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Hazel Smyth eilte geschäftig durch ihr gemütliches, vollgestopftes Haus. Sie musste noch tausend Dinge tun, bevor ihre Tochter Sophie von der Universität nach Hause kam. Die Betten waren schon frisch bezogen. Die Bohnen köchelten vor sich hin, der Teig für das Brot ging, und der Kühlschrank barst fast vor lauter leckeren Sachen. Hazel ließ sich auf das alte unbequeme Rosshaarsofa im Wohnzimmer fallen, sie spürte jeden Tag ihrer zweiundvierzig Jahre und noch ein paar mehr. Aus dem Sofa schienen Tausende winziger Nadeln zu ragen, die sich in einen bohrten, wenn man darauf Platz nahm, als wehrte es sich gegen das zusätzliche Gewicht. Und doch hing Hazel daran, vielleicht weil es sonst niemand tat. Sie wusste, dass es zu gleichen Teilen aus Rosshaar und Erinnerungen, die oft genauso wehtaten, bestand.

»Du hast es also wirklich noch, Haze?«, hatte Madeleine vor einigen Jahren lachend ausgerufen, als sie das erste Mal in das Zimmer gekommen war. Sie war sofort zu dem alten Sofa gegangen und hatte sich über die Rückenlehne gehängt, so als hätte sie vergessen, wie Menschen sitzen, hatte der verblüfften Hazel ihren schmalen Hintern entgegengestreckt.

»Wahnsinn«, tönte Mads Stimme gedämpft aus dem Spalt zwischen Sofa und Wand hervor. »Erinnerst du dich noch, wie wir von hier hinten deine Eltern belauscht haben?«

Das hatte Hazel ganz vergessen. Eine weitere Erinnerung, die zu dem dick gepolsterten Sofa gehörte. Plötzlich erklang lautes Lachen, und Madeleine warf sich herum wie das Schulmädchen, das sie einmal gewesen war, blickte Hazel an und streckte ihr die Hand entgegen. Hazel beugte sich vor und sah etwas zwischen den schmalen Fingern. Etwas sauberes Weißes. Es sah wie ein kleiner, verblichener Knochen aus. Hazel holte tief Luft, ein wenig besorgt, was das Sofa wohl ausgespuckt hatte.

»Das ist für dich.« Madeleine legte das kleine weiße Ding vorsichtig in Hazels ausgestreckte Hand. Madeleine strahlte. Man konnte es nicht anders nennen. Sie hatte einen Schal um ihren kahlen Kopf gewickelt und ihre Augenbrauen unbeholfen nachgezeichnet, sodass sie stets ein bisschen erstaunt aussah. Die bläulichen Ringe unter ihren Augen verrieten eine Müdigkeit, die nichts mehr mit schlaflosen Nächten zu tun hatte. Trotz alledem hatte Madeleine gestrahlt. Und ihre Freude durchdrang den öden Raum bis in die letzte Ecke.

Sie hatten sich seit zwanzig Jahren nicht gesehen, und obwohl Hazel sich an jedes einzelne Ereignis aus der Zeit ihrer Jugendfreundschaft erinnerte, hatte sie merkwürdigerweise vergessen, wie lebendig sie sich in Madeleines Gegenwart immer gefühlt hatte. Sie sah auf ihre Hand. Das Ding war kein Knochen, sondern ein zusammengerollter Zettel.

»Der steckte immer noch im Sofa«, sagte Madeleine. »Stell dir das einmal vor. Nach all den Jahren. Wahrscheinlich hat er auf uns gewartet. Auf genau diesen Moment.«

Madeleine schien etwas Magisches an sich zu haben, erinnerte sich Hazel. Und wo es etwas Magisches gab, da geschahen auch Wunder.

»Wo hast du ihn gefunden?«

»Da hinten.« Mad deutete mit der Hand hinter das Sofa. »Ich hatte ihn in ein kleines Loch gesteckt, als du mal auf dem Klo warst.«

»Ein kleines Loch?«

»Ein kleines Loch, das ein kleiner Stift gemacht hat.« Madeleines Augen funkelten, während sie so tat, als würde sie mit einem Stift ein Loch in das Sofa bohren, und Hazel musste lachen. Sie konnte sie regelrecht vor sich sehen, wie sie in dem kostbaren Möbelstück ihrer Eltern herumbohrte. Madeleine war furchtlos. Hazel gehörte zu denen, die in der Schule Aufsicht gewesen waren, Madeleine zu denen, die sich immer verspätet ins Klassenzimmer schlichen, nachdem sie noch schnell im Gebüsch eine gequalmt hatten.

Hazel sah auf das kleine weiße Röhrchen in ihrer Hand, das vor Sonnenlicht und fremden Blicken geschützt nach Jahrzehnten von dem Sofa wieder ausgespuckt worden war.

Dann wickelte sie den Zettel auseinander. Und sie wusste, dass sie mit Grund Angst davor gehabt hatte. Denn sein Inhalt änderte schlagartig und für alle Zeiten ihr Leben. In runden, mit satter lila Tinte geschriebenen Buchstaben stand dort ein einziger, einfacher Satz.

Ich mag dich.

Hazel wagte es nicht, Madeleine in die Augen zu sehen. Aber als sie von dem winzigen Notizzettel aufblickte, stellte sie fest, dass ihr Wohnzimmer, das an diesem Morgen noch so düster gewirkt hatte, auf einmal einen warmen, freundlichen Eindruck machte und die ausgeblichenen Farben zu leuchten begonnen hatten. Als ihr Blick wieder zu Madeleine zurückkehrte, war das Wunder geschehen. Aus einem waren zwei geworden.

Madeleine fuhr nach Montréal, um die Behandlung abzuschließen, aber sobald wie möglich kam sie in das Cottage auf dem Land zurück, umgeben von sanften Hügeln, Wäldern und Wiesen voller Frühlingsblumen. Madeleine hatte ein Zuhause gefunden, genau wie Hazel.

Jetzt nahm Hazel ihre Stopfsachen von dem alten Sofa. Sie machte sich Sorgen. Sorgen darüber, was im Bistro vor sich ging.

Sie hatten das Runenorakel gemacht, das auf den altnordischen Symbolen der Weissagung beruhte. Nach den Runensteinen war Clara ein Auerochse, Myrna eine Fackel und Gabri ein Karfunkel, auch wenn Clara ihm erklärte, die Rune würde nicht Karfunkel, sondern Furunkel bedeuten.

»Stimmt! Ich habe eines am Hintern«, sagte Gabri beeindruckt. »Und deine Rune stimmt auch, du Kuh.«

Monsieur Béliveau griff in den kleinen Weidenkorb und zog einen Stein mit einem Symbol in Form eines Diamanten heraus.

»Hochzeit«, mutmaßte Monsieur Béliveau. Madeleine lächelte, sagte aber nichts.

»Nein«, sagte Jeanne, nahm den Stein und betrachtete ihn. »Das ist der Gott Ing.«

»Lassen Sie mich mal.« Gilles Sandon griff mit seiner großen, schwieligen Hand in das Körbchen und zog sie wieder heraus. Als er die Faust öffnete, erblickten sie einen Stein mit dem Buchstaben R. Er sah für Clara ein bisschen wie die Holzeier aus, die sie für die Kinder versteckt hatten. Die waren auch mit Symbolen bemalt. Aber Eier waren Symbole des Lebens, während Steine Symbole des Todes waren.

»Was bedeutet das?«, fragte Gilles.

»Das steht für Rad, das Rad des Lebens. Eine Reise«, sagte Jeanne und sah zu Gilles. »Oft von Mühsal und schwerer Arbeit begleitet.«

»Verraten Sie mir was Neues!«

Odile lachte, genau wie Clara. Gilles arbeitete schwer, und sein Körper zeugte von den Jahren als Holzfäller. Stark und kräftig, oft genug übersät mit blauen Flecken und kleineren Blessuren.

»Allerdings«, sagte Jeanne und legte ihre Hand auf den Stein, der noch immer auf Gilles’ schwieliger Handfläche lag, »liegt er verkehrt herum. Das R steht auf dem Kopf.«

Auf einmal waren alle ganz still. Gabri hatte in den Erläuterungen zu den Runensymbolen entdeckt, dass sein Stein tatsächlich »Karfunkel« und nicht »Furunkel« bedeutete, und er hatte mit Clara geschimpft und ihr angedroht, sie von der weiteren Versorgung mit Pasteten und Rotwein abzuschneiden. Jetzt wandten sie sich wieder den anderen zu, die Jeanne gespannt zuhörten.

»Und was bedeutet das?«, fragte Odile.

»Es bedeutet, dass der Weg nicht leicht ist. Es soll Sie ermahnen, vorsichtig zu sein.«

»Und was bedeutet seiner?« Gilles deutete auf Monsieur Béliveau.

»Gott Ing? Er verweist auf Fruchtbarkeit und Männlichkeit.« Jeanne lächelte den ruhigen, sanften Gemischtwarenhändler an. »Daneben gemahnt er eindringlich daran, dass wir alles Natürliche achten sollen.«

Gilles lachte, ein höhnisches, gemeines, kleines Lachen.

»Und jetzt Madeleine«, sagte Myrna, um die Spannung zu lösen.

»Gut.« Mad griff in das Körbchen und zog einen Stein heraus. »Bestimmt sagt meiner, dass ich selbstsüchtig und herzlos bin. P.« Lächelnd besah sie sich das Symbol. »P wie pinkeln? Erstaunlich, ich muss nämlich aufs Klo.«

»Das Symbol P steht für Freude«, sagte Jeanne. »Und noch etwas.«

Madeleine zögerte. Während Clara sie ansah, schien die unglaubliche Energie, die diese Frau umgab, schwächer zu werden, zu verschwinden. Es machte den Eindruck, als würde sie einen kurzen Moment lang in sich zusammenfallen.

»Es liegt auch verkehrt herum«, sagte Madeleine.

Hazel stopfte die löchrigen Socken, aber im Geist war sie mit etwas anderem beschäftigt. Sie blickte auf die Uhr. Halb elf. Noch früh, sagte sie sich.

Sie überlegte, was in dem Bistro drüben in Three Pines wohl vor sich ging. Madeleine hatte gefragt, ob sie mitkommen wolle, aber Hazel hatte abgelehnt.

»Sag bloß, du fürchtest dich«, hatte Madeleine sie aufgezogen.

»Natürlich nicht. Aber ich halte solche Sachen für Blödsinn, reine Zeitverschwendung.«

»Du hast also keine Angst vor Gespenstern? Du würdest in ein Haus neben einem Friedhof ziehen?«

Hazel dachte kurz nach. »Wahrscheinlich nicht, aber nur weil es Probleme mit dem Wiederverkauf gäbe.«

»Du und dein Sinn fürs Praktische.« Madeleine lachte.

»Glaubst du, dass diese Frau tatsächlich Kontakt zu den Toten aufnehmen kann?«

»Ich weiß es nicht«, gab Mad zu. »Darüber habe ich offen gestanden überhaupt nicht nachgedacht. Ich denke, es wird einfach ein lustiger Abend.«

»Viele Leute glauben an Gespenster und Geisterhäuser«, sagte Hazel. »Ich habe erst gestern von einem solchen Haus gelesen. Es steht in Philadelphia. Es wird von dem Geist eines Mönchs heimgesucht, und Besucher des Hauses berichten, dass sie menschliche Schatten auf der Treppe gesehen haben, und da war noch etwas, was war es noch mal? Es hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Ach ja. Eine kalte Stelle, direkt neben einem großen Ohrensessel. Offenbar stirbt jeder, der darin sitzt, aber vorher sieht er erst noch das Gespenst einer alten Frau.«

»Hast du nicht gerade gesagt, du glaubst nicht an Gespenster?«

»Tu ich auch nicht, aber viele andere Leute tun es.«

»In vielen Kulturen spielen Geister und höhere Wesen eine Rolle«, erklärte Madeleine.

»Aber von denen sprechen wir ja nicht, oder? Ich glaube, es gibt da Unterschiede. Ein Gespenst führt nichts Gutes im Schilde. Es ist irgendwie rachsüchtig, wütend. Ich weiß nicht, ob man damit herumspielen sollte. Und das Haus, in dem sich das Bistro befindet, steht dort schon seit Hunderten von Jahren. Weiß der Himmel, wie viele Leute dort gestorben sind. Nein, ich bleibe lieber hier, schau ein bisschen fern und bringe der armen Madame Bellows nebenan etwas zum Abendessen. Und geh Gespenstern aus dem Weg.«

Jetzt saß Hazel im schwachen Lichtschein einer einzelnen Lampe im Wohnzimmer. Die Erinnerung an das Gespräch ließ sie frösteln, so als hätte sich ein Gespenst, das Kälte um sich verbreitete, neben ihr niedergelassen. Sie stand auf und knipste sämtliche Lichter an. Aber das Zimmer blieb düster. Ohne Madeleine schien es jeder Gemütlichkeit zu entbehren.

Wenn alle Lichter angeknipst waren, konnte sie nur leider nicht mehr zum Fenster hinaussehen. Dann sah sie nur noch ihr eigenes Spiegelbild. Zumindest hoffte sie, dass es ihr Spiegelbild war. Da saß eine Frau mittleren Alters in einem spießigen Tweedrock und einem olivfarbenen Twinset auf einem Sofa. Um ihren Hals lag eine schmale Perlenkette. Es hätte ihre Mutter sein können. Vielleicht war sie es ja auch.

Peter Morrow stand auf der Schwelle zu Claras Atelier und spähte ins Dunkle. Er hatte das Geschirr gespült, im Wohnzimmer vor dem Kamin gelesen und dann gelangweilt beschlossen, in sein Atelier zu gehen und eine Weile an seinem neuesten Bild zu arbeiten. Er hatte in der festen Absicht, direkt in sein Atelier auf der Rückseite des kleinen Hauses zu gehen, die Küche durchquert.

Wie kam es dann, dass er jetzt in der offenen Tür zu Claras Atelier stand?

Es war dunkel und absolut still dort drin. Er spürte sein Herz in der Brust schlagen. Seine Hände waren kalt, und er merkte, dass er die Luft angehalten hatte.

Es war so einfach, völlig normal.

Er streckte die Hand aus und knipste die Deckenlampen an. Dann ging er hinein.

Sie saßen auf Holzstühlen im Kreis. Jeanne zählte und machte einen beunruhigten Eindruck.

»Acht ist keine gute Zahl. Das gefällt mir nicht.«

»Was meinen Sie mit ›keine gute Zahl‹?« Madeleine spürte, wie ihr Herz schneller zu klopfen begann.

»Sie kommt gleich nach sieben«, sagte Jeanne, als würde das alles erklären. »Die umgedrehte Acht steht für Unendlichkeit.« Sie zeichnete das Symbol mit dem Finger in der Luft nach. »Die Energie ist in der Schleife gefangen. Sie findet keinen Ausgang. Sie wird immer stärker und immer wütender und frustrierter dabei.« Sie seufzte. »Ich habe kein gutes Gefühl.«

Die Lampen waren alle ausgeschaltet, und das einzige Licht kam von dem knisternden Kaminfeuer, das ihre Gesichter flackernd beleuchtete. Einige saßen im Dunkeln, den Rücken zum Feuer; die anderen waren nur eine Reihe körperloser, verängstigter Gesichter.

»Ich möchte, dass Sie alle Ihren Geist frei machen.«

Jeannes Stimme klang tief und voll. Sie saß mit dem Rücken zum Feuer, sodass ihr Gesicht im Schatten lag. Clara hatte den Eindruck, dass sie sich bewusst diesen Platz ausgesucht hatte, war sich aber nicht ganz sicher.

»Sie müssen tief atmen und Ihre Sorgen und Ängste loslassen. Geister können die Energie spüren. Negative Energie wird nur böse Geister anlocken. Wir wollen das Bistro mit positiver Energie und Freundlichkeit füllen, um die guten Geister anzulocken.«

»Scheiße«, flüsterte Gabri. »Das war keine gute Idee.«

»Halt die Klappe«, zischte Myrna neben ihm. »Gute Gedanken, du Trottel, und zwar hopp.«

»Ich habe Angst«, flüsterte er.

»Dann unterdrück sie. Denk dich an deinen Lieblingsort, Gabri, deinen Lieblingsort«, sagte Myrna heiser.

»Das ist mein Lieblingsort«, erwiderte Gabri. »Bitte, nimm sie zuerst, bitte, sie ist saftig und dick. Bitte, nimm nicht mich.«

»Du Furunkel«, zischte Myrna.

»Still, bitte«, sagte Jeanne mit mehr Autorität, als Clara ihr zugetraut hätte. »Wenn unvermittelt ein lautes Geräusch zu hören sein sollte, möchte ich, dass Sie sich alle an den Händen nehmen, haben Sie das verstanden.«

»Warum?«, flüsterte Gabri auf seiner anderen Seite Odile zu. »Erwartet sie was Schlimmes?«

»Psst«, sagte Jeanne leise, und sie stellten das Flüstern ein. Sie stellten das Atmen ein. »Sie kommen.«

Sie stellten ihren Herzschlag ein.

Peter trat in Claras Atelier. Er war schon unzählige Male hier drin gewesen und wusste, dass sie die Tür aus einem bestimmten Grund offen ließ. Weil sie nichts zu verbergen hatte. Und doch fühlte er sich irgendwie schuldig.

Er sah sich rasch um und ging zu der großen Staffelei, die mitten im Raum stand. Das Atelier roch nach Ölfarben, Lösungsmitteln und Holz, darunter lag eine Note von starkem Kaffee. Viele Jahre des Schaffens und viele Kannen Kaffee hatten den Raum auf angenehme Weise imprägniert. Warum fühlte sich Peter dann so bedroht?

Er blieb vor der Staffelei stehen. Clara hatte ein Tuch über die Leinwand gehängt. Er stand da und überlegte, sagte sich, dass er gehen sollte, flehte sich selbst an, das, was er vorhatte, nicht zu tun.

Als er sah, wie sich seine rechte Hand ausstreckte, konnte er kaum glauben, dass er das tat. Wie ein Mensch, der seinen Körper verlassen hatte, wusste er, dass er keine Kontrolle mehr über das Kommende hatte. Es schien vorherbestimmt zu sein.

Seine Hand griff nach dem fleckigen alten Tuch und zog.

Es war still im Raum. Clara hätte am liebsten Myrnas Hand ergriffen, aber sie traute sich nicht, sich zu bewegen. Für den Fall, dass irgendetwas kam und seine Aufmerksamkeit auf sie richten würde.

Dann hörte sie es. Sie alle hörten es.

Schritte.

Das Drehen eines Türknaufs. Ein Wimmern wie von einem verängstigten Hundewelpen.

Unvermittelt ertönten mehrere ohrenbetäubende Schläge. Ein Mann brüllte, Clara spürte, wie von beiden Seiten Hände nach ihr tasteten. Sie nahm sie und umklammerte sie, als hinge ihr Leben davon ab, während sie ständig wiederholte: »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.«

»Lasst mich rein«, heulte eine Stimme von draußen.

»O Gott, es ist ein böser Geist«, sagte Myrna. »Das ist deine Schuld«, sagte sie zu Gabri, dessen Augen vor Schreck weit aufgerissen waren.

»Pest«, heulte die körperlose Stimme. »Ihr seid die Pest.«

Eine Fensterscheibe klirrte, und ein furchterregendes Gesicht erschien. Alle im Kreis wichen keuchend zurück.

»Mach auf, du Blödmann, ich weiß, dass du da drin bist«, schrie die Stimme. Es war gewiss nicht das, was Clara als Letztes auf Erden zu hören erwartet hätte. Sie hatte immer gemeint, es wäre: »Was hast du dir dabei nur gedacht?«

Gabri erhob sich zitternd von seinem Stuhl.

»Herr im Himmel«, rief er und schlug ein Kreuz. »Es ist ein Vortoter.«

Hinter dem Fenster kniff Ruth Zardo die Augen zusammen und schlug ein halbes Kreuz.

Peter starrte das Bild auf der Staffelei an. Seine Kiefer verkrampften sich, und seine Augen wurden hart. Es war viel schlimmer, als er erwartet hatte, viel schlimmer als befürchtet, und Peter war von Haus aus ein furchtsamer Mensch. Vor ihm stand Claras neuestes Werk, dasjenige, das sie bald Denis Fortin zeigen würde, dem einflussreichen Galeristen aus Montréal. Bislang hatte Clara praktisch unbehelligt von irgendeiner Art von Publikum ihre unverständlichen Werke geschaffen. Zumindest fand Peter sie unverständlich.

Dann hatte eines Tages wie aus dem Nichts aufgetaucht Denis Fortin an ihre Tür geklopft. Peter war natürlich davon ausgegangen, dass der renommierte Galerist mit Kontakten in der gesamten Kunstwelt seinetwegen gekommen war. Schließlich war er der weithin bekannte Künstler. Seine akribisch genau gemalten Bilder verkauften sich für Tausende von Dollars und hingen in den besten Häusern Kanadas. Peter hatte Fortin deswegen mit der größten Selbstverständlichkeit in sein Atelier geführt, wo ihm höflich erklärt wurde, dass seine Bilder ja ganz schön wären, aber er, der Galerist, eigentlich wegen Clara Morrow gekommen sei.

Wenn Fortin gesagt hätte, eigentlich sei er ein Marsmännchen, wäre Peter auch nicht erstaunter gewesen. Er wollte Claras Bilder sehen? Warum das denn? Dann fing er an zu begreifen und starrte Fortin fassungslos an.

»Warum?«, hatte er gestammelt. Dann war die Reihe an Fortin zu starren.

»Clara Morrow wohnt doch hier? Die Künstlerin? Ein Freund zeigte mir ihre Mappe. Ist diese Mappe nicht von ihr?«

Fortin hatte eine Mappe aus seiner Aktentasche genommen und tatsächlich, da war Claras weinender Baum. Der Wörter weinte. Welcher Baum weint Wörter?, hatte sich Peter gefragt, als Clara ihm das Bild das erste Mal gezeigt hatte. Und jetzt sagte Denis Fortin, der bedeutendste Galerist in Québec, es sei ein beeindruckendes Werk.

»Das ist meins«, sagte Clara und war zwischen die beiden Männer getreten.

Verwundert, so als wäre das alles ein Traum, hatte sie Fortin in ihrem Atelier herumgeführt. Und sie hatte ihm ihre neueste Arbeit beschrieben, die sich unter der leinenen Tarnkappe befand. Fortin hatte auf das Tuch gestarrt, aber er hatte nicht danach gegriffen, hatte nicht einmal gefragt, ob sie es vielleicht entfernen würde.

»Wann wird es fertig sein?«

»In ein paar Tagen«, hatte Clara gesagt, ohne recht zu wissen, woher sie den Mut dazu nahm.

»Wie wäre es mit der ersten Woche im Mai?« Er hatte gelächelt und mit großer Herzlichkeit ihre Hand geschüttelt. »Ich bringe meine Kuratoren mit, dann können wir alle gemeinsam entscheiden.«

Entscheiden?

Der bedeutende Denis Fortin würde in gut einer Woche wiederkommen, um Claras neueste Arbeit zu sehen. Und wenn sie ihm gefiel, dann war ihr Weg zum Erfolg vorgezeichnet.

Jetzt stand Peter da und starrte das Werk an.

Plötzlich spürte er, wie etwas nach ihm griff. Von hinten. Es drang in ihn ein und verbiss sich dort. Peter keuchte vor Schmerz, ein schneidender, scharfer Schmerz. Tränen stiegen ihm die Augen, als er von dem Gespenst überwältigt wurde, das ihn schon sein ganzes Leben lang verfolgte. Vor dem er sich als Kind versteckt hatte, vor dem er weggelaufen, das er vergraben und verleugnet hatte. Es war ihm hinterhergejagt, und schließlich hatte es ihn gefunden. Hier, in dem Atelier seiner geliebten Frau. Hier, vor ihrem Werk, hatte ihn das schreckliche Monster gefunden.

Und verschlang ihn.

Das verlassene Haus

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