Читать книгу Das verlassene Haus - Louise Penny - Страница 10

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Sie standen dicht aneinandergedrängt in der Kälte und der Dunkelheit. Der Lichtschein ihrer Taschenlampen hüpfte wild über die Fassade des baufälligen Hauses. Das »Zu verkaufen«-Schild war umgefallen und lag wie ein umgestürzter Grabstein mit der beschrifteten Seite auf der Erde. Als Clara ihre Taschenlampe weiterwandern ließ, entdeckte sie weitere Spuren des Verfalls. Das Haus war verlassen, das wusste sie, aber sie hätte nicht gedacht, dass ein verlassenes Haus so schnell verfiel. Fensterläden hingen lose in den Angeln und schlugen dumpf gegen die Mauern. Einige der Fensterscheiben waren kaputt, und spitze Scherben ragten wie geschliffene Zähne in die schwarzen Löcher. Als etwas Weißes, das zusammengerollt an der Hauswand lag, in den Lichtkegel geriet, setzte ihr Herz für einen kurzen Moment aus. Ein totes, gehäutetes Tier.

Zögerlich ging sie durch den Garten, die Platten auf dem Weg hatten sich verschoben und standen hervor. Dann hielt sie inne und drehte sich um. Die anderen standen noch immer aneinandergedrängt an der Straße.

»Kommt schon«, zischte sie.

»Meinst du uns?«, fragte Myrna wie erstarrt. Sie ließ den weißen Fleck an der Hausmauer nicht aus den Augen.

»Außer uns Häschen ist niemand da«, sagte Gabri.

»Was ist das?« Myrna schlich langsam den Weg hoch, bis sie neben ihrer Freundin stand. Sie deutete mit dem Finger auf die Stelle und merkte plötzlich, dass er zuckte. Sandte ihr Körper ein Signal aus? Einen Morsecode? Wenn, dann wusste Myrna auch, was er bedeutete. Lauf.

Clara drehte sich wieder zu dem Haus um und holte tief Luft, sprach ein kleines Tischgebet und machte einen Schritt auf die Mauer zu. Der Boden fühlte sich matschig an und quietschte bei jedem Schritt. Myrna konnte kaum mit ansehen, was Clara da tat, und wollte losrennen, die Freundin zurückreißen, sie festhalten und umarmen und ihr sagen, dass sie das nie wieder tun durfte. Aber stattdessen sah sie nur zu.

Clara ging zu dem Haus und bückte sich. Dann richtete sie sich wieder auf und zog sich rasch in die relative Sicherheit des Wegs und Myrnas zurück.

»Du wirst es nicht glauben, aber es ist Schnee!«

»Das kann nicht sein. Der Schnee ist doch schon lange geschmolzen.«

»Hier nicht.« Clara kramte in ihrer Hosentasche und zog einen riesigen, schweren Bartschlüssel heraus.

»Und ich dachte die ganze Zeit, du würdest dich freuen, mich zu sehen«, sagte Myrna.

»Ha, ha«, Clara lächelte. Sie war froh, dass Myrna ihren Humor nicht im Dorf zurückgelassen hatte. »Die Immobilienmaklerin war überglücklich, ihn mir zu überlassen. Ich bezweifle, dass sie in den letzten Monaten das Haus jemandem gezeigt hat.«

»Was hast du ihr gesagt?«, fragte Madeleine. Da Clara und Myrna offenbar noch lebten, hatten die anderen beschlossen, sich zu ihnen zu gesellen.

»Dass wir alle Dämonen zusammentrommeln und aus dem Haus vertreiben werden.«

»Und daraufhin hat sie dir den Schlüssel überlassen?«

»Sie hat ihn mir praktisch nachgeworfen.«

Clara steckte den Schlüssel in das Schloss, aber da war die Tür schon aufgegangen. Sie ließ den Schlüssel los und sah zu, wie Schlüssel und Türknauf in der Dunkelheit verschwanden.

»Weshalb machen wir das hier schnell wieder?«, flüsterte Monsieur Béliveau.

»Aus Spaß«, sagte Sophie.

»Nicht alle von uns«, sagte Jeanne, dann umrundete die kleine, farblose Frau das Grüppchen und ging ins Haus.

Einer nach dem anderen betraten sie das alte Hadley-Haus. Drinnen war es noch kälter als draußen, und es roch muffig. Der Strom war schon lange abgestellt worden, und die Lichtkegel aus den Taschenlampen strichen über die Blumenmustertapete, die sich stellenweise von der Wand löste und feuchte Flecken hatte, Wasserflecken, wie sie hofften. Sie trugen die Taschenlampen wie Schwerter vor sich her, als sie tiefer in das Haus drangen, sie verliehen ihnen Mut. Die Dielen knarrten unter ihren Schritten, und aus der Ferne war ein Flattern zu hören.

»Ein Vogel«, sagte Gabri. »Der Arme findet nicht raus.«

»Wir müssen ihn suchen«, sagte Madeleine.

»Bist du verrückt?«, flüsterte Odile.

»Sie hat recht«, sagte Jeanne. »Das ist eine gefangene Seele. Wir können nicht einfach so tun, als wäre er nicht da.«

»Vielleicht ist es überhaupt kein Vogel«, flüsterte Gabri Hazel zu, die immer noch nicht glauben konnte, dass sie hier war.

Eng aneinandergepresst bewegten sie sich wie ein riesiges Insekt weiter. Auf vielen Füßen schlichen sie, verfolgt von vielen Ängsten, durch das feuchtkalte Haus und blieben immer wieder stehen, um sich zu orientieren.

»Es ist oben«, sagte Jeanne leise.

»Wo sonst?«, fragte Gilles. »Sie sind nie gleich bei der Tür. Nie hausen sie im sommerlichen Rosengarten oder im Wagen des Eismanns.«

»Das erinnert mich an ein Spiel, das ich immer mit Peter spiele«, sagte Clara zu Myrna, die sich im Moment nicht die Bohne dafür interessierte. Sie überlegte gerade, ob sie mal wieder die Langsamste von allen war. Vielleicht war Hazel noch langsamer, dachte Myrna hoffnungsvoll, und die Dämonen würden über sie herfallen. Aber Hazel würde garantiert jeden Geschwindigkeitsrekord brechen, um ihre Tochter zu retten. Als Psychologin wusste Myrna, dass Mütter übermenschliche Kräfte entwickelten, wenn es um ihre Kinder ging.

Dieser miese Mutterinstinkt, dachte Myrna, vermasselt mir noch mein ganzes Leben. Sie trat auf die Treppe, der Treppenläufer war abgetreten und mottenzerfressen, und mit jeder fürchterlichen Stufe, die sie erklomm, hörte sie das wilde Schlagen von Flügeln lauter werden.

»Immer wenn wir uns einen Gruselfilm ansehen, wo Leute in ein Gespensterhaus gehen …« Clara redete immer weiter. Gut, dachte Myrna, dann werden sich die Dämonen auf sie stürzen, »… dann spielen wir ›Wann haut ihr endlich ab?‹ Körperlose Köpfe schweben herum, Schmerzensschreie, Freunde ohne Eingeweide, und doch bleiben sie.«

»Bist du fertig?«

»Ja, völlig.« Clara hatte es geschafft, sich noch mehr in Angst zu versetzen, und fragte sich, ob Peter ihr jetzt zurufen würde, dass sie endlich abhauen sollte, wenn das ein Film wäre.

»Dort drinnen.«

»Natürlich«, murmelte Gilles.

Jeanne stand vor einer geschlossenen Tür. Die einzige geschlossene Tür auf dem ganzen Flur. Plötzlich war es still.

Dann war direkt hinter der Tür ein heftiges Flattern zu hören, als würde sich das Ding da drinnen gegen die Tür werfen.

Jeanne streckte ihre Hand aus, aber Monsieur Béliveau trat vor und zog sie mit seiner langen, schmalen Hand vom Türknauf weg. Dann machte er noch einen Schritt und nahm ihn selbst in die Hand.

Er drehte ihn.

Sie konnten nichts erkennen. Die Dunkelheit blieb undurchdringlich, obwohl sie mit aufgerissenen Augen in das Zimmer starrten. Aber etwas dort drin entdeckte sie. Nicht der Vogel, der jetzt wieder still war. Etwas anderes. Der Raum strömte Kälte aus, die von einem Hauch Parfüm begleitet wurde.

Der Raum roch nach Blumen. Frischen Frühlingsblumen.

Clara überkam plötzlich eine tiefe Melancholie, eine Traurigkeit, die aus ihrem Innersten hochstieg. Sie spürte den Kummer des Zimmers. Die Sehnsucht des Zimmers.

Sie holte tief Luft und merkte erst jetzt, dass sie sie angehalten hatte.

»Kommen Sie«, flüsterte Jeanne, ihre Stimme schien in Claras Kopf zu sein, »lassen Sie uns tun, weshalb wir gekommen sind.«

Die anderen sahen zu, wie zuerst Jeanne und dann Clara in die Dunkelheit traten. Dann folgten sie ihnen, und ihre Taschenlampen erhellten den Raum immer mehr. Schwere Samtvorhänge hingen schief an den Fenstern. An einer Wand stand ein Himmelbett, das immer noch mit weißer Spitzenbettwäsche bezogen war. Das Kissen war eingedrückt, so als hätte dort ein Kopf gelegen und hätte sich unruhig hin und her gewälzt.

»Ich kenne dieses Zimmer«, sagte Myrna. »Genau wie ihr beiden«, sagte sie zu Clara und Gabri.

»Das Schlafzimmer der alten Timmer Hadley«, sagte Clara, erstaunt, dass sie es nicht gleich wiedererkannt hatte. Das machte die Angst. Clara war oft in diesem Zimmer gewesen, als sie sich um die sterbende alte Frau gekümmert hatte.

Sie hatte Timmer Hadley gehasst. Das Haus gehasst. Die Schlangen, die sie durch den Keller gleiten hörte. Vor ein paar Jahren hatte dieses Haus sie beinahe umgebracht.

Clara spürte eine Welle der Übelkeit in sich aufsteigen. Den Drang, dieses verfluchte Haus niederzubrennen. Dieses Haus, das all ihren Kummer, ihre Wut und ihre Ängste in sich barg, aber nicht etwa aus Selbstlosigkeit. Nein. Das alte Hadley-Haus brütete diese Dinge aus, dann schickte es Kummer und Schrecken in die Welt, und deren Nachkommen kehrten irgendwann zurück, so wie Söhne und Töchter es an Ostern taten.

»Lasst uns gehen«, sagte Clara und wandte sich zur Tür.

»Das können wir nicht«, sagte Jeanne.

»Warum nicht?«, fragte Monsieur Béliveau. »Ich finde, Clara hat recht. Ich habe auch kein gutes Gefühl bei der Sache.«

»Wartet«, sagte Gilles. Der große Mann stand mitten im Raum, die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt, sodass sein buschiger roter Bart auf die Wand deutete. »Es ist nur ein Haus«, sagte er schließlich mit ruhiger, eindringlicher Stimme. »Es braucht unsere Hilfe.«

»Das ist doch Unsinn«, sagte Hazel und wollte Sophies Hand nehmen, aber das Mädchen schüttelte sie ab. »Ist es nur ein Haus, oder braucht es unsere Hilfe? Es geht nur eins von beidem. Mein Haus hat mich noch nie um Hilfe gebeten.«

»Vielleicht hast du es nur nicht gehört«, meinte Gilles.

»Ich will bleiben«, sagte Sophie. »Und du, Madeleine?«

»Können wir uns setzen?«

»Leg dich doch hin«, sagte Gabri und ließ seine Taschenlampe über das Bett wandern.

»Nein danke, lieber Gabri. Noch ist es nicht so weit.« Madeleine lächelte, und der Bann war gebrochen. Ohne weitere Diskussion machten sie sich an die Arbeit. Sie trugen Stühle im Schlafzimmer zusammen und stellten sie im Kreis auf.

Jeanne legte die Tasche, die sie mitgebracht hatte, auf einen der Stühle und fing an, sie auszupacken, während Clara und Myrna sich umsahen. Sie betrachteten den Kamin mit dem dunklen Mahagonisims und dem ernst dreinblickenden viktorianischen Porträt darüber. Im Bücherregal standen lauter ledergebundene Bände aus einer Zeit, als die Leute wirklich noch gelesen hatten und die Bücher nicht einfach meterweise von einem Innenarchitekten anschaffen ließen.

»Ich frage mich, wo der Vogel ist«, sagte Clara und griff nach einem Nippesstück auf der Kommode.

»Der Arme wird sich vor uns verstecken. Wahrscheinlich ist er zu Tode erschrocken«, sagte Myrna und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in eine dunkle Ecke. Kein Vogel.

»Es ist wie in einem Museum.« Gabri gesellte sich zu ihnen und nahm einen silbernen Spiegel in die Hand.

»Eher wie in einem Mausoleum«, sagte Hazel. Als sie sich wieder umdrehten, stellten sie erstaunt fest, dass der Raum jetzt von Kerzen erleuchtet war. Mindestens zwanzig davon mussten über das Schlafzimmer verteilt sein. Sie brannten zwar, aber aus irgendeinem Grund schien das Licht, das bei Clara und Peter so warm und anheimelnd wirkte, sich in diesem Raum selbst zu verhöhnen. Die Dunkelheit wirkte noch dunkler, und die flackernden Flammen warfen grotesk verzerrte Schatten auf die gemusterte Tapete. Clara hätte am liebsten alle Kerzen gelöscht, um die Dämonen, die sie mit ihren eigenen Schatten erzeugten, zu bezwingen. Selbst ihr Schatten, der ihr so vertraut war, wirkte verzerrt und unheimlich.

Als Clara schließlich in dem Kreis saß, mit dem Rücken zur offenen Tür, bemerkte sie, dass vier Kerzen nicht angezündet waren. Nachdem jeder einen Stuhl gewählt hatte, hatte Jeanne in einen kleinen Beutel gegriffen, nun ging sie um die Stühle herum und verstreute dabei etwas.

»Jetzt ist der Kreis geweiht«, sagte sie, das Gesicht abwechselnd im Schatten und im Licht, die Augen tief in ihre Höhlen gesunken, sodass sie fast wie schwarze Löcher aussahen. »Das Salz segnet den Kreis und schützt alle, die sich darin befinden.«

Clara spürte, wie Myrna ihre Hand ergriff. Das einzige Geräusch war das leise Prasseln des Salzes auf dem Boden. Claras Kopf dröhnte, so angestrengt lauschte sie auf die kleinste Regung. Der Gedanke, dass ein Vogel mit ausgestreckten Krallen und aufgerissenem Schnabel kreischend aus der Dunkelheit hervorstürzen könnte, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn. In ihrem Nacken kribbelte es.

Als Jeanne ein Streichholz anriss, fuhr Clara vor Schreck zusammen.

»Wir laden die Weisheit der Welt in unseren geweihten Kreis ein, um uns zu schützen und zu führen und über unser Werk in dieser Nacht zu wachen, während wir dieses Haus von allen Geistern, die es besetzt halten, befreien. Von dem Bösen, das sich hier eingenistet hat. Von all der Verruchtheit, der Angst, dem Schrecken, dem Hass, die sich mit diesem Haus verbunden haben. Mit diesem Zimmer hier.«

»Hat der Spaß schon angefangen?«, flüsterte Gabri.

Jeanne zündete die letzten vier Kerzen an und kehrte zu ihrem Platz zurück, wo sie sich ruhig hinsetzte. Sie war die Einzige, die ruhig war. Clara spürte, wie ihr Herz pochte und sie stoßweise atmete. Neben ihr rutschte Myrna hin und her, als würden Ameisen über sie krabbeln. Alle waren bleich und starrten vor sich hin. Der Kreis mochte ja geweiht sein, dachte Clara, verängstigt war er jedenfalls bestimmt. Sie sah sich um und fragte sich, wer aus der Gruppe als Erster daran glauben müsste, wenn das ein Film wäre und sie und Peter ihn sich auf dem Sofa aneinandergekuschelt ansähen.

Der ängstliche, hagere Monsieur Béliveau, immer noch in Trauer?

Oder der große, kräftige Gilles Sandon, in den Wäldern mehr daheim als in seinem viktorianischen Haus?

Hazel, so freundlich und großzügig. Oder war sie schwach? Vielleicht aber auch ihre Tochter, die unersättliche Sophie?

Nein. Claras Blick landete bei Odile. Sie wäre die Erste, die verloren war. Arme, kleine Odile. Schon jetzt ganz verloren. Diejenige, die am bedürftigsten war und die am wenigsten vermisst würde. Sie war geradezu genetisch dazu bestimmt, als Erste gefressen zu werden. Clara hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie so grausame Gedanken hatte. Sie gab dem Haus die Schuld. Diesem Haus, das alles Gute fernhielt und das Böse belohnte.

»Jetzt rufen wir die Toten«, sagte Jeanne, und Clara, überzeugt, sich nicht noch mehr fürchten zu können, fürchtete sich noch mehr.

»Wir wissen, dass ihr hier seid.« Jeannes Stimme veränderte sich und wurde kräftiger. »Sie kommen. Kommen aus dem Keller, kommen vom Dachboden. Sie sind jetzt alle um uns herum. Sie kommen den Flur herunter.«

Clara war sicher, Schritte zu hören. Schlurfende, hinkende Schritte auf dem Teppich draußen. Sie konnte die Mumie sehen, die Arme ausgestreckt, eingewickelt in schmutzige, halb verfaulte Verbände, wie sie auf sie zuschlurfte, durch den verdammten dunklen Flur. Warum hatten sie die Tür offen gelassen?

»Kommt!«, knurrte Jeanne. »Jetzt!« Sie klatschte in die Hände.

Im Zimmer war ein Schrei zu hören, innerhalb des geweihten Kreises. Dann noch einer.

Und ein Rums.

Der Tod war gekommen.

Das verlassene Haus

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