Читать книгу Freispruch für einen Mörder - Lisa Scott - Страница 7
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ОглавлениеChristopher Graham war groß und muskulös. Er hatte ein grobknochiges Gesicht und einen graugesprenkelten Bart, der so gestutzt war, daß er fast auf den Kragen seines Flanellhemdes reichte. Die schwieligen Hände tief in die Taschen seiner Jeans gesteckt, stand er am Fenster des großen, modernen Geschworenenzimmers im Criminal Justice Center und sah hinaus in den Schneesturm. Den Geschworenen im Steere-Prozeß war gesagt worden, daß die Wettervorhersage einen Schneesturm angekündigt hatte, denn für die Dauer des Prozesses wohnten sie abgesondert in einem Hotel, und es war ihnen nicht gestattet, sich über das, was draußen vorging, zu informieren; zwei Monate lang kein Fernsehen, keine Zeitungen, kein Rundfunk. Die anderen Geschworenen beklagten sich ständig darüber, Christopher nicht. Ihm fehlte keineswegs sein Videorecorder, ihm fehlten die Pferde, die er mit neuen Eisen beschlug, und das Geld, das er verdiente. Das letzte, was er vermißte, war seine Frau, Lainie.
»Okay, alles hinsetzen. Hinsetzen«, rief Ralph Merry. Er war jovial, überdurchschnittlich groß und bezeichnete sich als Werbemanager, aber seine Mitgeschworenen vermuteten richtig, daß Ralph nie Manager von irgendwas gewesen war, sondern ein Anzeigenvertreter, dessen Leben aus Abstrampeln und Scotch bestand. Ralph dirigierte die anderen zu den um den rechteckigen Tisch angeordneten Stühlen, wo sie ihre jeweiligen Stammplätze einnahmen. »Erster Punkt der Tagesordnung«, verkündete Ralph, »ist die Wahl eines Sprechers.«
Christopher versuchte, Ralph zu ignorieren und sich auf das Schneetreiben vor dem Fenster zu konzentrieren. Er hatte gewußt, daß es schneien würde. Als sie heute morgen aus dem Hotel traten, hatte die Luft nach Schnee gerochen, und der graue Himmel, oder das, was von ihm noch übriggeblieben war, nachdem die Wolkenkratzer hochgezogen worden waren, hatte nach Schnee ausgesehen. Dort draußen, wo Christopher hingehörte, hatten mit Sicherheit auch die Pferde gewußt, daß es schneien würde. Sie brauchten kein Wetterradar und solches Zeug.
»Möchten Sie nicht der Sprecher sein, Ralph?« fragte Nick Tullio. Nick, ein älterer Italiener aus Süd-Philadelphia, war als letzter als Geschworener ausgewählt worden. Er hatte eine Art Kehllappen und eine auffallend knochige Brust, so daß er mehr Ähnlichkeit mit einem Suppenhühnchen hatte als mit einem erwachsenen Mann. Nick, der sein ganzes Berufsleben lang Schneider gewesen war, trug stets Anzug und Krawatte, so daß er bei fast jedem Anlaß seltsam overdressed wirkte. Sein Daumen war bei einem Unfall mit der Nähmaschine in Mitleidenschaft gezogen worden, und Nick versuchte, ihn vor den Blicken der anderen zu verstecken, mit dem Ergebnis, daß er erst recht die Aufmerksamkeit darauf lenkte. »Sie sollten Sprecher sein. Wollen Sie denn nicht?« fragte Nick an Ralph gewandt.
»Sicher, aber wir müssen darüber abstimmen«, antwortete Ralph.
Nick sah einfältig drein. »Okay. Tut mir leid. Woher soll ich das wissen? Ich habe so was noch nie gemacht.« Ihm ging das alles außerordentlich gegen den Strich. Er wünschte, die Anwälte hätten ihn nie ausgewählt. Nick hatte es nicht fassen können, als man aus allen anderen auf der Liste ausgerechnet ihn auswählte. Jetzt war die Zeit gekommen, darüber zu entscheiden, ob Mr. Steere schuldig war. Was sollte er tun? Wie sollte er abstimmen? Nick wünschte, seine Frau Antoinetta wäre hier.
»Nicht Sprecher. Sprecher oder Sprecherin. Sie müssen Sprecher oder Sprecherin sagen«, berichtigte Megan Gerrity, eine blauäugige Zwanzigjährige mit widerspenstigen, kurzgeschnittenen Haaren. Megan war eine der drei Geschworenen, die über Collegekenntnisse verfügten. Sie hatte ein Jahr lang die Drexel University besucht, bevor sie abgegangen war, um Websites zu gestalten. Bis zum Steere-Prozeß hatten ihre Aufträge kontinuierlich zugenommen, aber die Verpflichtung zur Geschworenen konnte ihr Geschäft ruinieren. Megan lebte nach Internet-Zeit, und ihre Kunden brauchten ihre Seiten meist noch gestern. Sie konnte es sich nicht leisten, hier herumzusitzen. Seit einer Ewigkeit war sie nicht mehr online gewesen. Sie vermißte den Himmel, die Sonne und die Microsoft-Wolken beim Öffnen von Windows 95.
»Sie wollen keinen Mann als Sprecher?« fragte Ralph.
»Sprecherin oder Sprecher«, korrigierte Megan, ohne zu lächeln. Sie hatte Ralph total satt. Immer fing er mit diesem sexistischen Scheiß an, wie in einer schlechten Fernsehkomödie schien er mit ihr hier den Krieg der Geschlechter ausfechten zu wollen. Megan vermutete, daß sie nicht die einzige unter den Geschworenen war, die das bis oben hin satt hatte. Die schwarzen Geschworenen – drei Männer und eine Frau – hatten Ralph von Anfang an nicht leiden können, das war Megan nicht entgangen. »Ich wäre gerne Sprecherin«, fügte sie hinzu.
»Sie?« gab Ralph in gespielter Fassungslosigkeit zurück. Mit einer raschen Geste legte er seine große Hand auf die Brust seines Khakihemdes. Es war Ralphs Lieblingshemd, weil es mit dem, das General Schwarzkopf bei der Aktion Wüstensturm getragen hatte, fast identisch war. Ralph hielt Norman Schwarzkopf für den größten Führer der Vereinigten Staaten seit Patton. Er hatte die Pressekonferenzen des Generals während des Golfkriegs auf Video aufgezeichnet und sich sogar in der Schlange angestellt, um eine signierte Ausgabe seines Buches zu bekommen. »Megan als Sprecher? Kommt nicht in Frage. Keine Frauen und keine Rotschöpfe. Keine rothaarigen Katholen! Alle einverstanden?« Ralph lächelte und die anderen Geschworenen ebenfalls, mit Ausnahme von Kenny Manning.
Kennys Augen waren so dunkel wie seine Haut. Die muskulösen Arme vor der Brust gekreuzt, saß er am anderen Ende des Tisches. Kenny verabscheute Ralphs Witze. Ralph war ihm aus tiefstem Herzen zuwider. Kenny konnte kaum erwarten, daß der verdammte Prozeß endlich vorbei war, damit er Ralphs aufgedunsenes Schweinchengesicht nicht mehr sehen mußte. »Bringen wir es hinter uns«, sagte Kenny. »Mir kommt's so vor, als sitz ich hier schon ewig rum.«
»Und da kommt ganz schön Schnee runter«, bemerkte Ray Johnson, Geschworener Nummer sieben. Ray, der sich Lucky Seven nannte, saß unten am Konferenztisch zwischen Kenny Manning und Isaiah Fellers. Die Gruppe der drei schwarzen Männer war ständig zusammen, sie aßen, saßen und fuhren immer im Bus zusammen, aber der schweigsame Isaiah war so etwas wie das fünfte Rad am Wagen.
Unglücklich schaute Isaiah in das Schneetreiben hinaus. Der Winter verursachte ihm schlechte Laune, er lebte auf den Tag hin, an dem er endlich zu seinen Flitterwochen nach St. Thomas aufbrechen konnte. Jedesmal wenn Partnerbesuch erlaubt war, erzählte ihm seine Braut, wie warm es dort war. Die Information hatte sie aus dem Wetterkanal. Sie schmusten miteinander und malten sich aus, wie sie den ganzen Tag Zusammensein und Pina Coladas trinken würden. Isaiah hoffte, daß es dort eine Bar gab, zu der man direkt vom Pool aus hinschwimmen und wo man mit dem Hintern im warmen Wasser sitzen konnte.
Auch Christopher blickte aus dem Fenster, aber er sah durch das Schneetreiben hindurch. Er sah Pferde, bevor der Schnee kam. Wie sie in ihren Boxen ihre Köpfe vom Heu hoben und in einem langsamen Bogen zu den Fenstern hinschwenkten. Ihre dunklen, feuchten Augen blinzelten nicht, ihr Blick blieb fest. Erwartungsvoll, fast hoffnungsvoll stampften sie mit den Hufen. Christopher wußte genau, wie sie sich verhielten, er war mit Pferden aufgewachsen, und wie sie war er an Warten gewöhnt. Aber niemals hatte er sich erlaubt zu hoffen. Bis jetzt.
»Ich bin genau Kennys Meinung«, sagte Lucky Seven. »Bringen wir's hinter uns, sonst werden wir noch eingeschneit. Wer hält den Mann für schuldig? Ich und Kenny und wer noch?«
»Moment mal«, meldete sich Ralph wieder zu Wort.
Er hielt seinen gelben Bleistift hoch wie ein Szepter der Stärke Nummer zwei. »Wir müssen einen Sprecher wählen.«
Nick Tullio ließ die beiden nicht aus den Augen, er hatte wieder dieses Brennen im Magen. Der Arzt behauptete, er habe kein Magengeschwür, aber Nick wußte es besser. Er mußte eines haben, denn wenn er sich aufregte, bekam er jedesmal dieses Brennen, und jetzt regte er sich sehr auf. Die sturen schwarzen Böcke wollten Mr. Steere ins Gefängnis schicken, aber Nick war sich nicht so sicher. Er war sich in gar nichts sicher. Er sehnte sich nach einem Schluck Wasser, aber er wollte seinen Daumen nicht zeigen, deshalb trank er lieber nicht. Was würde Antoinetta zu alldem sagen?
»So ein Scheiß«, widersprach Kenny. »Also wenn ihr mich fragt, brauchen wir keinen Sprecher. Abgestimmt ist ruckzuck.«
Ralph zuckte zusammen. Er mochte es nicht, wenn in Gegenwart der Frauen geflucht wurde. Er hatte Kenny gebeten, es zu unterlassen, aber das veranlaßte diesen nur dazu, noch häufiger schmutzige Wörter zu gebrauchen. Ralph wußte, denen konnte man nicht mit Vernunft kommen. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem entschiedenen Strich. »Kenny, wir gehen ordnungsgemäß vor. Wir alle wollen abstimmen und heimgehen, aber zuerst müssen wir einen Sprecher wählen.«
»Eine Sprecherin oder einen Sprecher«, sagte Megan, um die Spannung herauszunehmen. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, wenn es rassistisch wurde, und in letzter Zeit wurde es immer rassistisch. Ein Weißer hatte einen Schwarzen umgebracht, anders konnte Kenny es nicht sehen. Gott, Megan wollte endlich nach Hause, da gab es nur sie und ihren Compaq, und sie beide gerieten nie in Streit. »Wie wär's mit einem Pärchen?« spöttelte sie, und die Geschworenen lachten.
Sogar Kenny lächelte. »Wär nicht schlecht. Los, jetzt wird abgestimmt. Elliot Steere ist schuldig. Also eine Stimme für schuldig. Wer noch? Lucky?«
»Ebenfalls.« Lucky Seven schnappte sich das Formular, in das der Spruch der Geschworenen eingetragen werden sollte, von der Mitte des Tisches.
»He!« rief Ralph. »Lassen Sie das liegen. Das muß der Sprecher ausfüllen, und der Sprecher bin ich. Ich nominiere mich selbst.«
Megan schüttelte den Kopf. Wenn Ralph zum Sprecher bestimmt wurde, quasselte er endlos. Es würde ewig dauern. »Nein, das steht mir zu. Ich wäre gerne Sprecherin. Alle, die dafür sind, heben die Hand.«
»Leute, streitet euch nicht«, warf Mrs. Wahlbaum ein. Esther Wahlbaum, inzwischen pensioniert, war Englischlehrerin an einer städtischen High-School gewesen, und sie wußte, wie man im Klassenzimmer für Ruhe und Ordnung sorgte. »Wir machen es, wie es sich gehört. Die Wahl muß geheim sein.«
Martin Fogel, der neben ihr saß, verdrehte die Augen. »Vielen Dank unserer Expertin für alles.« Mr. Fogel, ein alter Uhrmacher, trug eine Zweistärkenbrille mit Metallgestell und ein dünnes weißes Hemd. Ein Strang schütterer grauer Haare lag über seinem Schädel wie ein Sicherheitsgurt. »Die Frau ist wirklich erstaunlich. Braucht man einen Klempner, ist sie Klempner. Will man Tanzstunden, bringt sie einem Foxtrott bei.«
Mrs. Wahlbaum schürzte die Lippen. »Fangen Sie nicht schon wieder damit an, Mr. Fogel. Jeder weiß, daß eine geheime Wahl korrekter ist. Eben wie bei politischen Wahlen auch.«
Gussella Williams rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, ihr Jerseykleid spannte sich über ihren ausladenden Schenkeln. Gussella, eine schwarze, übergewichtige Buchhalterin, haderte immer noch mit ihrem Schicksal, weil sie wegen dieses Prozesses ihren Weihnachtsurlaub hatte drangeben müssen. Sie hatte vorgehabt, nach South Carolina zu fahren und sich ihren neuen Enkel anzusehen, der so rasch heranwuchs wie Unkraut. »Es fällt mir nicht im Traum ein, auch noch seinen ersten Geburtstag zu verpassen«, murrte Gussella, und niemand fragte nach, wen sie meinte, alle wußten längst Bescheid. »Stimmen wir endlich ab. Geheim, öffentlich, mir doch egal. Lieber Gott, laßt uns einfach abstimmen.«
Einvernehmliches Kopfnicken rund um den Tisch, selbst die beiden Geschworenen, die sich stets heraushielten, Wanthida Chandrruagphen, eine schlanke, anmutige Thai, deren Namen keiner aussprechen konnte, und Ryan Parker, ein schüchterner Mann, der in einer Garnfabrik arbeitete, nickten beifällig. Die Geschworenen konnten kaum erwarten, daß der Prozeß zu Ende war, damit sie endlich nach Hause konnten. Ihrer Ansicht nach wiederholten sich die Anwälte ständig, und das vorgelegte Beweismaterial erschien ihnen zu abstrakt. Die Sachverständigen behandelten sie von oben herab, und die Zeugen leierten endlose Monologe herunter. In den letzten beiden Prozeßwochen hatte sich keiner der Geschworenen mehr Notizen gemacht, und die anfängliche Gereiztheit hatte sich in Feindseligkeit verwandelt.
Nick schien merklich verwirrt. »Eine geheime Wahl? Wie sollen wir das denn machen? Wenn wir alle die Augen schließen, wer zählt dann, wer wie abstimmt?«
Bei dem Geschnatter schloß Christopher die Augen. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht soviel Gequassel gehört wie in diesen letzten beiden Monaten. Seit Lainie ihn verlassen hatte, hatte er ohnehin kaum mit jemandem gesprochen. In den Ställen bestand sein einziger Kontakt zu den Pferden, deren Hufe er beschlug. Den reichen Damen, die in khakifarbenen Reithosen und Samtkappen Unterricht im Dressurreiten nahmen, ging er aus dem Weg; er ignorierte die Stallbosse, die eine nervöse Stute beruhigten, während er einen Nagel in ihren Huf hämmerte. Bis vor kurzem hatte ihn keine Frau wirklich interessiert. Christopher hatte das Gefühl, als habe er sein Leben lang nur auf sie gewartet, gewartet wie ein Pferd auf den ersten Schnee. Er wandte sich vom Fenster ab. »Ich würde gerne das Amt des Sprechers übernehmen«, sagte Christopher, und weil er so selten das Wort ergriff, drehten sich alle überrascht zu ihm um.
»Ich finde, das ist eine großartige Idee!« rief Megan, denn dieser Kompromiß könnte Ärger vermeiden helfen. Wer könnte schon Einwände gegen Christopher haben? Er war ernst, gescheit und sah gut aus, wenn man auf Naturburschen stand.
»Fein, Christopher.« Mrs. Wahlbaum freute sich, daß der junge Mann endlich doch noch aus sich herausging. Das war ein Beweis für das, was sie ihrer Klasse immer über Geduld gepredigt hatte.
Über seine verschränkten Arme hinweg starrte Kenny Ralph an, der ihm zunickte und ihm damit stillschweigend die Zusicherung zu einem zumindest vorläufigen Waffenstillstand gab. »Soll mir recht sein«, meinte Ralph. »Sie sind der Sprecher, Chris.«
»Vielen Dank. Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen.« Christopher war zufrieden. Jetzt hatte er eine Aufgabe, ein Ziel. Er mußte alles in seiner Macht Stehende tun, um die anderen zu überzeugen, daß nur ein Freispruch in Frage kam, und das rasch. Er sorgte für sie wie für seine Pferde. Ruhig, ohne Tamtam, ohne Erwartung von Dankesbezeugungen. Er regelte alles für sie.
Für Marta.
»Okay, alle sind einverstanden«, erklärte Christopher. »Dann stimmen wir ab, damit ein Anfang gemacht ist. Jeder schreibt auf, wie das Urteil seiner Meinung nach lauten muß. Schreiben Sie keinen Namen oder dergleichen dazu. Die Stimme ist geheim.«
»Einverstanden.« Ralph nickte. Er begann, Blätter von einem gelben Block abzureißen, und ließ über den Tisch eine Seite auf jeden Geschworenen zurutschen.
»Sollten wir nicht zuerst darüber reden?« fragte Nick, nur um die Sache hinauszuzögern. Er hatte keine Ahnung, wie er abstimmen sollte. Hilfesuchend schweifte sein Blick über die Anwesenden, aber seine Frau befand sich nicht unter den Geschworenen. Sein Magen brannte wie Feuer. »Reden wir nicht darüber? Wenigstens kurz?«
Gussella schüttelte entschlossen den Kopf. »Nein, zuerst wird abgestimmt, darüber waren wir uns bereits einig. Warum noch mehr Zeit verschwenden? Vielleicht sind wir uns ja auch einig, was das Urteil angeht. Hier, Ihr Blatt.« Sie streckte die Hand über den Tisch und schob ihm ein Blatt Papier zu. »Stimmen Sie ab.«
Gehorsam nahm Nick die Seite entgegen, und die anderen Geschworenen griffen nach den gespitzten Bleistiften, die in einer Plastikschale auf dem Tisch lagen. Keiner verschwendete auch nur einen Blick auf das Beweismaterial, das, etikettiert und beschriftet, in einem Stapel mitten auf dem Tisch lag. Keiner sah sich die Fotos der Autopsie an oder zerbrach sich den Kopf über die DNS-Analyse. Die Köpfe der Geschworenen blieben nur zehn Minuten über ihre Blätter gesenkt, dann gaben sie sie ab wie Kinder am letzten Schultag ihre Arbeiten. Christopher öffnete jedes Blatt mit Sorgfalt, strich es auf der nußbaumfurnierten Tischplatte glatt und machte für jede Stimme eine Markierung auf der Tafel hinter sich. Bei jedem Kreidestrich, der kreischend auf die Tafel gemalt wurde, herrschte völlige Stille. Es war, als wäre Steeres Schicksal ihr eigenes.
Christopher entfaltete das letzte gelbe Blatt, sein Gesicht verriet nichts von dem Glücksgefühl, das ihn ergriff. »Eine weitere Stimme für unschuldig«, verkündete er und machte den letzten Strich. Er stellte sich neben die Tafel und zog laut Bilanz. »Es steht neun zu zwei, daß Steere unschuldig ist. Bei nur einer Stimmenthaltung.«
»Dem Himmel sei Dank.« Gussella strahlte. Einer ihrer Zähne im Oberkiefer hatte eine Goldfüllung, und zum erstenmal lächelte sie so breit, daß man sie sah. »Carolina, ich komme.«
»Wie gefällt euch das?« sagte Ralph grinsend, und seine Stimme klang, als gefiele es ihm großartig.
»Wer hat sich enthalten?« fragte Megan verärgert. Das fehlte gerade noch, eine Verzögerung. Mit jedem Wort, das sie hier verlor, verlor sie Kunden. Rasch musterte sie die Gesichter der anderen. So viele alte Leute, die nichts zu tun hatten. Das war das Problem. Und diese Rassengeschichte. Es war offenkundig, wer die beiden waren, die für schuldig gestimmt hatten, nämlich Kenny und Lucky Seven.
Mrs. Wahlbaum schnalzte mißbilligend. »Bitte, Megan, es geht uns nichts an, wer sich enthalten hat. Die Abstimmung ist geheim. Jeder hat das Recht, seiner Überzeugung und seinem Gewissen zu folgen. Auch wenn das bedeutet, daß wir länger hierbleiben müssen.«
Nick Tullio starrte auf seinen Daumen, den er zwischen den wollenen Falten seiner handgenähten Hose vergraben hatte. Er wußte nicht, was er verbrochen hatte, aber er wußte, daß er der einzige war, der ICH WEISS ES NOCH NICHT auf sein gelbes Papier geschrieben hatte. Nick war froh, daß Christopher eine Möglichkeit gefunden hatte, die Abstimmung geheim abzuhalten.
»Eine Stimmenthaltung verstößt gegen die Vorschriften«, meckerte Ralph. »Der Richter hat nicht gesagt, daß man sich der Stimme enthalten darf.«
»Vorschriften?« fuhr Kenny auf. »Es gibt keine Vorschriften. Der Mann weiß es nicht, er weiß es eben nicht.« Sein Blick war während der Stimmenauszählung zunehmend zornig geworden. Kenny war klar, daß er und Lucky Seven die einzigen waren, die für schuldig gestimmt hatten. Isaiah hatte anscheinend die Hosen voll und ICH WEISS ES NOCH NICHT geschrieben. Kenny mußte sich Isaiah heute abend im Fernsehzimmer vornehmen, allein. Sie mußten zusammenhalten. »Der Mann hat das Recht, sich Zeit zu lassen. Sich seine eigene Meinung zu bilden. Die Sache läßt sich verdammt noch mal nicht einfach übers Knie brechen.«
»Das ist richtig«, pflichtete ihm Mrs. Wahlbaum bei. »Diese Beweise mit den Fingerabdrücken sind übrigens immer noch nicht eingereicht worden.«
»Was für Beweise?« fragte Ralph, und Christopher schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern, von welchen Beweisen die Rede war, aber es spielte auch keine große Rolle. Es dauerte bestimmt nicht mehr lange, bis er sein Marta stillschweigend gegebenes Versprechen einlösen konnte. Die Brust schwoll ihm vor Befriedigung. Und Hoffnung.