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Der Blizzard legte an Stärke zu, und draußen vor dem Beratungszimmer der Geschworenen im Criminal Justice Center brach die Dunkelheit herein, aber Ralph Merry war zufrieden. Die Geschworenen waren auf dem rechten Weg, nämlich zu einem Freispruch für Steere. Ralph war ein hundertprozentiger Verfechter des Vierten Zusatzartikels und betonte, Steere habe das Recht gehabt, sich bei dem Überfall auf seinen Wagen zur Wehr zu setzen. Außerdem verschaffte ein Freispruch Ralphs Buch einen optimistischeren Schluß.

Den Geschworenen war nicht gestattet, zu diesem Zeitpunkt irgendwelche Verträge abzuschließen, aber Ralphs Frau, Hilda, hatte Anrufe von zwei Literaturagenten aus New York erhalten, die behaupteten, mehrere Verlagshäuser hätten Interesse an einer Insiderstory über den Steere-Prozeß. So nannten sich Verlage selbst – Häuser. Ralph war das egal. Solange sie eine sechsstellige Summe ausspuckten, konnten sie sich nennen, wie sie wollten. Trotzdem, er hatte nicht vor, einen Vertrag mit irgendwelchen Häusern zu unterzeichnen, bevor nicht fest vereinbart war, daß sein Foto auf den Umschlag kam. Auf dem Buch von General Schwarzkopf war auch ein Foto vom General. Ralphs Buchvertrag stand praktisch nichts mehr im Wege, bis auf Kenny Manning, der sich vehement für einen Schuldspruch einsetzte.

»Der Mann ist schuldig!« verkündete Kenny. Er war von seinem Stuhl aufgesprungen und beugte sich, auf seine kräftigen Arme gestützt, über den Tisch, so daß sein Gesicht hur knapp von dem des verdatterten Christopher Graham entfernt war. »Der Bruder ging auf das Auto zu, der Mann hätte bloß weiterfahren brauchen. So sieht's aus. Er hätt ihn nicht abknallen müssen!«

»Verdammt richtig«, setzte Lucky Seven hinzu.

Christopher, hinter seinem Stuhl stehend, gewann seine Fassung wieder und straffte die breiten Schultern. Er hatte wenig Kontakt mit Schwarzen, aber er ließ sich von nichts und niemandem einschüchtern, das weniger als eine Tonne wog. »So können Sie an die Sache nicht herangehen, Kenny. Versuchen Sie, sich in Steeres Lage zu versetzen.«

»Vergiß es, Mann. Steere hatte einen SL600. Einen Zwölfzylinder! So ein Auto klettert auf Bäume.«

»Stimmt.« Lucky Seven nickte zustimmend, aber Kenny beachtete ihn nicht.

»Wenn ich so ein Auto hätt und irgendein verrückter alter Depp kommt auf mich zu, tät ich Leine ziehen, dann tät er rotieren.«

»Wenn ich so ein Auto hätte«, fügte Lucky Seven hinzu, »wär ich nicht hier

Megan hätte gelacht, wenn sie nicht solche Angst gehabt hätte. Sie hatte für einen Freispruch Steeres gestimmt, wollte aber lieber nicht dazu stehen, solange das so weiterging. Der Streit eskalierte. Sie sehnte von Herzen ein Ende des Prozesses herbei. AOL hatte ihre E-Mail bereits gelöscht. Megan hätte zu gerne gewußt, ob der Typ, den sie im Chatroom getroffen hatte, ihr geschrieben hatte. Er hatte sogar eine eigene Homepage. So was schätzte Megan an einem Mann.

Christopher blieb auf Kenny fixiert. »Aber Steere hatte Angst. Er geriet in Panik.«

»Dazu gab's keinen Grund!« rief Kenny. »Der alte Depp war bloß besoffen. Der hätt keiner Fliege was zuleide getan! Das war doch bloß ein alter Mann, der sich dicke getan hat!«

Bei dem an diesem Punkt erreichten Dezibelpegel zuckte Megan zusammen, und Nick wurde immer nervöser. Er konnte nicht fassen, daß all das wirklich stattfand. Die Abstimmung, das Geschrei. Er hatte nie etwas ohne Antoinetta entschieden. Sein Magen brachte ihn um.

»Meine Herren«, mischte sich Mrs. Wahlbaum ein und erhob sich an der Mitte des Tisches, in einem strammsitzenden Strickkleid, das sie stämmig aussehen ließ und ihren üppigen Busen flach drückte – eine Matrone als Zünglein an der Waage zwischen Christopher und Kenny. Sie streckte beide Arme aus, als wollte sie die Männer voneinander fernhalten. »Meine Herren, bitte. Alles hat zwei Seiten. Wir müssen darüber diskutieren wie zivilisierte Menschen, das heißt, wir setzen uns an den Tisch und schreien nicht herum. Sie sind ruhiger, wenn Sie sitzen, glauben Sie mir. Es liegt an Ihrer Körpersprache. Ich finde, es ist eine Schande, daß dieser obdachlose Mann erschossen wurde, aber ich ...«

»Ich habe nicht mit Ihnen geredet, Frau Lehrerin.« Ruckartig fuhr Kennys Kopf mit den kurzgeschnittenen Haaren zu Mrs. Wahlbaum herum. »Halten Sie sich raus«

»Einen Moment mal, Kenny«, sagte Ralph.

»Schon in Ordnung, Ralph.« Mrs. Wahlbaum brachte ihn mit einer Bewegung ihrer runzligen Hand zum Schweigen. Sie wußte, wie man mit rauhen Jungs fertig wurde, man mußte fest bleiben. »Warum setzen Sie sich nicht? Christopher? Kenny? Setzen Sie sich einfach hin, alle beide.« Sie fuchtelte so heftig mit ihren Armen zu den beiden Männern hin, daß sie spürte, wie das Fett an ihren Oberarmen wabbelte. Altweiberarme, hatte ihre Schwägerin gesagt, aber wenn es nach ihr ginge, konnte diese unmögliche Person geradewegs zur Hölle fahren.

Nick wurde von Minute zu Minute unruhiger. Er hatte ein paar Magentabletten gelutscht, trotzdem brannte sein Magen wie Feuer. Es behagte ihm nicht, daß seine Frau nicht da war. Er war seit zweiundvierzig Jahren verheiratet, und Antoinetta hatte sämtliche Entscheidungen getroffen. Die Rechnungen bezahlt, die Mahlzeiten gekocht, die Mädchen großgezogen. Nick hätte zu gerne etwas, um sich ein bißchen zu entspannen. Er hätte zu gerne ein bißchen Milch. Milch sollte angeblich gut sein bei Magengeschwüren. Oder vielleicht ein Gläschen guten, kalten Anisette.

Christopher schaffte es, seine volle Größe auf dem harten Stuhl unterzubringen, aber Kenny rührte sich nicht. »Was?« sagte Kenny mit einem ungläubigen Lachen zu Mrs. Wahlbaum. »Frau Lehrerin, wenn Sie glauben, daß Sie Kenny Manning sagen können, was er zu tun hat, dann wird's Zeit, daß Sie mal was kapieren.«

»Kenny, ich bin vierzig Jahre älter als Sie. Sie sollten mir lieber etwas Respekt entgegenbringen.«

»Respekt?« Kenny lächelte drohend. »Ihnen Respekt entgegenbringen?«

»Hängt wieder mal die Expertin raus«, brummte Mr. Fogel. »Die Expertin fürs Hinsetzen. Sie weiß alles übers Hinsetzen. Sie können sie fragen, was Sie wollen.« Er beugte sich zu Wanthida. »Hier drin sind Irak und Iran versammelt, und sie glaubt, wenn sich alle hinsetzen, sind sie friedlich. Einfach so, automatisch.«

»Ich strafe Sie mit Mißachtung, Mr. Fogel«, fuhr ihn Mrs. Wahlbaum an. Für Unruhestifter war es das Schlimmste, wenn sie nicht beachtet wurden. »So, Kenny, setzen Sie sich. Hinsetzen, hinsetzen, hinsetzen!«

»Sagen Sie mal, haben Sie den Verstand verloren?« zischte Kenny, sein Lächeln erlosch. »Für wen halten Sie sich eigentlich, daß Sie glauben, mich herumkommandieren zu können?«

Ralph gelangte zu dem Schluß, daß er eingreifen mußte, sonst wäre Mrs. Wahlbaum tot. »Kenny«, sagte er, »erklären Sie uns, warum Steere Ihrer Meinung nach schuldig ist. Sie können stehen bleiben oder sich hinsetzen, ganz wie es Ihnen beliebt. Legen Sie Ihren Standpunkt dar, wie es die Anwälte gemacht haben. Wir hören Ihnen zu. Das hier soll so was Ähnliches wie ein Austausch unter Anwälten sein.«

»He, Großschnauze, laß meinen Kumpel in Ruhe.« Lucky Seven lachte nervös auf.

Isaiah Feller hielt sich heraus und schwieg. Er hatte bei der ersten Abstimmung für nicht schuldig votiert, obwohl Kenny stocksauer wäre, wenn er das wüßte. Nach Isaiahs Überzeugung hatte Steere lediglich sein Leben und sein Eigentum geschützt. Es spielte keine Rolle, wer schwarz und wer weiß war. Steere als Mensch hatte das Recht auf Notwehr.

»Das war kein Befehl, Kenny, es war eine Bitte«, versuchte ihn Mrs. Wahlbaum zu besänftigen. »Bitte. Wir müssen vernünftig miteinander reden, alle. Darüber diskutieren. Uns hinsetzen.« Ihre Knie zitterten leicht, und sie entschied, dies wäre der richtige Zeitpunkt, sich zu setzen. »Sehen Sie?«

Kenny war der einzige, der noch stand. Immer noch stützte er sich am anderen Ende des Tisches vorgebeugt auf seine Arme. Den Teufel würde er tun und sich hinsetzen, bloß weil irgendeine dahergelaufene jüdische Lehrerin das wollte. Sie respektierte ihn nicht, aber seine Arme ermüdeten langsam. Im Zimmer herrschte abwartendes Schweigen. Alle lauerten.

Nick hätte zu gerne nichts gesehen und nichts gehört. Wenn die Streiterei endete, kam es wieder zur Abstimmung, und er mußte ganz allein entscheiden. Bei der letzten Zusammenkunft mit Antoinetta hatte sie gesagt, er solle für schuldig stimmen. Sie sagte, Mr. Steere sei ein Gauner, die Trolios hätten ihr Haus für ein Butterbrot an ihn verschleudert. Aber wenn Nick für schuldig stimmte, stellte er sich gegen alle anderen Weißen. Er wußte nicht, wie er abstimmen sollte. Ob er, wenn man ihm das Blatt Papier reichte, schreiben könnte: ICH WEISS ES IMMER NOCH NICHT?

In der Zwischenzeit war Kenny zu einer Entscheidung gelangt. Er deutete auf Mrs. Wahlbaum. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe, Frau Lehrerin. Haben Sie mich verstanden?« Sein Bizeps schwoll an, und niemand, auch Nick nicht, entging die kleine Tätowierung auf seinem Arm. Es war ein chinesisches Schriftzeichen, das Nick nicht entziffern konnte, aber das jagte ihm nur noch größere Angst ein.

»Sie hat verstanden«, warf Ralph rasch ein.

Mr. Fogel zuckte die mageren Schultern. »Natürlich hat sie verstanden. Sie versteht alles und weiß alles. Ich wette, sie kann die Zukunft voraussagen.«

»Gut, Kenny.« Mrs. Wahlbaum wußte, daß Kenny sein Gesicht wahren mußte. »Ich verstehe.«

»Das will ich hoffen«, sagte Kenny mit warnendem Unterton.

»Wirklich. Ich verstehe.«

»Gut.« Kenny setzte sich auf seinen Stuhl, als wäre ihm eben erst der Gedanke gekommen, daß man sich auch hinsetzen könne. Lucky Seven wich seinem Blick aus.

Megan Gerrity sah auf ihre Swatch-Uhr. Auf dem Zifferblatt bewegten sich Babyköpfe. Die Uhr war kaum abzulesen, aber sie war so niedlich. »Es ist fast 19 Uhr. Wie lange können wir heute abend noch beraten? Weiß das jemand? Vielleicht einigen wir uns bei einer letzten Abstimmung.«

Kenny verschränkte die Arme wie ein Kind mit antrainierten Muskeln, aber Christopher nickte erfreut. »Wir können beraten, so lange wir wollen«, antwortete er. »Wir sollen dem Richter Bescheid geben und dem Justizwachtmeister sagen, wann wir etwas essen wollen.«

Alle waren dafür, noch einmal abzustimmen, mit Ausnahme von Nick, der das Gefühl hatte, innerlich zu verbrennen. Er trank Wasser, aber auch das vermochte den Brand in seinem Magen nicht zu löschen. Es war, als jage ihm ein Feuerball bis hinauf in die Kehle. Nick konnte sich nicht länger zusammennehmen. Er platzte heraus: »Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Was?« sagte Christopher, und rund um den Tisch klappten elf Münder auf.

Freispruch für einen Mörder

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