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Ruth hatte recht gehabt. Die Bären kamen von da an Jahr für Jahr zu Ostern und suchten nach Schokoladeneiern. Als sie nie mehr welche fanden, gaben sie es irgendwann auf und blieben in den Wäldern um Three Pines herum. Die Dorfbewohner lernten schnell, dass sie zur Osterzeit keine ausgedehnten Spaziergänge in den Wäldern machen und niemals zwischen ein Bärenjunges und seine Mutter geraten sollten.

Das ist eben die Natur, erklärte Clara. Aber eine gewisse Besorgnis blieb. In gewisser Weise hatten sie es sich selbst zuzuschreiben.

Wieder einmal ließ sich Clara auf alle viere nieder, dieses Mal mit den hübschen Holzeiern, die sie nun statt der essbaren nahmen. Diese Idee stammte von Hanna und Roar Parra. Die beiden kamen aus der ehemaligen Tschechoslowakei und bewiesen großes Geschick beim Bemalen von Eiern.

Den Winter über schnitzte Roar die Holzeier, und Hanna verteilte sie an alle, die Lust hatten, sie zu bemalen. Bald holten sich Leute aus den gesamten Cantons de l’Est Eier. Schulkinder bemalten sie im Kunstunterricht, Eltern besannen sich auf ihre brachliegenden Talente, und Großeltern malten Bilder aus ihrer Kindheit. Während des langen Québecer Winters wurde gemalt, und an Karfreitag fingen sie an, sie zu verstecken. Wenn die Kinder sie gefunden hatten, tauschten sie die hölzernen Stellvertreter gegen richtige Eier aus. Richtige Schokoladeneier zumindest.

»Seht euch das an«, rief Clara vom Ufer des Teichs auf dem Dorfanger. Monsieur Béliveau und Madeleine Favreau gingen zu ihr. Monsieur Béliveaus lange, schlanke Gestalt klappte wie ein Messer zusammen, als er sich bückte. Dort in dem hohen Gras war ein Nest mit Eiern.

»Sie sind echt«, er lächelte und schob das Gras auseinander, um es Madeleine zu zeigen.

»Wie hübsch«, sagte Mad und streckte die Hand aus.

»Nicht doch«, sagte er. »Wenn du sie anfasst, wird die Mutter sie nicht mehr ausbrüten.«

Mad zog ihre Hand schnell zurück und blickte Clara freundlich lächelnd an. Clara hatte Madeleine von Anfang an gemocht, auch wenn sie sich nicht besonders gut kannten. Mad war erst vor ein paar Jahren hergezogen. Sie war ein wenig jünger als sie, eine schöne, lebhafte Frau mit kurzen, dunklen Haaren und intelligenten braunen Augen. Sie machte stets einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Warum auch nicht?, dachte Clara. Nach dem, was sie durchgemacht hatte.

»Was sind das für Eier?«, fragte Clara.

Madeleine zog die Augenbrauen in die Höhe und breitete die Arme aus. Keine Ahnung.

Monsieur Béliveau klappte sich erneut mit einer eleganten Bewegung zusammen. »Jedenfalls kein Huhn, trop grand. Ente vielleicht oder Gans.«

»Das wird lustig«, sagte Madeleine. »Eine kleine Familie auf dem Anger.« Sie wandte sich zu Clara. »Wann findet die Séance statt?«

»Willst du kommen?« Clara war überrascht, freute sich aber. »Hazel auch?«

»Nein. Sophie kommt morgen Vormittag nach Hause, und Hazel meint, sie müsse davor kochen und putzen, aber ehrlich gesagt …« Madeleine senkte ihre Stimme verschwörerisch. »Ich glaube, sie hat Angst vor Gespenstern. Monsieur Béliveau dagegen will kommen.«

»Wir sollten dankbar sein, dass Hazel beschlossen hat, stattdessen zu kochen«, sagte Monsieur Béliveau. »Sie hat einen wunderbaren Auflauf für uns vorbereitet.«

Das sieht Hazel ähnlich, dachte Clara. Immer kümmert sie sich um andere. Clara machte sich manchmal ein bisschen Sorgen, dass Hazels Großzügigkeit ausgenutzt werden könnte, insbesondere von ihrer Tochter, aber ihr war durchaus klar, dass sie das nichts anging.

»Vor dem Abendessen liegt aber noch eine Menge Arbeit vor uns, mein Lieber.« Madeleine lächelte Monsieur Béliveau strahlend an und legte eine Hand auf seine Schulter. Der ältere Mann lächelte. Seit dem Tod seiner Frau hatte er nicht mehr oft gelächelt, jetzt tat er es wieder, noch ein Grund für Clara, Madeleine zu mögen. Sie sah den beiden hinterher, wie sie mit ihren Körben voll Ostereier unterm Arm durch die spätnachmittägliche Aprilsonne davongingen, das zarte Frühlingslicht fiel auf den zarten Frühling einer Beziehung. Monsieur Béliveau, groß, schlank und leicht gebeugt, schien beinahe ein wenig zu hüpfen.

Clara erhob sich und streckte ihr achtundvierzig Jahre altes Kreuz, dann blickte sie sich um. Der Anger sah aus wie ein Podex-Feld. Sämtliche Dorfbewohner standen gebückt da und versteckten Eier. Clara wünschte, sie hätte ihren Skizzenblock dabei.

An Three Pines war gewiss nichts hip, nichts war schick oder modisch oder irgendetwas anderes von den Dingen, die Clara wichtig gewesen waren, als sie vor fünfundzwanzig Jahren ihr Kunststudium abgeschlossen hatte. Hier war nichts designed. Stattdessen schien sich das Dorf an den drei Kiefern auf dem Dorfanger orientiert zu haben und sich einfach eines Tages aus der Erde erhoben zu haben und gewachsen zu sein.

Clara sog die nach Frühling riechende Luft ein und sah zu dem Haus, in dem sie mit Peter wohnte. Es war aus Ziegeln, hatte eine Veranda aus Holz und zum Dorfanger hin eine Mauer aus Feldsteinen. Vom Gartentor führte ein Weg zwischen ein paar kurz vor der Blüte stehenden Apfelbäumen zur Haustür. Von dort wanderte Claras Blick die anderen Häuser um den Dorfanger entlang. Wie ihre Bewohner waren die Häuser von Three Pines standfest und durch ihre Umgebung geprägt. Sie hatten Stürme und Kriege, Verluste und Kummer überdauert. Und daraus war eine enge und friedliche Gemeinschaft hervorgegangen.

Clara liebte ihr Dorf. Die Häuser, die Läden, den Dorfanger, die Staudengärten und selbst die Straßen mit ihren Schlaglöchern. Montréal war nicht einmal zwei Autostunden entfernt, und die Grenze zu den USA lag praktisch um die Ecke. Aber am meisten mochte sie die Leute, die diesen Karfreitag damit verbrachten, Holzeier für die Kinder zu verstecken.

Dieses Jahr lag Ostern spät, es ging schon auf Ende April zu. Sie hatten nicht immer solches Glück mit dem Wetter. Zumindest einmal war das Dorf unter einer dicken Schneedecke aufgewacht, die auch die ersten Knospen und bemalten Eier unter sich begrub. Oft war es bitterkalt, und die Dorfbewohner mussten sich zwischendurch in Oliviers Bistro aufwärmen und die halb erfrorenen, zitternden Finger um einen Becher mit heißem Cidre oder Kakao schließen.

Heute nicht. Dieser Apriltag erstrahlte in einem ganz besonderen Glanz. Ein wahres Feiertagswetter, sonnig und warm. Der Schnee war weggeschmolzen, selbst an den sonnenabgewandten Stellen, wo er sich immer lange hielt. Das Gras schoss in die Höhe, und über den Bäumen lag ein zarter grüner Schleier. Man bekam den Eindruck, die Aura von Three Pines wäre plötzlich sichtbar geworden. Alles war in goldgrünes Licht getaucht.

Tulpen drängten an die Oberfläche, und bald bestünde der Dorfanger aus einem einzigen Blütenmeer, dunkelblaue Hyazinthen, Tulpen und Narzissen, die munter mit den Köpfen nickten, und dann die Maiglöckchen, die das Dorf mit ihrem Duft und Heiterkeit erfüllen würden.

An diesem Karfreitag roch Three Pines nach frischer Erde und Verheißungen. Und vielleicht ein, zwei Würmern.

»Du kannst sagen, was du willst, ich werde nicht mitgehen.«

Clara hörte das Zischeln und Wispern. Sie kauerte in dem hohen Gras am Teich. Sie konnte das flüsternde Paar nicht sehen, aber es war klar, dass sie sich nur ein paar Meter von ihr entfernt befanden. Die Frau sprach Französisch, aber ihre Stimme klang so angespannt und erregt, dass sie sie nicht erkannte.

»Es ist doch nur eine Séance«, sagte eine Männerstimme. »Das wird ein Riesenspaß.«

»Um Himmels willen, das ist ein Sakrileg. Eine Séance an Karfreitag!«

Es gab eine Pause. Clara wand sich unbehaglich. Nicht etwa, weil sie lauschte, sondern weil sie einen Krampf in den Beinen bekam.

»Komm schon, Odile. Du bist nicht einmal gläubig. Was soll schon passieren?«

Odile, dachte Clara. Die einzige Odile, die sie kannte, war Odile Montmagny. Und die war …

Die Frau flüsterte wieder:

»Des Winters Frost, des Lenzes erster Falter,

Beide setzen ihr Zeichen, das sich mischt

Zu Freude und Kummer auf dem Angesicht

Von Kindheit, Jugend und Alter.«

Überraschtes Schweigen breitete sich aus.

… eine richtig schlechte Dichterin, brachte Clara den Gedanken zu Ende.

Odile hatte in einem feierlichen Ton gesprochen, so als würden die Worte noch etwas anderem als dem mangelnden Talent der Dichterin Ausdruck verleihen.

»Ich werde auf dich aufpassen«, sagte der Mann. Jetzt wusste Clara auch, wer er war. Odiles Freund, Gilles Sandon.

»Warum willst du da eigentlich hin, Gilles?«

»Nur zum Spaß.«

»Nicht etwa, weil sie da ist?«

Stille, bis auf den brüllenden Schmerz in Claras Beinen.

»Er wird auch dort sein, das ist dir doch klar?«, zischte Odile.

»Wer?«

»Du weißt genau, wer, Monsieur Béliveau«, sagte Odile. »Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache, Gilles.«

Wieder gab es eine Pause, dann sprach Sandon mit tiefer, tonloser Stimme, als versuchte er, sämtliche Emotionen von sich fernzuhalten.

»Keine Sorge. Ich werde ihn schon nicht umbringen.«

Clara vergaß ihre Beine. Monsieur Béliveau umbringen? Wer würde an so etwas auch nur denken? Der Gemischtwarenhändler hatte noch nicht einmal irgendwann jemandem zu wenig Wechselgeld herausgegeben. Was hatte Gilles Sandon nur gegen ihn?

Als sie hörte, dass die beiden weggingen, richtete sie sich mit einem erleichterten Seufzer auf. Sie starrte ihnen nach, Odile mollig und leicht watschelnd, Gilles ein Bär von einem Mann, sein Markenzeichen, der rote Bart, war sogar von hinten sichtbar.

Clara sah auf ihre verschwitzten Hände, mit denen sie die Holzostereier umklammert hielt. Die quietschbunten Farben hatten auf ihre Handflächen abgefärbt.

Die Séance schien plötzlich gar nicht mehr so eine lustige Idee wie noch vor ein paar Tagen, als Gabri im Bistro den Zettel aufgehängt hatte, auf dem der Besuch des berühmten Mediums Madame Isadore Blavatsky angekündigt worden war. Statt mit freudiger Erwartung war Clara nun mit Furcht erfüllt.

Das verlassene Haus

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