Читать книгу Freispruch für einen Mörder - Lisa Scott - Страница 9
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ОглавлениеMarta steuerte ihren Mietwagen, einen Taurus, in den Schneesturm, der durch die Locust Street tobte. Dichte Flocken wirbelten gegen die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, und die Enteisungsanlage surrte so laut wie ein Fön. Trotzdem blieben die Fenster beschlagen. Der Verkehr schlitterte und rutschte zum völligen Stillstand, ein Stau bildete sich. Die Auspuffgase formten Schadstoffwolken, die über der gesamten Länge der Straße aufstiegen. Marta schaute auf die Autouhr. 17.35 Uhr. Ihre Finger krampften sich um das Lenkrad, und sie drückte auf die Hupe, um dem Subaru vor ihr Beine zu machen. »Beweg dich, du Arschloch!« schrie sie, und ihre Stimme hallte laut im Wageninnern wider. »Fahr schon!«
Marta hupte erneut, aber nichts geschah. Es machte sie wahnsinnig, daß sie etwas tat und nichts damit in Gang setzte. Marta war gewohnt, daß stets eine Reaktion der gegnerischen Anwälte und der Richter, der Mandanten und der Presse erfolgte. Vor Gericht und sogar in der Liebe, so selten sich diese auch einstellte, gelang es ihr stets, Dampf zu machen. Marta hatte sich zu einem menschlichen Katalysator stilisiert, aber da stand sie nun, hupte wie eine Verrückte, und der Verkehr beachtete sie nicht. Niemand erwiderte ihr Hupen, noch nicht einmal einen einzigen Stinkefinger zeigte man ihr. Sie drückte wieder auf die Hupe, lauter diesmal. Länger, um eine Reaktion zu erzwingen. Aber es kam keine.
Marta auf ihrem Fahrersitz versuchte sich zu entspannen. Sie trommelte mit den Fingern. Sie summte unmelodisch. Sie versuchte sogar, die Falte auf ihrer Stirn glatt zu reiben. Daß sie wußte, warum sie sich so verhielt, brachte sie noch mehr in Rage. Es war eine Reaktion auf Jahre der Stagnation, in denen, egal, was sie tat, nichts passierte, auf Eltern, die nur dasaßen und tranken und die Zeit verstreichen ließen, deren Leben verklang wie ein sinnloser Satz. Und egal, wie oft Marta gebettelt, geschrien und ihre Flaschen versteckt hatte, nichts hatte sich je geändert. Die Richters wohnten in den Wäldern bei Bath in Maine; Martas Vater arbeitete dort im Luftwaffenstützpunkt. Er verlor seinen Job, als sie sechs Jahre alt war, weil es ihr nicht gelungen war, ständig seine Flaschen zu verstecken, und er trank sich zu Tode, als Marta längst aufgehört hatte, mit ihm und seinem Whiskey Versteck zu spielen.
Von da an übernahm Martas Mutter die Rolle der Ernährerin. Sie schleppte die Zehnjährige zum Straßenrand. He, Mister! Sir! Die Autos sausten vorbei. Anhalten! Bitte! He! Sobald ein Wagen hielt und die Beifahrertür sich einen Spalt öffnete, begann die Mutter ihre Masche abzuziehen. Marta flehte, damit aufzuhören, aber es änderte nichts. Nichts änderte sich, gar nichts, bis zu dem blauen Kombi. Dann hörte es auf, zumindest für Marta.
Mit dreizehn Jahren saß sie hinter dem Steuer des verbeulten Valiant und fuhr in die Stadt, um Milch, Zigaretten und noch mehr Fusel zu besorgen. Die Polizisten in der Kleinstadt hielten sie nicht an, denn sie kannten ihre Mutter, es war sicherer, ein Kind fahren zu lassen als eine Säuferin, besonders, wenn das Kind Marta Richter hieß. Ein Meter zwanzig groß und auf sich gestellt. Nicht, daß Marta ihren Eltern Vorwürfe machte oder sich selbst bemitleidete. Im Gegenteil, das hatte sie zu dem Menschen geformt, der sie heute war.
TUUT! Sie drückte auf die Hupe. Weil sie nicht anders konnte.
Sie mußte in Steeres Stadthaus in Society Hill. Marta hatte so ein Gefühl; sie ging jede Wette ein, daß in seinem Haus etwas zu finden war, was sie auf eine Spur brachte oder was sich als Druckmittel einsetzen ließ. Außerdem war da eine Sache, in der Marta unbedingt Bescheid wissen mußte. Jetzt, da unmißverständlich klar war, daß Steere kein Interesse an ihr hatte, blieb eine entscheidende Frage offen. An wem war er interessiert?
Marta starrte auf die beschlagene Windschutzscheibe und redete sich ein, ihr Interesse beruhe nur teilweise auf Eifersucht. Wenn sie dahinterkam, mit wem Steere ins Bett ging, konnte sie ihn packen. Marta wußte noch nicht genau, wie, aber sie war lange genug im Geschäft, um zu wissen, daß so eine Information immer wertvoll war. Besonders, da Steere viel daran gelegen war, die Sache geheimzuhalten, sogar ihr gegenüber. Besonders ihr gegenüber. Seiner Anwältin, die er hintergangen hatte.
TUUT! Marta hupte. Sie würde sein verdammtes Haus auseinandernehmen, wenn es sein mußte. Einbrechen und jede Schublade durchsuchen. Jedes Adreßbuch lesen, jeden Kontoauszug und sämtliche Reiseunterlagen einsehen. Steere hatte gesagt, er fliege nach St. Bart. Wie hatte er das vom Gefängnis aus arrangiert? Wo waren die Tickets? Bei welchem Reisebüro hatte er gebucht? Wer begleitete ihn?
Marta mußte das wissen. Die Antworten mußten im Haus zu finden sein. Irgend etwas mußte im Haus zu finden sein. Es mußte einfach so sein.
TUUUTT! Nichts ging mehr. Es war zum Verrücktwerden. Marta reckte den Hals, um zu sehen, warum nichts weiterging, konnte aber über die vor ihr stehenden Autos hinweg den Grund für die Blockade nicht entdecken. Sie schaute nach hinten, vielleicht konnte sie wenden, aber hinter ihr reihte sich Wagen an Wagen. Sie war eingeklemmt. Sie überlegte, den Taurus stehenzulassen, aber damit gewann sie auch nichts. 17.45 Uhr. Marta hatte es eilig. Die Geschworenen berieten eben jetzt, noch vor dem Abendessen. Verdammt!
TUUT! TTTUUUTT.
Ein paar Wagen vor Marta saß Bobby Bogosian seelenruhig auf dem Fahrersitz seiner schwarzen Corvette. Er warf einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, daß die Schlampe noch da war. Sehen konnte er sie nicht, weil sie ein gutes Stück hinter ihm stand und das Rückfenster zugeschneit war, aber alle fünf Minuten hörte er ihre Hupe.
Bobby lachte. Es war nicht seine Schuld, daß er den Verkehr lahmlegte. Er war die Locust Street entlanggefahren, als ihm der Motor abstarb. Wirklich Pech. Wie jeder gute Bürger hatte er den Pannendienst des Automobilclubs angerufen, und man hatte ihm gesagt, er solle warten, vielleicht benötige er nur Starthilfe. Also wartete er und wartete. Er konnte nichts dafür, daß er den Wagen der Schlampe blockierte. Er war ein Autofahrer in einer Notlage.
TUUT!
Bobby vertrieb sich die Wartezeit mit dem Lesen einer Zeitschrift, der neuen Ausgabe der HUNDEWELT. Er las Zeitschriften, als würde es bald keine mehr geben, aber er kaufte sie nie am Kiosk, er abonnierte sie ausschließlich. Es störte Bobby ungemein, wenn er sich vorstellte, daß ein anderer seine Zeitschrift vor ihm in Händen gehalten hatte. Besonders liebte er die Abonnementzeitschriften, die in einer Plastikhülle ankamen, aber das waren nicht viele. Die neue HUNDEWELT war heute mit der Post gekommen, und Bobby hatte sie mitgenommen. Er liebte Hunde.
TUUT! TUUT!
Bobby blätterte nach hinten zu den Anzeigen mit den jungen Hunden. Er wollte sich einen Hund kaufen, einen reinrassigen Hund, sobald er aus der miesen Wohnung ausziehen und sich ein eigenes Haus kaufen konnte. Er dachte an ein Grundstück im Delaware County, auf dem er einen Hundezwinger aufbauen konnte. Dann wäre er ein ... wie hieß das bloß, wenn man einen Zwinger hatte? Ein Züchter.
Bobby wußte bestens Bescheid über Hunde. Er kannte die Namen sämtlicher Rassen, selbst so schwierige wie Vizsla, und er brachte eine recht ordentliche Zeichnung von einem Rottweiler zustande. Bobby ging jedes Jahr, wenn er nicht gerade im Knast saß, zur Hundeausstellung, und er hielt sich den ganzen Tag lang dort auf, trank Erdbeershakes, aß Brezeln und streichelte die Köter. Es war toll dort, weil man mit den Züchtern zusammenkam. Es gab immer jede Menge zu futtern in den Gängen zwischen den Käfigen, und sie waren wie eine richtige Gemeinschaft.
TUUT!
Bobby wußte, daß er einen guten Hundezüchter abgeben würde. Die jungen Hunde zu verkaufen würde ihm schwerfallen, aber das mußte er rein geschäftsmäßig sehen, er durfte sich nicht zu sehr an sie binden. Er blätterte die Seite um. Da war ein Foto von einem kleinen braunweißen Hund, der auf einer Hundedecke saß. Er sah aus wie der Hund aus der Comedy-Serie Frasier. Bobby war sich ziemlich sicher, daß es sich bei dem Frasier-Hund um einen Jack-Russell-Terrier handelte, und er könnte wetten, daß der Hund auf dem Foto auch einer war. Um sich selbst zu testen, legte er den Daumen über die Bildunterschrift. »Ein Jack-Russell-Terrier«, sagte er laut, um nicht heimlich einen Rückzieher machen zu können.
TUUT! TUUT!
Bobby hob den Daumen und starrte blinzelnd auf die Bildunterschrift. Er war weitsichtig, aber es war ihm egal, und wäre er blind wie eine Fledermaus, er würde nie eine Brille aufsetzen. Bobby hielt die Zeitschrift näher vor sein Gesicht, und die kleinen Buchstaben kristallisierten sich heraus. Jack-Russell-Terrier!
TUUT!