Читать книгу Freispruch für einen Mörder - Lisa Scott - Страница 11
8
ОглавлениеMary DiNunzio hockte in ihrem Büro vor dem Computer und starrte schuldbewußt aus dem Fenster in das Schneegestöber hinaus. Es war dunkel, und ihre beste Freundin war draußen in einem Blizzard im übelsten Viertel der Stadt, und das alles ihretwegen. Das Radio auf Marys Schreibtisch meldete, die Temperatur sei auf minus fünfzehn Grad Celsius gefallen, was bei dem eisigen Wind einer Fühltemperatur von unter minus dreißig Grad entspräche. Sie schaltete das Radio aus und verdrängte die Gedanken an Judy, konnte sich aber trotzdem nicht konzentrieren.
Wo war Marta hingegangen? Wie lange hatte sie noch Galgenfrist? Sie schaute auf ihre Wanduhr, eine imitierte Waterford, die ihre Eltern ihr geschenkt hatten. Mist. 18.05 Uhr. Sie mußte sich ranhalten, wenn sie rechtzeitig ein Resultat parat haben wollte. Marta hatte Mary angewiesen, sämtliche Aussagen, die Steere bei der Polizei und gegenüber der Presse gemacht hatte, zu überprüfen und eventuelle Unstimmigkeiten herauszusuchen. Die Anordnung war idiotisch, und wie vorherzusehen, hatte Mary bisher absolut Pech gehabt. Sie war die Akte bereits durchgegangen, aber sämtliche Aussagen stimmten überein. Entmutigt trank Mary einen Schluck Kaffee aus einem Becher mit der Aufschrift FRAUENPOWER. Bei Rosato & Associates war sogar das Geschirr politisch.
1955 von 2014 Artikeln, meldete der Computer.
Marys Verstand brummte vom Koffein. Schon bei Stalling hatte sie viel Kaffee getrunken, aber bei Rosato mit Bennie als Unserer Lieben Frau von den Natürlichen Filtern war Kaffee ein wahrer Kult. Bennies jüngster Kreuzzug galt dem Problem, daß der Kaffee ihrer Meinung nach nicht heiß genug war, so daß sie allen Ernstes verlangte, das Pulver in altmodischen Blechkannen auf dem Elektroherd durchzufiltern, wie es bei Marys Eltern üblich war. Mary schlürfte die kochendheiße Brühe, zuckte vor Schmerz zusammen und drückte auf die ENTER-Taste.
ELLIOT STEERE DES MORDES ANGEKLAGT
lautete die von den Riesenlettern der Zeitung auf Computerformat reduzierte Schlagzeile. Mary überflog den ersten Absatz. Die Zeitungen von Philadelphia, online mit einer eigenen todschicken Website, hatten sich seit Elliot Steeres Aufstieg zum Immobilienhai auf ihn eingeschossen. Mary ging zeitlich zurück.
TRIUMPF-GEBÄUDE DEM UNTERGANG GEWEIHT
verkündete eine Überschrift, und der Reporter erläuterte, daß Steere das 100 000-Quadratmeter-Gebäude 1975, ein Jahr, nachdem es als historisch bedeutsam eingestuft worden war, gekauft hatte, und zwar mit der erklärten Absicht, es zu renovieren und in Eigentumswohnungen umzuwandeln. Aber die Sanierung erfolgte nie, Steere kümmerte sich nicht einmal um die Instandhaltung. Jedes Jahr feuerten die Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden einen Packen Vorladungen wegen Verletzungen von Vorschriften auf ihn ab, ein wahrer Geschoßhagel in einem Formularkrieg. Steere reagierte darauf mit Klagen und Gerichtsverfahren, während deren Dauer alle weiteren Maßnahmen ruhten. In der Zwischenzeit verfiel das historische Gebäude. Dieser Vorgang wiederholte sich in der ganzen Stadt.
Beim Lesen schlürfte Mary den brühheißen Kaffee. Der Artikel enthielt eine Litanei von Beschwerden über Steere. Die Denkmalschützer und die Handelskammer ergingen sich in Beschimpfungen über ihn. Aber niemand äußerte sich lauter und vernehmlicher als der Bürgermeister von Philadelphia, Peter Montgomery Walker.
»Elliot Steere zieht die Stadt auf sein Niveau herab«, sagte Bürgermeister Pete Walker in einem Exklusivinterview dem Verfasser dieses Berichtes. »Im Klartext, in die Gosse.«
Wie die Stabschefin des Bürgermeisters, Jennifer Pressman, mitteilte, besitzt Mr. Steere zur Zeit 150 Immobilien in der Innenstadt, bei 82 liegen Verstöße gegen feuerpolizeiliche Vorschriften sowie gegen Bestimmungen der Bauordnung vor. Außer den Immobilien in der Innenstadt gehören Mr. Steere mutmaßlich noch Hunderte Reihenhäuser in den Außenbezirken, die auf diverse Holdinggesellschaften eingetragen sind. Wie Ms. Pressman sagte, unternimmt das Büro des Bürgermeisters gegenwärtig Anstrengungen zur Überprüfung dieser Holdings.
Mary setzte ihr Gewissen zu. Sie war in Philadelphia geboren und aufgewachsen und ein großer Fan des Bürgermeisters. Ihm war es gelungen, eine Trendwende in der Stadt einzuleiten, und er hatte die Absicht, diesen Weg weiterzuverfolgen. Die Zeitungen bezeichneten seine Pläne als »Philadelphias Renaissance«, und dazu gehörten unter anderem ein gewaltiger Werbeetat für den Tourismus, das Projekt einer Avenue der Künste mit Museen, einer Konzerthalle und Theatern sowie ein Unterhaltungskomplex am Delaware River. Das Juwel in dieser Krone sollte der restaurierte historische Bezirk werden:
Die Stadt hat eine Kampagne zur Wiederbelebung des historischen Viertels gestartet, geplant ist unter anderem der Bau eines 20 Millionen Dollar teuren Besucherzentrums, des sogenannten Independence National Historical Park, das im Anschluß an die Independence Hall und die Freiheitsglocke entstehen soll, auch die benachbarten Bezirke mit Gebäuden aus der Kolonialzeit, Old City und Society Hill, sollen berücksichtigt werden. Die Pläne schließen laut Ms. Pressman ferner den Bau eines Constitution Center an der Promenade im Anschluß an das Bundesgericht ein.
Alle diese Vorhaben hingen vom Erscheinungsbild des Zentrums von Philadelphia ab, das leider in hohem Maße von Elliot Steere geprägt wurde, der sich weigerte, die zahlreichen ihm gehörenden Gebäude zu sanieren. Warum? Steere ließ seine Häuser verfallen, bis die Stadt sich bereit erklärte, den von ihm diktierten Preis zu bezahlen, um sie endlich in eigener Regie sanieren zu können. Er wußte, daß seine Holdings die Pläne des Bürgermeisters durchkreuzten, und er dachte nicht daran zu verkaufen, bevor er nicht den höchstmöglichen Preis erzielte.
Eine zweite Welle Schuldgefühl schwappte über Mary. Ihre Heimatstadt versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, und Steere erpreßte die Verwaltung. Fast im Alleingang verhinderte er die entscheidende Wende in der Stadt und torpedierte damit gleichzeitig die Wiederwahl des Bürgermeisters. Mary biß sich auf die Unterlippe. Als sie bei Rosato angefangen hatte, hatte sie gehofft, für die guten Jungs zu arbeiten. Nun leckten die Flammen des Höllenfeuers an ihren Pumps.
Aber Mary mußte sich wieder mit Steeres Aussagen beschäftigen, damit sie Marta etwas zu bieten hatte. Sie ging zeitlich noch weiter zurück, arbeitete sich immer tiefer in die Online-Archive. Sie betete, daß Steere im Frühstadium der Ermittlungen etwas Widersprüchliches zu den Medien gesagt hatte. Weiß Gott, er gab tonnenweise Interviews. Seufzend wandte sie sich dem tausendsten Artikel zu.
»Ich habe mich keines der Verbrechen schuldig gemacht, deren man mich angeklagt hat«, sagte Steere zu Reportern. »Wahrlich ein schwarzer Tag, wenn ein Mann sein Leben nicht mehr verteidigen darf, ohne anschließend einer schikanösen Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Anklage erfolgt aus politischen Gründen. Das wissen Sie, und ich weiß es auch.«
»Kein weiterer Kommentar von Mr. Steere«, unterbrach ihn seine Anwältin, die bundesweit bekannte Strafverteidigerin Marta Richter. »Das ist alles für den Moment.«
Mitglieder der Nationalen Vereinigung zum Tragen von Waffen protestierten gestern vor dem Criminal Justice Center gegen die gegen Mr. Steere erhobene Anklage. Ihr Sprecher Jim Alonso sagte:
»Wir stehen für das Recht jedes anständigen Amerikaners ein, sein Leben und seinen Besitz zu verteidigen.«
Ein Foto unter dem Bericht zeigte Marta mit über zwanzig Mikrophonen vor sich und einer entschlossen wirkenden Gruppe dekorativ aufgebauter Waffennarren in weißen T-Shirts hinter sich. Auf der Vorderseite der T-Shirts prangten eine rote Zielscheibe und die Aufschrift VERTEIDIGT VON SMITH & WESSON. Marta hatte die Demonstration zwar inszeniert, aber sie konnte die Waffennarren nicht dazu bewegen, auf die T-Shirts zu verzichten. Mary trank ihren Kaffee, der endlich abgekühlt war. Wann arbeitete sie endlich für die guten Jungs? Oder wenigstens für Demokraten.
Mary drückte eine Taste, rief den nächsten Artikel auf, las weitere Zitate von Steere und ging Artikel für Artikel durch. Sie blickte auf die Uhr. 18.15 Uhr. Mary ging zeitlich immer weiter zurück und las tapfer, aber ihr Mut sank. Sie fand nichts, und die Zeit lief unbarmherzig ab. Ihr Kopf hämmerte, ein Koffeinkater. Trotzdem las sie und las, überflog jeden Artikel bis zum halbfett aufleuchtenden »Steere«.
18.31 Uhr. Fast 19 Uhr, und Mary hatte immer noch nichts. Sie legte eine Pause ein und überlegte noch einmal. Vielleicht suchte sie unter dem falschen Stichwort. Sie hatte die Artikel unter der Suchangabe »Steere« aufgerufen und erhielt eine Lektion in Bürgerkunde. Vielleicht mußte sie es aus einer anderen Richtung probieren. Sie überlegte, wie sie eine neue Suchanfrage formulieren könnte, und ließ auf der Suche nach einer Inspiration den Blick durch das Büro schweifen.
Das Büro war klein, ordentlich und praktisch eingerichtet. An der Wand hing ein alter Quilt neben gerahmten Diplomen von der Penn und der juristischen Fakultät sowie einigen Auszeichnungen. Vor einem Bauerntisch aus Kiefernholz, der ihr als Schreibtisch diente, standen zwei schlichte Stühle; ihre juristischen Bücher standen aufrecht wie Zinnsoldaten auf Wandregalen aus Holz. Mary hatte ihr Büro so ausgestattet, daß es auf Mandanten vertrauenerweckend wirkte, ohne eventuelle firmeninterne Empfindlichkeiten herauszufordern. Die Einrichtung stand symbolisch für die Aussage »BITTE BEAUFTRAGEN SIE MICH, SIE KÖNNTEN ES VIEL SCHLECHTER TREFFEN«. Und genau das hielt Mary von ihren juristischen Fähigkeiten.
Marys Blick fiel auf ihren Schreibtisch, auf dem sich gegen jede Gewohnheit Unterlagen aus dem Steere-Prozeß türmten. Dieser Fall hatte nicht nur ihr Büro völlig in Beschlag genommen, sondern ihr ganzes Leben. Sie haßte diesen Prozeß. Ein Überfall auf einen Wagen mit tödlichem Ausgang. Messer. Schußwaffen. Mary wurde übel, wenn sie an die Polizeifotos dachte, und der Anblick der Fotos von der Autopsie tat ihr weh. Mary hatte zu viele Tote gesehen; ihren Mann, später noch mehr. Der Steere-Prozeß trug nicht dazu bei, über diese Erinnerungen hinwegzukommen. Der nächste, der etwas von »Heilungsprozeß« zu ihr sagte, riskierte eine dicke Lippe.
Sie starrte auf die Steere-Akte und warf einen raschen Blick auf das Foto des Obdachlosen, der in der Haltung eines Fötus zusammengesunken auf der Straße lag. Die Augen des Toten waren offen, sein Mund war eine qualvoll verzerrte dunkle Öffnung inmitten eines dichten Bartes. Widerspenstige Haarsträhnen waren durchtränkt von Blut. Er trug unförmige Hosen, aber kein Hemd. Er hatte weder Ausweispapiere noch eine zuletzt bekannte Adresse, weder Freunde noch Verwandte. Die Polizei hatte seinen Namen von den Leuten, die in der Nachbarschaft der Brücke über der 25th Street wohnten.
Er hieß Heb Darnton. Mary hatte sachdienliche Hinweise bezüglich seiner Person gesucht und die Anwohner befragt. Sie hatten ihr erzählt, Darnton habe unter der Brücke gehaust, die meiste Zeit betrunken. Oft pöbelte er den vorbeifahrenden Wagen hinterher, aber niemand hätte gedacht, daß er irgend jemandem ein Leid zufügen könnte. Die Schwarzen reagierten mit Empörung, als Steere ihn erschossen hatte. Sie forderten, daß Steere des Mordes angeklagt wurde, und demonstrierten vor dem Criminal Justice Center, eine Gegenbewegung aus der Innenstadt zu der der weißen Waffennarren aus der Vorstadt. Bereitschaftspolizei mit deutschen Schäferhunden mußte ausrücken, um die Ordnung zu wahren; für die Polizei und die Presse wurde die Identität des Opfers zu einer Nebensächlichkeit, der Mensch wurde mehr und mehr zu einem reinen Symbol. In dem ganzen Tumult geriet Heb Darnton in Vergessenheit, aber Mary vergaß nie ein Opfer und würde auch nie ein Opfer vergessen. Denn einmal war das Opfer jemand gewesen, den sie liebte.
Das Opfer. Vielleicht kam sie damit weiter. Mary löschte die alte Suchanfrage, gab DARNTON ein und drückte START.
Zu Ihrer Anfrage 2238 Artikel gefunden, meldete der Computer.
Uff, nein. Sie nahm sich die ersten paar vor und überflog sie kurz nach Informationen über Darnton. Nichts, der Obdachlose wurde lediglich kurz als Opfer von Steere erwähnt. Sie las die nächsten fünf Artikel. Nichts. Sie engte die Suche auf Heb Darnton ein.
Zu Ihrer Anfrage 1981 Artikel gefunden, lautete die Meldung.
Mary überflog die ersten. Es handelte sich im Prinzip um die gleichen wie bei der ersten Anfrage, nur wurde auch Darntons Vorname genannt. Sie war zu müde, um einen klaren Gedanken fassen zu können, und leerte ihren Becher. Ihr ging der Sprit aus. Lieber Himmel. Was war Heb überhaupt für ein Name? Ein Spitzname? Sie probierte es einfach, gab Heb ein und wartete, während sich die Festplatte abmühte. Ihr Blick fiel auf die Suchanfrage, die sie getippt hatte.
Eb.
Verdammt! Mary würde nie lernen, Schreibmaschine zu schreiben. Sie hatte versucht, es sich mit dem Mavis-Beacon-Programm selbst beizubringen, aber nichts zu machen. Sie hatte sich für diese Software entschieden, weil ihr die hübsche Mavis auf der Schachtel sympathisch war und sie deren unternehmerische Bemühungen unterstützen wollte. Aber Mary fehlte die Zeit, um mit dem Programm zu üben, und zu allem Überfluß kam sie auch noch dahinter, daß die abgebildete Mavis nicht einmal eine richtige Unternehmerin war, sondern nur ein Model. Es war desillusionierend.
Zu Ihrer Anfrage 23 Artikel gefunden.
Mary wollte die Suchanfrage gerade löschen, als ihr Blick auf den ersten Artikel fiel, in dem ein Farmer aus dem Lancaster County in der Nähe von Philadelphia erwähnt wurde, ein Amischer namens Eb Stoltzfus. Wie verlautet, hatten Eb und seine Freunde Probleme mit einem Getreideschädling. Ausgesprochen hilfreich. Mary zögerte einen Moment. Eb. Ebenezer. Sie klickte weiter zum nächsten Artikel. Kein Zweifel.
»Das Lied über Eb Squeezer war mein Lieblingslied«, sagte Jillian Cohen, eine Zweitklässlerin an der Gladwyne-Grundschule. »Es hat mir vom ganzen Liederabend am besten gefallen.«
Das Mädchen sprach von »Ebenezer Squeezer«. Schlagartig erwachte Marys Interesse. Eb, nicht Heb? Ebenezer Darnton. Vielleicht hieß der obdachlose Mann in Wahrheit so. Er hatte den Leuten in der Straße seinen Namen lediglich gesagt, niemand kannte den Namen aus einer anderen Quelle. Vielleicht hatten die Anwohner Heb verstanden, obwohl er Eb gesagt hatte. Die Polizei war bei der Feststellung seiner Identität nach Schema F vorgegangen, Mary war bei ihrer Umfrage in der Nachbarschaft gründlicher gewesen. Sie gab Ebenezer Darnton ein und drückte START!
Zu Ihrer Anfrage keine Artikel gefunden.
Mist. Es war 18.50 Uhr. Vielleicht verspätete sich Marta. Vielleicht fiel Marta tot um. Denk nach, Mädchen. Vielleicht ist die Suche zu begrenzt, nimm einen größeren Zeitraum. Mary ließ alle Archive von 1950 bis heute durchsuchen.
Zu Ihrer Anfrage keine Artikel gefunden.
Was nun? Ein letzter Versuch. Sie tippte Ebenezer und drückte START!
Zu Ihrer Anfrage drei Artikel gefunden.
Jawohl! Mary rief den ersten Artikel auf. Eine Polizeimeldung vom 7. Februar 1965. Ihr Herz schlug erwartungsvoll, bis sie las:
Von einem Parkplatz an der Joshua Road in Plymouth Meeting wurde ein brauner 1964er Oldsmobile gestohlen. Ebenezer Sherry vom Polizeirevier in Plymouth Meeting sagte, es sei dies das zwölfte Auto, das dieses Jahr in der Stadt gestohlen worden sei, und er äußerte die Befürchtung, inzwischen müsse man sogar in den Außenbezirken Philadelphias mit einer zunehmenden Tendenz bei Autodiebstahl rechnen.
Eine Kurzmeldung. Verbrechen breitet sich bis in die Vorstädte aus. Seufzend betätigte Mary eine Taste, und der zweite Artikel erschien auf dem Monitor. Vielleicht war das Ganze überhaupt eine Schnapsidee.
Ebenezer Yoachim, 68, starb heute im Genesungsheim Sinai Gardens. Mr. Yoachim war Besitzer der Yoyo-Reinigung an der Cottman Avenue und bis zu seiner Erkrankung Bariton im Gesangsquartett »Troubadours«. Mr. Yoachim hinterläßt eine Frau, Rachel Newman Yoachim, und einen Sohn, Samuel.
Mary war alles andere als begeistert. Ein Nachruf. Konnte unmöglich Darnton sein. Blieb noch ein Artikel. Ohne jede Hoffnung drückte sie auf die Taste. Er war vom 12. April 1965 und erschien in der Rubrik, in der über personelle Veränderungen in Firmen berichtet wurde.
Ebenezer Darning, wohnhaft im Stadtzentrum in der Greene Street, wurde zum Mitarbeiter am Kassenschalter in der Hauptstelle der Girard Bank befördert.
Mary stutzte unwillkürlich, die Ähnlichkeit der Namen verblüffte sie. Darning/Darnton. Sie straffte den Rücken und ließ die Seite auf dem Monitor ablaufen. Am Ende der Spalte kam das kleine Foto eines jungen Mannes mit einem zuversichtlichen Lächeln und einem glattrasierten Kinn. Ebenezer Darning, lautete die Bildunterschrift. Der Mann auf dem Zeitungsfoto war schwarz. Wie Darnton. Erstaunlich. Ein Schwarzer zur damaligen Zeit befördert? Es mußte um die Zeit des Bürgerrechtsgesetzes gewesen sein. Damals grassierte die Rassendiskriminierung. Darning mußte über Verstand und Mumm verfügt haben.
Mary beugte sich näher zum Monitor, um das Gesicht des Bankkassierers besser sehen zu können. Aber aus dem winzigen Bild konnte sie nicht viel entnehmen, folglich klickte sie mit der Maus das Vergrößerungsglas an und richtete es auf das Gesicht des Mannes. Die Rasterpunkte vergrößerten sich, doch das Foto war immer noch zu klein. Es hatte den Anschein, als wäre genau im falschen Moment auf den Auslöser gedrückt worden, nämlich als der Mann die Augen zugemacht hatte. Mary probierte es mit einem erneuten Mausklick.
Mein Gott. Sie starrte auf den Monitor, auf dem das vergrößerte Foto erschien. Der Anblick ließ sie zurückzucken, sie drückte sich gegen die Rückenlehne ihres Schreibtischstuhls. Es war ein Foto des jungen Eb Darning, aber es hätte fast ein Autopsiefoto von Heb Darnton sein können mit den im Tod geschlossenen Augen. Das bartlose Gesicht hatte eine unübersehbare Ähnlichkeit in der Augenpartie, der hervortretenden Stirn und der ziemlich großen Nase. Man könnte meinen, es handele sich um ein und denselben Mann, nur gut dreißig Jahre jünger. War Eb Darning mit Heb Darnton identisch?
Um sicherzugehen, mußte Mary das Computerbild mit den Autopsiefotos aus der Akte vergleichen. Hatte sie etwas Wichtiges entdeckt? Hatte das etwas mit dem Beweis zu tun, mit dem der Staatsanwalt plötzlich daherkam? Gab es irgend jemanden auf der ganzen Welt, der besser tippen konnte als sie? Mary sprang von ihrem Schreibtischstuhl auf und eilte über den Flur zu dem Besprechungszimmer mit der Glaswand.