gut dreißig Zentimeter Schnee, und die funkelnagelneuen Büros der Anwaltskanzlei Rosato & Associates waren verlassen. Die Sekretärinnen waren zeitig nach Hause gegangen, nur noch zwei junge Anwältinnen waren geblieben, weil sie auf die Rückkehr der Geschworenen im Prozeß Commonwealth gegen Elliot Steere warteten. Sie waren von der Kanzlei per Vertrag vorübergehend Marta Richter zugeteilt worden, die, als sie die Verteidigung von Steere übernommen hatte, Rosato & Associates als Anwälte vor Ort engagiert hatte.

»Wir haben alles vermasselt«, sagte Mary DiNunzio, eine der Anwältinnen. Ihr Oberkörper sank auf den Besprechungstisch, und sie vergrub das Gesicht in einem harten Kissen aus Korrespondenz. Ihr marineblaues Kostüm war zerknittert, ihr schmutzig-blondes Haar war wirklich schmutzig und ihr gedrungener Körper total erschöpft. »Wir haben es vermasselt, es gibt kein Zurück. Wir können nichts dagegen tun.«

»Den Prozeß? Keine Spur. Wir haben gewonnen, locker.« Judy Carrier fuhr auf der anderen Seite des Konferenztisches wie eine Wilde mit dem Drehstuhl Karussell. Judy, eine geborene Kalifornierin, war groß und kräftig, ihr Gesicht war großflächig wie ein Teller und kündete eher von Offenheit als von Durchschnittlichkeit. Durch das Herumwirbeln auf dem Stuhl schnellte ein keilförmiges Dreieck heller Haare wie ein Sonnenschirm aus Papier steil nach oben. »Ich wette, sie kommen morgen noch vor dem Mittagessen zu einem Ergebnis, vorausgesetzt, das Gericht macht nicht dicht wegen des Schnees.«

»Nein. Ich meine unser Leben, wir haben unser Leben vermasselt. Wir haben bei Stalling & Webb Karriere gemacht, aber nein. Wir mußten auf eigenen Füßen stehen. Jetzt arbeiten wir für eine psychopathische Zimtzicke. Mittendrin in einer Lawine.« Mary schloß die vor Müdigkeit brennenden Augen. Sie hatte das Gefühl, ihre Kontaktlinsen würden sich in die Hornhaut einbrennen. Heute abend mußte sie sie wahrscheinlich wie Heftpflaster abziehen.

»He, wir haben es wenigstens versucht.« Judy sauste auf ihrem Stuhl unentwegt im Kreis. Die Wände des Besprechungszimmers waren in gebrochenem Weiß gehalten, und der Raum roch nach Latexfarbe. Die vordere, vollständig aus Glas bestehende Wand ging auf die Eingangshalle hinaus. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Druck von Thomas Eakins, ein Rudermotiv, drei weitere aus der gleichen Serie lehnten an der Wand und warteten darauf, aufgehängt zu werden. Die Rosato-Büros waren noch nicht fertig, aber Judy störte das nicht. Ihr machte es Spaß, für eine neue Kanzlei zu arbeiten. Es war wie ein neuer Anfang. »Es schadet nichts, etwas zu probieren, Mare.«

»Ich gebe dir keine Schuld«, sagte Mary, doch das wußte Judy längst. Sie waren gemeinsam durchs Feuer gegangen, es brauchte nicht alles ausgesprochen zu werden.

Judys Stuhl verlangsamte seine Karussellfahrt und kam mit Blick auf das große, von Schneeflocken benetzte Fenster zum Stillstand. »Sieh dir das an!« rief sie und war mit einem Satz am Fenster. Die Bürogebäude der Innenstadt, die Gallery und das Bundesgericht sahen aus wie mit Puderzucker bestäubt. »Ist das nicht wunderschön?«

Mary blinzelte schläfrig auf ihrem Korrespondenzkissen. »Sie haben angesagt, daß es weit über einen Meter geben soll. Das wird ein Chaos.«

»Er ist so weiß!«

»Letztes Jahr konnte ich das Haus nicht verlassen. Die Nebenstraßen wurden nicht geräumt.«

»Die Flocken sind riesig. Fast wie Cornflakes!«

»Man wird das Gericht schließen, und die Geschworenen werden nie wieder auftauchen. Der Prozeß wird nie zu Ende gehen, und ich werde mich umbringen. Tagelang wird niemand meine Leiche finden, und der Boden wird zu tiefgefroren sein, um mich zu beerdigen.«

»Ich finde es aufregend.« Judy preßte ihre großen Hände an die Fensterscheibe. Ihre Handflächen wurden kalt, und ihr Atem hinterließ mitten auf der Scheibe einen wolkigen Fleck. »Der erste ordentliche Schnee, den wir dieses Jahr haben. Ist das nicht ein tolles Gefühl?«

»Ich habe keine Gefühle. Ich bin zu müde für Gefühle.«

»Sei nicht so trübsinnig, Mare.«

»Ich kann nicht anders, ich bin Katholikin. Noch dazu eine, die für Marta Richter arbeitet.«

»Du meinst für Ihre Hoheit.« Judy hauchte noch einen Wolkenfleck auf die Scheibe und begutachtete das Ergebnis. »Cool.«

»Falls du jetzt noch ein lustiges Gesicht da reinmalst, werfe ich dich aus dem Fenster.«

Lachend wandte sich Judy um, die silbernen Reifen an ihren Ohrläppchen baumelten. Ihr Bauernkleid, zu dem sie eine graue Wollstrumpfhose und Clogs trug, schwang um ihre kräftigen Beine. Judy kleidete sich stets alternativ, nicht einmal Marta Richter konnte ihr das austreiben. »Es war ein langer, anstrengender Prozeß, aber jetzt ist er vorbei. Ihre Hoheit wird abfliegen, sobald die Geschworenen zu einer Entscheidung gelangt sind. Wegen der Dinge, die nach dem Prozeß noch anfallen, wird sie telefonieren. Du mußt keine weiteren Anordnungen mehr entgegennehmen.«

»Nein, die reist nie ab. Die geht nie wieder. Wer weiß, wo die herkommt, jedenfalls geht sie nie wieder dahin zurück.«

Judy schüttelte den Kopf. »Was redest du da, Mare? Sie geht zurück in ihr Büro in New York.«

»Sie sagte L. A. Ihr Hauptbüro ist in L. A.«

»Auf dem Briefkopf steht New York. Ich glaube, sie kommt aus New York.«

»Sie ist nicht aus New York, sie hat keinen Akzent. Ist dir aufgefallen, daß sie überhaupt keinen Akzent hat? Die Sekretärinnen glauben, daß sie einen Rhetorikkurs besucht hat.«

»Ich dachte, Rhetoriker kämen von der juristischen Fakultät.«

»Bleib ernst.« Mary hob ihr müdes Haupt von den Papieren. »Wir wissen nicht einmal, wo sie wohnt. Sie hat Häuser in Boston, in New York und in Florida, glaube ich, aber ich habe keine Ahnung, wo sie wohnt. Sie spricht nie darüber.«

»Sie wohnt nicht, sie arbeitet nur. Na und?«

»Deshalb wissen wir nicht, woher sie kommt. Wer ihre Leute sind.«

»Ihre Leute?«

»Ihre Leute«, wiederholte Mary, ohne sich weiter darüber auszulassen. Judy würde es sowieso nicht verstehen, weil sie zu jenen bedauernswerten Menschen zählte, die nicht in Süd-Philadelphias italienischem Viertel aufgewachsen sind. »Wir wissen nichts über ihre Familie, ihre Religion, über gar nichts. Sie ist die weibliche Ausgabe von Jay Gatsby.«

»Ihre Hoheit? Du machst sie viel zu groß. Du verleihst ihr zuviel Macht. Ihre Hoheit ist ein Workaholic und eine Kontrollfanatikerin. Sie schreit grundlos herum und verschlingt Publicity so gierig wie ein Hund sein Fressen. Mit anderen Worten, sie ist Anwältin.«

»Nein, denk doch mal nach. Sie hat nicht eine einzige Freundin oder einen Freund erwähnt. Sie arbeitet allein. Wir haben keine Ahnung, wann sie Geburtstag hat. Denk an meine Worte, sie ist nicht vom Weibe geboren. Zwischen ihren schwarzen Haarwurzeln steht 666 auf ihrer Kopfhaut.«

»Du bist nicht ganz bei Trost. Du leidest unter Prozeßwahn.«

»Denk daran, ich habe dich gewarnt. Du bist gewarnt.«

»Du spinnst.«

Mary zog das in Betracht, gelangte aber zu einem anderen Ergebnis. »Warum bist du nicht müde? Wir haben zusammen an diesem Fall gearbeitet. Warum bin ich immer müde und du nie?«

»Weil ich Sport treibe, du überspannter Knirps. Ich habe dir gesagt, du sollst mitmachen. Ich bringe dir Felsklettern bei.«

»Vergiß es.« Marys Kopf sank wieder auf das Korrespondenzkissen, und sie fragte sich, wann ihr Leben aus den Fugen geraten war. Ihre Kanzlei mit Judy erwies sich als Flop, die Beziehung mit Ned ging schief, und gerade als Mary dachte, schlimmer könne es nicht mehr kommen, beauftragte Marta Richter Rosato & Associates mit dem Steere-Prozeß.

»Dann komm mit mir Ski fahren.« Judy trat vom Fenster weg, ließ sich wieder auf ihren Stuhl fallen und drehte sich hin und her. »Wir machen Langlauf.«

»Nein. Vergiß es.«

»Das wird die schönste Zeit deines Lebens. Wir fahren nach Valley Forge. Da ist es wunderschön im Winter.«

»George Washington war anderer Ansicht.«

»Los, gib deinem Herzen einen Stoß. Nach der Urteilsverkündung. Wir werden höllischen Spaß haben.«

»Sei still. Hör endlich auf, so munter zu sein.« Mary schloß die Augen, und Judy schaute auf ihre schwarze Sportuhr.

»Es ist fast Essenszeit. Ich habe Hunger. Hast du auch Hunger?«

»Nein.« Mary öffnete die Augen einen Spalt, sie befand sich tatsächlich immer noch in einer Anwaltskanzlei und nicht in einem Alptraum. »Ich bin nie hungrig und du andauernd. Ich bin andauernd müde und du nie. So ist das eben. Da kann man nichts machen. Da kann kein Mensch was dran ändern.«

»Wir könnten uns etwas bringen lassen.«

»Da draußen tobt ein Schneesturm, Jude.« Mary schielte sie von der Seite an und zögerte. »Was glaubst du, was sie jetzt machen?«

»Wer? Ihre Hoheit und unser Lieblingsmillionär? Die sexuelle Spannung genießen. Auch wenn du mich für blöd hältst, aber mir würden zwei Monate Vorspiel vollauf genügen.«

»Ich meinte die Geschworenen.«

»Sie beraten, was sonst. Versuchen zu ergründen, wann der Angeklagte seine Anwältin bumst. Wann der Rollentausch stattfindet.«

»Judy, hör auf.«

»Sie wären längst zugange, wenn Steere nicht im Gefängnis säße. Die einzig offene Frage in diesem Prozeß lautet: Wann bumsen sie, und wie? Finden sie eine Möglichkeit, daß sie beide oben sein können?«

»Judy, der Prozeß.« Mary errötete. Sie konnte es im Fluchen mit jedem Prozeßanwalt aufnehmen, für sie bestand kein Zusammenhang zwischen »fucking« sagen und ficken, aber wenn Judy mit ihren sexuellen Anspielungen kam, fühlte sie sich nicht mehr wohl in ihrer Haut.

»Oh, der Prozeß. Das ist ein sicherer Gewinner. Die Jury ist gut zusammengestellt, und der Staatsanwalt hat null Beweise für seine Argumente. Steere wird freigesprochen.«

Da gestattete es sich auch Mary, daran zu glauben. Judy hatte an der Stanford University jede nur erdenkliche Auszeichnung eingeheimst und juristische Artikel veröffentlicht, man hatte ihr sogar ein Referendariat im Büro des höchsten Justizbeamten ihres Staates angeboten. Mary hatte den Verdacht, sie habe den Job bei Rosato & Associates ausschließlich Judy zu verdanken. Judy verfügte über eine scharfe Intelligenz und juristisches Talent, Mary dagegen mußte hart arbeiten, um Resultate zu erzielen, und das tat sie. »Vielleicht kriegen wir einen Bonus«, meinte Mary.

»Von Rosato? Von Bennie Rosato?«

»Könnte doch sein.«

»Sie hat die Kanzlei erst vor einem Jahr eröffnet. Da wird nicht mit Geld um sich geworfen, nicht einmal bei Girls ›R‹ Us.« Damit spielte Judy darauf an, daß Rosato & Associates die erste nur aus Frauen bestehende Anwaltskanzlei in Philadelphia war; fünf Prozeßanwältinnen arbeiteten für die neue Firma. Die Tatsache, daß diese Kanzlei ausschließlich Frauen beschäftigte, hatte Publicity gebracht, aber ob es auch Mandanten brachte, blieb abzuwarten. Steere war der erste große Prozeß der Kanzlei und zweifellos der Grund, warum Bennie Rosato in diesem Augenblick ins Besprechungszimmer trat.

»Hallo, ihr zwei«, sagte Bennie und klopfte an den Türrahmen. Sie war auf dem Weg außer Haus, den Mantel über den Arm gelegt, eine vollgepackte Aktentasche aus Segeltuch über die Schulter gehängt. Benedetta »Bennie« Rosato besaß einen legendären Ruf als Anwältin für Bürgerrechte, und mit ihren ein Meter zweiundachtzig schüchterte sie Mary, die bei ihrem Eintreten ruckartig den Kopf von der Korrespondenz hob, kolossal ein.

»Äh, wir ordnen ... wir ordnen eben die Prozeßunterlagen«, stammelte Mary.

»Stimmt«, sagte Judy mit einem leichten Lächeln. »Wir sind absolut nicht erschöpft oder dergleichen. Wir arbeiten rund um die Uhr, sogar während die Geschworenen beraten.« Grinsend traf der Blick ihrer blauen Augen den von Bennie, und Bennie erwiderte das Lächeln freundlich, wenn nicht herzlich.

»Gewinnen wir, Carrier?«

»Wie könnten wir verlieren, Boss?«

»Das ist der richtige Geist.« Bennie lächelte zufrieden. Offene blonde Haare ergossen sich wellig und nachlässig auf ihre Schultern, ihr nicht unattraktives Gesicht war ungeschminkt. Bennie trug einen schwarzen Hosenanzug aus Wollstoff, bei dessen Kauf sie dem Schnitt, der Paßform oder dem Stil offensichtlich keine übertriebene Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Jeder Zentimeter von Bennie Rosato verkörperte die lässige, pragmatische Sportlerin, die an der High-School ein Sportstipendium bekommen hatte, und genau das war sie. Auf dem College eine der besten Ruderinnen, ruderte sie nach wie vor jeden Tag auf dem Schuylkill River, der sich als schmales blaues Band durch die Stadt zog. »Fiel die Rechtsbelehrung der Geschworenen auf fruchtbaren Boden? Habt ihr erreicht, was ihr wolltet?«

»Ja. Sie machten sogar den Eindruck, als hätten sie alles verstanden.«

»Das wäre das erste Mal. Wie war Martas Schlußplädoyer? Ich wollte es mir nicht entgehen lassen, aber ich hatte einen Termin für eine eidesstattliche Aussage.«

»Sie hat ihre Aufmerksamkeit gefesselt, bis sie anfing, Sunzi zu zitieren. Da bekamen sie glasige Augen.«

Bennie runzelte die Stirn. »Sunzi, den Philosophen? Warum hat sie ihn zitiert?«

Judy verdrehte die Augen. »Keine Ahnung. Er ist Steeres Guru. Wenn man mit Elliot Steere zu tun hat, kommt er früher oder später unweigerlich mit Sunzi daher.«

Mary saß am Tisch und staunte, wie unbefangen Judy sich Bennie gegenüber verhielt. Seit sie in der Firma angefangen hatten, benahm sich Judy eher wie Bennies Partner denn wie eine Mitarbeiterin. Mary vermutete, daß es an der großen Ähnlichkeit lag, die zwischen Judy und Bennie bestand. Beide Anwältinnen und Sportlerinnen und riesenhaft groß, als entstammten sie einer juristischen Eliterasse. Es machte Mary nervös. Auf ihrer Brust unter ihrer Bluse bildeten sich rote Flecken, und sie fragte sich, ob sie nicht besser die Finger von der Juristerei lassen sollte. Sie war zu klein, so fing es schon mal an.

»Alles in Ordnung, DiNunzio?« erkundigte sich Bennie. »Machen Sie jetzt bloß nicht schlapp. Sie sind fast über die Ziellinie.«

Mary nickte forsch, wie sie hoffte. »Mir geht's prima. Alles bestens. Mir geht's großartig.«

»Sie ist fix und fertig«, übersetzte Judy.

»Nicht nachlassen«, sagte Bennie. »Hören Sie, eben hat Marta von unterwegs von einem Münztelefon aus angerufen. Sie ist auf dem Weg hierher und möchte mit Ihnen reden. Sie sagt, es sei wichtig. Sie können sich zur Verfügung halten, oder? Sie wohnen ja beide in der Stadt.«

»Klar«, antwortete Judy, und Mary seufzte. Genauso war es gewesen, als sie bei Stalling & Webb gearbeitet hatte. Marys Wohnung war zu Fuß erreichbar, deshalb wurde von ihr erwartet, daß sie bei jedem Wetter zur Arbeit erschien. Es war so ungerecht. In Gedanken machte sich Mary eine Notiz, ihr Wohnhaus niederzubrennen.

»Gut. Danke.« Bennies Blick überflog den Besprechungstisch. Die Unterlagen des Steere-Prozesses lagen über die ganze Tischplatte verstreut, und Manilahängemappen waren nachlässig in Faltordner gestopft. Die Mitarbeiterinnen konnten die komplette Akte nur so in den Mietwagen packen, hierhertransportieren und die Treppen heraufschleppen. »Räumt lieber auf, Mädels. Bringt das Beweismaterial in Ordnung. Ihr wißt, wie heikel Marta ist.«

»Was Sie nicht sagen«, seufzte Judy, und sobald sich die Tür des Besprechungszimmers hinter Bennie geschlossen hatte, begannen die jungen Anwältinnen aufzuräumen. Rasch standen die fünfundzwanzig roten Ordner mit den Unterlagen der Verteidigung im Prozeß Commonwealth gegen Elliot Steere auf der glänzenden Walnußtischplatte, geordnet nach Korrespondenz und Schriftsätzen, Beweisdokumenten und Anmerkungen. Allein die Zeitungsausschnitte beanspruchten fünf Ordner, und über siebzig auf Styropor befestigte Beweisstücke standen an der Wand unter einer gerahmten Blaupause von einem Ruder. Die beiden Mitarbeiterinnen waren gerade fertig mit ihrer Arbeit, da stürmte Marta Richter herein, und sofort war klar, daß sie nichts weniger interessierte als die Ordnung der Akte.

Marta fühlte sich wieder wie neu. Die endlose Fahrt im stickigen Bus ins Büro hatte ihr Zeit zum Nachdenken verschafft. Sie hatte einen Plan, aber sie brauchte DiNunzio und Carrier dazu.

Marta war noch gar nicht richtig im Besprechungszimmer, da schlüpfte sie bereits aus ihrem feuchten Mantel, bat die Mitarbeiterinnen, sich zu setzen, und erteilte ihnen Anweisungen, ohne ihnen, was Steere anging, reinen Wein einzuschenken. Die beiden würden postwendend zu Rosato laufen, wenn sie wüßten, daß sie Beweise gegen einen Mandanten zusammentragen sollten, und Rosato war eine Widersacherin, auf die Marta gut verzichten konnte. Folglich verpackte Marta ihre Anweisungen an DiNunzio und Carrier als weitere unmöglich zu erledigende Aufgabe nach zwei Monaten unmöglich zu erledigender Aufgaben. Die Mitarbeiterinnen schienen völlig von der Rolle.

»Sie brauchen das wann?« fragte Mary in dem vagen Bewußtsein, daß sie nicht die erste Angestellte in Amerika war, die diese Frage stellte.

Marta sah auf ihre Uhr und verspürte ein nun schon vertrautes Ziehen in der Magengrube. »Es ist fast 16.30 Uhr. Ich brauche das Ergebnis bis 19 Uhr.«

»Bis 19 Uhr?« stöhnte Mary. In ihrem Kopf drehte sich alles, ihre Schultern sanken herab. »In noch nicht einmal drei Stunden?«

»Jammern Sie nicht. Sie müssen schließlich keinen kompletten Schriftsatz aufsetzen. Es geht nicht um das Auffinden von Präzedenzfällen. Gehen Sie die Akte und die Zeitungsmeldungen durch. Notieren Sie, was Ihnen auffällt.«

»Aber das alles nachzulesen kann Tage dauern. Eine Woche. Außerdem muß ich den Antrag in limine aufsetzen, wegen der Fingerabdrücke auf dem Wagen.«

»Der Antrag kann warten. Er ist nicht so wichtig. Er bringt sowieso nichts.«

»Aber das noch ausstehende Beweismaterial muß morgen als allererstes zu den Geschworenen geschickt werden. Heute morgen haben Sie zu mir gesagt ...«

»Mary«, fiel ihr Marta ins Wort, »diese Diskussion dauert länger als die ganze Scheißsucherei. Tun Sie es einfach.«

»Schön.« Mary schluckte das SCHMOR IN DER HÖLLE, DU MISTSTÜCK hinunter, das ihr auf der Zunge lag, und begann so eifrig auf ihrem Block herumzukritzeln, als sei plötzlich eine juristische Erleuchtung über sie gekommen wie der Heilige Geist. Eindeutig nicht für diesen Beruf geeignet, schrieb Mary. Das Kloster wird immer verlockender.

Marta wandte sich an Judy. »Ihre Aufgabe nimmt mehr Zeit in Anspruch, also los. Ich treffe mich mit Ihnen, wenn ich mit Mary gesprochen habe. Sehen Sie zu, daß ich Ihre Resultate bis 20 Uhr habe. Die Zeit müßte reichen.«

»Zeit ist nicht das Problem.« Judy schüttelte den Kopf. »Aber es ist vergebliche Mühe. Ich werde nichts finden. Das ist völlig sinnlos.«

»Ich erkläre es jetzt noch einmal.« Marta hielt sich mühsam im Zaum. Bei dem Druck, unter dem sie stand, fiel es ihr schwer, sich zu beherrschen. In ihrem Kopf tickte eine Zeituhr. Sie hatte keine Zeit für überflüssige Diskussionen. »Der Staatsanwalt kommt nachträglich mit einem Beweis daher, mit dem er angeblich belegen kann, daß Steere nicht in Notwehr gehandelt hat.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Judy.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist vertraulich.«

Judy war mehr betroffen als verärgert. »Uns gegenüber? Wir stehen alle auf der gleichen Seite.«

»Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, Carrier. Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen herumzustreiten.«

Mary schrieb auf ihren Block: Ich könnte Angies altes Zimmer im Kloster nehmen. Es hat dieses geschmackvolle Kruzifix aus Holz. Der Blick geht auf den Friedhof hinaus, aber ich bin nicht empfindlich. Mir ist alles recht, wenn es nur weit weg ist von dieser Eismaschine.

»Ich möchte mich auch nicht streiten«, erwiderte Judy. Ihre plötzlich höhere Stimme zeugte von Verwirrung, nicht von Widerspenstigkeit. »Ich versuche lediglich, Ihren Gedankengang nachzuvollziehen.«

»Sie sollen nicht meinen Gedankengang nachvollziehen. Sie sollen Ihre Arbeit erledigen.«

»Wie kann ich meine Arbeit tun, wenn ich nicht verstehe, was und wofür?«

»Ihr Job besteht darin, das zu tun, was ich Ihnen sage, und zwar dann, wenn ich es Ihnen sage!« schrie Marta los. Ihr Gesicht lief hochrot an, und an ihrem Hals drohte eine Ader zu platzen. »Ich habe Ihnen gesagt, was Sie wo zu tun haben. Mehr hat Sie nicht zu interessieren. Dafür werden Sie schließlich bezahlt.«

Schwarz steht mir, es macht schlank. Ich brauche nicht einmal ein Doppelbett. Und kein Kabelfernsehen.

Judy schwieg verdattert. Ihre Hoheit verlor die Kontrolle? Da stimmte etwas nicht. Marta schien fast in Panik, aber Judy konnte sich nicht erklären, warum; die Frau hatte sich gerade in einem großen Mordprozeß erfolgreich in Szene gesetzt. Die Zeitungen und Court TV priesen sie als beste Strafverteidigerin des Landes. Judy hätte erwartet, daß sich Ihre Hoheit in ebendiesem Moment diebisch über ihren Erfolg freute. Normalerweise mußten sie bei jedem Furz, den sie ließ, applaudieren.

»Ich brauche ein Ergebnis, Judy.« Marta stand auf und nahm mit einer heftigen Bewegung ihren Mantel vom Stuhl. »Und ich brauche es, bevor der Staatsanwalt morgen früh seinen Antrag einreicht.«

»Dann können wir immer noch darauf reagieren.« Judy kämpfte mit ihrer wachsenden Verwirrung. »Der Richter wird uns Zeit zugestehen, damit wir auf sämtliche eingereichten Anträge reagieren können. Er kann die Verteidigung nicht übergehen.« Judy breitete die Arme aus, die Hände wie flehend nach oben gerichtet.

Mary fand, mit ausgebreiteten Armen sähe Judy wie die Muttergottes aus. In Marys Augen sahen alle Mitarbeiterinnen einer Anwaltskanzlei von Zeit zu Zeit aus wie die heilige Mutter. Wie Bittstellerinnen, die um Gnade flehten und keine bekamen. Sie schrieb: Ich nehme Judy mit ins Kloster. Sie muß dann allerdings auf einige Ausdrücke verzichten. Die Sache mit dem Schweigegelübde ist überhaupt ein Problem.

Wütend zerrte Marta ihren Trenchcoat über die Schultern. »Haben Sie nicht kapiert? Ich denke nicht daran, mich von diesen Hanswursten überfahren zu lassen. Ich bin nicht da, wo ich heute bin, weil ich mich von einem Bezirksstaatsanwalt überfahren lasse. Wenn die etwas gegen Elliot Steere in der Hand haben, will ich es wissen, und ich will es dann wissen, wenn die es wissen.«

»Wir haben nicht die Mittel, die denen zur Verfügung stehen! Die Staatsanwaltschaft beschäftigt bei diesem Prozeß dreißig Anwälte, plus Polizei.«

»Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig!« brüllte Marta, der es endgültig reichte. »Sie haben einen Job, also tun Sie ihn gefälligst und halten Sie den Mund!«

Judys Gesicht brannte, als hätte man sie geschlagen. Sie erhob sich und schleuderte Marta, die auf der anderen Seite des Tisches stand, entgegen: »Was, wenn ich mich weigere?«

»Dann sind Sie raus aus dem Prozeß, und Mary muß die Ihnen zugeteilte Arbeit und die ihre erledigen. Bis 20 Uhr.«

Heilige Maria Mutter Gottes. Erschieß mich auf der Stelle.

Freispruch für einen Mörder

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