Читать книгу Das verlassene Haus - Louise Penny - Страница 14

12

Оглавление

Madeleine Favreau war zu Tode erschreckt worden.

Das alte Hadley-Haus hatte sie umgebracht, daran bestand für Clara nicht der geringste Zweifel. Sie stand anklagend vor dem Haus. Lucy lief an der Leine vor und zurück, wollte weg von hier. Clara ging es genauso. Aber sie hatte das Gefühl, dass sie es Madeleine schuldig war. Dem Haus die Stirn zu bieten. Es wissen zu lassen, dass sie Bescheid wusste.

In der vergangenen Nacht war etwas erwacht. Etwas hatte ihren kleinen Kreis aufgespürt, Freunde, die etwas Dummes, Albernes und Kindisches taten. Nichts weiter. Niemand hätte sterben sollen. Es wäre auch niemand gestorben, wenn sie die Séance an einem anderen Ort abgehalten hätten. Im Bistro war schließlich auch niemand gestorben.

An diesem gruseligen Ort war etwas zum Leben erwacht, war diesen Flur entlanggekommen, in das alte Schlafzimmer mit den Spinnweben, und hatte Madeleine umgebracht.

Clara würde sich für den Rest ihres Lebens daran erinnern. Die Schreie. Sie schienen von überallher zu kommen. Dann ein dumpfer Schlag. Eine Kerze flackerte und erlosch. Stühle fielen um, als die Anwesenden aufsprangen, um zu helfen oder um zu fliehen. Dann waren die Taschenlampen angegangen, und Lichtkegel hüpften kreuz und quer durch den Raum und hielten auf einmal inne. Beleuchteten alle dasselbe. Dieses Gesicht. Selbst jetzt im hellen, warmen Sonnenschein spürte Clara das Entsetzen, das sich wie ein Umhang um sie legte, den sie nicht abschütteln konnte.

»Sieh nicht hin«, hatte Clara Hazel rufen hören, vermutlich galt das Sophie.

»Nein«, schrie Monsieur Béliveau.

Madeleine starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, als würden ihr gleich die Augäpfel aus den Höhlen springen. Ihr Mund weit aufgerissen, die Lippen mitten im Schrei erstarrt. Ihre Hände, die Clara ergriff, um Trost zu spenden, wo jeder Trost zu spät kam, hatten sich krallenartig verkrampft. Clara blickte hoch und sah eine Bewegung außerhalb ihres Kreises. Dann hörte sie noch etwas. Flügelschlagen.

»Hallo«, rief Armand Gamache, als er aus dem Haus trat. Clara zuckte zusammen und kehrte langsam wieder in die Gegenwart zurück. Sie erkannte die großgewachsene, elegante Gestalt, die zielstrebig auf sie zukam.

»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte er sich, als er ihren aufgelösten Zustand bemerkte.

»Nein, eigentlich nicht.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Aber jetzt, wo ich Sie sehe, schon besser.«

Den Eindruck machte sie allerdings nicht. Tatsächlich liefen ihr Tränen übers Gesicht, und Gamache hegte die Vermutung, dass es nicht die ersten waren. Er blieb ruhig neben ihr stehen, versuchte nicht, die Tränen zum Versiegen zu bringen, sondern ließ ihr ihre Trauer.

»Sie waren gestern Abend hier.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Er hatte den Bericht gelesen und ihren Namen entdeckt. Genau genommen war sie die Erste auf der Liste von Leuten, die er befragen wollte. Er schätzte ihre Meinung und ihren Blick für Details, sichtbare und unsichtbare. Er wusste, dass er sie wie jeden anderen, der an der Séance teilgenommen hatte, als verdächtig betrachten sollte, aber die Wahrheit war, dass er es nicht tat. Er betrachtete sie als wertvolle Zeugin.

Clara wischte sich mit dem Ärmel ihres Mantels über die Augen und die Nase. Als Gamache das sah, zog er ein Baumwolltaschentuch aus seiner Jackentasche und reichte es ihr. Sie hatte gehofft, das Schlimmste wäre vorüber, aber der Tränenstrom schien jetzt erst richtig hervorzubrechen, anzuschwellen wie der Bella Bella. Eine Flut des Kummers.

Peter war in der vergangenen Nacht wunderbar gewesen. Er war so schnell wie möglich ins Krankenhaus gekommen, und er hatte kein einziges Mal »Ich war ja von Anfang an dagegen« gesagt, obwohl sie selbst es oft genug tat, als sie ihm stockend die Geschichte erzählte. Dann hatte er Myrna, Gabri und sie nach Hause gefahren. Sie hatten einer völlig verstörten und verwirrten Hazel und einer seltsam ruhigen Sophie ein Bett und ein wenig Trost angeboten. War sie wie betäubt vor Schmerz? Oder hieß das wieder einmal, im Zweifel vom Besten ausgehen, wie sie es bei Sophie immer gemacht hatten?

Das Angebot war abgelehnt worden. Selbst jetzt konnte sich Clara kaum vorstellen, wie furchtbar es für Hazel gewesen sein musste, allein nach Hause zurückzukehren. Sophie war bei ihr, sicher, aber in Wirklichkeit war sie allein.

»War sie eine Freundin von Ihnen?« Sie drehten sich um und gingen von dem Haus weg in Richtung Dorf.

»Ja. Sie war allen eine Freundin.«

Gamache ging schweigend neben ihr her, die Hände auf dem Rücken verschränkt und mit nachdenklicher Miene.

»Was denken Sie?«, fragte sie, um sich dann nach einer kurzen Pause die Frage selbst zu beantworten. »Sie denken, dass sie ermordet wurde, nicht wahr?«

Sie blieben stehen. Clara konnte nicht gleichzeitig gehen und diesen beunruhigenden Gedanken denken. Sie konnte ihn kaum ertragen, wenn sie stand. Sie drehte sich zu Gamache und sah ihn an. War sie immer so schwer von Begriff?, fragte sie sich. Natürlich dachte er das. Warum sonst wäre der Leiter der Mordkommission der Sûreté du Québec hier, wenn Madeleine nicht ermordet worden wäre?

Gamache deutete auf die Bank auf dem Dorfanger.

»Wofür sind all die Klapptische?«, fragte er, nachdem sie sich gesetzt hatten.

»Wir haben eine Ostereiersuche und ein Picknick veranstaltet.« War das erst gestern gewesen?

Gamache nickte. Sie hatten Eier für Florence versteckt und mussten sie dann alle selbst wieder einsammeln. Nächstes Jahr wäre sie alt genug, um sie zu suchen, dachte er.

»Ist Madeleine ermordet worden?«, fragte Clara.

»Wir glauben, ja«, erwiderte er. Er ließ ihr einen Moment Zeit, um das zu verdauen, dann fragte er: »Überrascht Sie das?«

»Ja.«

»Nein, warten Sie. Bitte denken Sie nach. Ich weiß, dass ein Mord im ersten Moment jeden überrascht. Aber ich möchte, dass Sie über die Frage nachdenken. Überrascht es Sie zu hören, dass Madeleine Favreau ermordet wurde?«

Clara drehte sich zu Gamache. Seine dunkelbraunen Augen, umgeben von unzähligen Lachfältchen, sahen sie aufmerksam an, sein schon halb ergrauter Schnurrbart war sorgfältig gestutzt, die Haare unter der Kappe leicht gewellt und gepflegt. Er sprach aus reiner Höflichkeit englisch mit ihr, wie sie wusste. Sein Englisch war perfekt, seltsamerweise mit einem leichten britischen Akzent. Jedes Mal, wenn sie ihn getroffen hatte, hatte sie ihn danach fragen wollen.

»Warum haben Sie eigentlich einen britischen Akzent?«

Er sah sie überrascht an.

»Ist das die Antwort auf meine Frage?«, erkundigte er sich lächelnd.

»Nein, Herr Lehrer. Aber das wollte ich Sie schon lange fragen und habe es immer wieder vergessen.«

»Ich war in Cambridge. Christ’s College. Ich habe Geschichte studiert.«

»Und an Ihrem Englisch gefeilt.«

»Englisch gelernt.«

Jetzt war es an Clara, überrascht zu sein.

»Sie haben kein Englisch gesprochen, bevor Sie nach Cambridge gingen?«

»Na ja, ich konnte zwei Sätze sagen.«

»Und welche?«

»›Feuer frei auf die Klingonen‹ und ›Mein Gott, Admiral, das ist furchtbar‹.«

Clara prustete los.

»Ich habe amerikanisches Fernsehen geschaut, wenn ich konnte. Vor allem zwei Serien.«

»Raumschiff Enterprise und Die Seaview – In geheimer Mission«, sagte Clara.

»Sie würden sich wundern, wie wenig einem diese Sätze in Cambridge nutzen. Obwohl man ›Mein Gott, Admiral, das ist furchtbar‹ vielleicht verwenden könnte, wenn man in der Klemme steckt.«

Clara lachte und stellte sich den jungen Gamache in Cambridge vor. Wer fuhr um die halbe Welt in ein fremdes Land, dessen Sprache er nicht sprach, um dort auf die Universität zu gehen?

»Nun?« Gamaches Miene war wieder ernst.

»Madeleine war reizend, in jeder Hinsicht. Es war leicht, sie zu mögen, und ich vermute, auch leicht, sie zu lieben. Ich hätte sie sicher sehr gern gehabt, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sie umgebracht hat.«

»Weil sie war, wie sie war, oder weil jemand nicht so war?«

Das war die Frage, dachte Clara. Einen Mord zu akzeptieren bedeutete zu akzeptieren, dass es einen Mörder gab. Unter ihnen. In ihrer Nähe. Mit ziemlicher Sicherheit jemand in diesem Zimmer. Hinter einem dieser lächelnden, fröhlichen, vertrauten Gesichter verbargen sich so böse Gedanken, dass jemand töten musste.

»Wie lange hat Madeleine hier gewohnt?«

»Na ja, genau genommen hat sie außerhalb des Dorfs gewohnt, in dieser Richtung.« Clara deutete auf die Hügel. »Bei Hazel Smyth.«

»Die gestern Abend ebenfalls anwesend war. Zusammen mit einer jungen Frau namens Sophie Smyth.«

»Ihre Tochter. Madeleine ist vor ungefähr fünf Jahren zu ihnen gezogen. Sie kannten sich schon lange.«

In diesem Augenblick zog Lucy an der Leine, und als Clara aufblickte, sah sie Peter aus ihrem Haus kommen und über die Straße gehen, er winkte. Sie machte Lucy nach einem Blick auf die Straße los. Die alte Hündin schoss über die Wiese und sprang an Peter hoch, der sich krümmte. Gamache zuckte zusammen.

Peter richtete sich wieder auf und kam zu ihnen gehumpelt, vorne an der Hose zwei Pfotenabdrücke.

»Chief Inspector.« Peter Morrow streckte die Hand mit mehr Würde aus, als Gamache es für möglich gehalten hätte. Gamache erhob sich und schüttelte ihm fest die Hand. »Leider ein trauriger Anlass«, sagte Peter.

»Ja. Ich sagte gerade zu Clara, wir halten es für möglich, dass Madame Favreau keines natürlichen Todes starb.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sie waren nicht dabei, oder?«, sagte Gamache, ohne auf Peters Frage einzugehen.

»Nein, wir hatten gestern Abend ein paar Leute zum Essen da, und ich bin zu Hause geblieben, um aufzuräumen.«

»Wären Sie mitgegangen, wenn Sie Zeit gehabt hätten?«

Peter zögerte nur kurz. »Nein. Ich war nicht damit einverstanden.« Selbst für seine Ohren klang er wie ein viktorianischer Pfarrer.

»Peter versuchte, es mir auszureden«, sagte Clara. Inzwischen standen sie alle drei, und Clara nahm Peters Hand. »Er hatte recht. Wir hätten es nicht tun sollen. Wenn wir uns alle von dort ferngehalten hätten«, Clara deutete mit dem Kopf zu dem Haus auf dem Hügel, »dann wäre Madeleine noch am Leben.«

Wahrscheinlich stimmte das, dachte Gamache. Aber für wie lange? Es gab Dinge, denen man nicht entkommen konnte, und der Tod war eins davon.

Inspector Jean Guy Beauvoir sah zu, wie der letzte Kriminaltechniker seine Sachen zusammenpackte, dann verließ er das Schlafzimmer und schloss die Tür. Er riss ein Stück gelbes Klebeband von der Rolle ab und verklebte die Tür damit. Das wiederholte er öfter, als er es normalerweise getan hätte. Irgendetwas rief in ihm das Bedürfnis hervor, einzusperren, was immer sich in diesem Raum befand. Jean Guy Beauvoir würde das natürlich niemals zugeben, aber er hatte gespürt, wie etwas dort wuchs. Je länger er sich in diesem Zimmer aufhielt, desto stärker wurde es. Eine Vorahnung. Nein, keine Vorahnung. Etwas anderes.

Leere. Jean Guy Beauvoir hatte das Gefühl, ausgehöhlt zu werden. Plötzlich wurde ihm klar, dass an der Stelle, an der sein Innerstes war, bald nur noch ein Abgrund mit einem darin widerhallenden Echo gähnen würde, wenn er in diesem Zimmer blieb.

Er wollte so schnell wie möglich raus hier. Er sah hinüber zu Agent Lacoste und fragte sich, ob sie das Gleiche empfand. Für seinen Geschmack wusste sie viel zu viel über diesen Hexen-Schwachsinn. Er murmelte leise ein Ave-Maria, während er das Zimmer versiegelte, dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk.

Wenn er gesehen hätte, wie Christo den Reichstag in Berlin verhüllte, hätte er vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit erkannt. Die Tür verschwand praktisch unter gelbem Klebeband.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er in den Sonnenschein hinaus. Die Welt schien so viel heller, die Luft so viel frischer, nachdem er dieser Gruft entkommen war. Selbst das Rauschen des Bella Bella klang tröstlich. Natürlich.

»Prima, Sie sind noch nicht weg.«

Beauvoir drehte sich um und sah Agent Robert Lemieux auf sich zukommen, ein Lächeln auf dem jungen, eifrigen Gesicht. Lemieux war noch nicht lange bei ihnen, aber er war bereits Beauvoirs Liebling. Er mochte junge Polizisten, für die er ein Idol war.

Das änderte jedoch nichts an seiner Überraschung.

»Hat der Chief Inspector Sie kommen lassen?« Beauvoir wusste, dass Gamache den Aufwand bei dieser Ermittlung möglichst gering halten wollte, bis zweifelsfrei feststand, dass es sich um einen Mord handelte.

»Nein, ich habe es von einem meiner Freunde bei der Polizei hier gehört. Ich bin gerade zu Besuch bei meinen Eltern drüben in Ste-Catherine-de-Hovey. Ich dachte, ich schau mal vorbei.«

Beauvoir warf einen Blick auf seine Uhr. Jetzt, wo er aus diesem verfluchten Haus heraus war, fragte er sich, ob es sich bei der Leere in seinem Inneren vielleicht einfach um Hunger handelte. Ja, das musste es sein.

»Kommen Sie mit. Der Chef ist im Bistro, wahrscheinlich hat er sich gerade das letzte Croissant geschnappt.« Obwohl das als Scherz gemeint war, merkte Beauvoir, dass ihn die Angst packte. Angenommen, es stimmte? Er eilte zum Auto, und die beiden Männer fuhren die hundert Meter nach Three Pines hinunter.

Armand Gamache saß vor dem Kamin, nippte an einem Martini und lauschte auf das Knistern der Flammen. Selbst Ende April war ein wärmendes Feuer gerade recht. Olivier hatte ihn mit einer Umarmung und einer Lakritzpfeife begrüßt.

»Danke, patron«, sagte Gamache, erwiderte die Umarmung und nahm die Pfeife entgegen.

»Es ist so entsetzlich, dass man es kaum begreifen kann«, sagte Olivier, schick wie immer in Cordhosen und einem übergroßen Kaschmirpullover. Jedes einzelne blonde Haar genau da, wo es sein sollte, kein Fältchen oder Fleck, die den Gesamteindruck gestört hätten. Im Gegensatz dazu hatte sein Partner sein Gebiss vergessen und war unrasiert. Dicke schwarze Bartstoppeln kratzten über Gamaches Wange, als er und Gabri sich umarmten.

Peter, Clara und Gamache folgten Gabri zu dem von der Sonne ausgeblichenen Sofa vor dem Kamin, während Olivier sich um die Getränke kümmerte. Als sie es sich gerade gemütlich machten, gesellte sich Myrna zu ihnen.

»Ich freue mich, Sie zu sehen.« Sie ließ sich auf einem der Ohrensessel neben dem Sofa nieder.

Gamache betrachtete die große schwarze Frau voller Sympathie. Sie führte seinen Lieblingsbuchladen.

»Warum sind Sie hier?«, fragte sie und sah ihn mit ihren intelligenten Augen freundlich an, was die unverblümte Frage etwas abmilderte.

Gamache fühlte eine gewisse Verwandtschaft mit dem Telegrammboten auf seinem wackeligen Fahrrad, der im Zweiten Weltkrieg unterwegs gewesen war. Der Überbringer schlechter Neuigkeiten. Immer misstrauisch beäugt.

»Er glaubt natürlich, dass sie ermordet wurde«, sagte Gabri, auch wenn es ohne sein Gebiss so klang, als würde Gamache etwas »klauen«.

»Ermordet?«, sagte Myrna und schnaubte. »Es war entsetzlich, sogar gewalttätig, aber es war kein Mord.«

»Inwiefern war es gewalttätig?«

»Ich glaube, wir fühlten uns alle, als würden wir angegriffen«, sagte Clara, und die anderen nickten.

In diesem Moment rissen Beauvoir und Lemieux in eine Unterhaltung vertieft die Tür des Bistros auf. Gamache hob die Hand, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Sie verstummten und kamen zu dem Grüppchen am Kamin herüber.

Die Sonne schien durch das Fenster und im Hintergrund war das Gemurmel der anderen Gäste zu hören. Alle wirkten bedrückt.

»Erzählen Sie mir, was passiert ist«, sagte Gamache leise.

»Das Medium hat das Salz verstreut und die Kerzen angezündet«, sagte Myrna und schien die Szene dabei vor sich zu sehen. »Wir saßen im Kreis.«

»Wir hielten uns an den Händen«, ergänzte Gabri. Sein Atem war schneller und flacher geworden, er sah aus, als würde er allein bei der Erinnerung jeden Moment in Ohnmacht fallen. Gamache vermeinte fast den Herzschlag des großen Mannes zu hören.

»Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viel Angst«, sagte Clara. »Nicht einmal, als ich im Schneesturm auf der Schnellstraße unterwegs war.«

Die anderen nickten. Sie alle waren schon einmal in der gleichen Situation gewesen und davon überzeugt, dass ihr letztes Stündlein geschlagen hatte. Ein heftiger Aufprall, das schleudernde Auto außer Kontrolle geraten, unsichtbar in den wild durcheinanderwirbelnden Schneeflocken.

»Aber genau darum ging es doch, oder?«, fragte Peter, der sich auf der Lehne von Claras Ohrensessel niedergelassen hatte. »Euch selbst Angst einzujagen?«

Hatten sie es deswegen getan, fragte sich Clara.

»Wir waren dort, um die bösen Geister aus dem Haus zu vertreiben«, sagte Myrna, aber im hellen Licht des Tages klang das albern.

»Und vielleicht, um uns selbst ein bisschen Angst einzujagen«, gab Gabri zu. »Ist doch wahr«, fügte er hinzu, als er die Gesichter der anderen sah. Clara musste ihm recht geben. Waren sie wirklich so dumm gewesen? War ihr Leben so beschaulich, so langweilig, dass sie die Gefahr heraufbeschwören mussten? Nein, nicht heraufbeschwören. Sie war immer schon da. Sie hatten sie umworben. Und sie hatte geantwortet.

»Jeanne, das Medium«, erklärte Myrna Gamache, »sagte, sie könnte etwas kommen hören. Wir waren einen Moment lang still und, na ja, ich glaube, ich habe auch etwas gehört.«

»Ich auch«, sagte Gabri. »Im Bett. Jemand wälzte sich auf dem Bett herum.«

»Nein, es kam vom Flur«, sagte Clara, riss sich von der Betrachtung des Feuers los und sah die anderen an. Es war beinahe so wie in der Nacht zuvor, ihre Gesichter mit den weit aufgerissenen Augen wurden von den Flammen beleuchtet, sie saßen angespannt da, jeden Moment bereit aufzuspringen. Sie befand sich wieder in diesem schrecklichen Zimmer. Roch die Frühlingsblumen, wie in einem Bestattungsunternehmen, und hörte die Schritte, die sich ihr schlurfend von hinten näherten. »Schritte. Da waren Schritte. Ich erinnere mich, dass Jeanne sagte, sie würden kommen. Die Toten würden kommen.«

Beauvoir spürte, wie sich sein Herz zusammenzog, seine Hände wurden taub. Er fragte sich, ob es Lemieux etwas ausmachen würde, wenn er seine Hand nahm, beschloss dann jedoch, dass er eher sterben würde.

»Sie kommen, sagte sie«, pflichtete Myrna ihr bei. »Dann sagte sie noch etwas.«

»Vom Dach und noch von woanders her«, sagte Gabri und versuchte sich an die Worte zu erinnern.

»Vom Dachboden«, korrigierte Myrna.

»Und aus dem Keller«, ergänzte Clara und sah Armand Gamache in die Augen. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Der Keller des alten Hadley-Hauses verfolgte ihn immer noch.

»Dann ist es passiert«, sagte Gabri.

»Noch nicht«, sagte Clara. »Sie sagte noch etwas.«

»Sie sind überall um uns herum«, sagte Myrna leise. »Kommt. Jetzt!«

Sie klatschte in die Hände, und Beauvoir wäre beinahe tot umgefallen.

Das verlassene Haus

Подняться наверх