Читать книгу Das verlassene Haus - Louise Penny - Страница 12

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»Kommen Sie rein, Armand. Frohe Ostern!«

Superintendent Brébeuf schüttelte Gamache die Hand und bat ihn in sein Büro.

»Et vous, mon ami.« Gamache lächelte. »Frohe Ostern.«

Sein erstes Erstaunen über den Bericht, den ihm Reine-Marie gezeigt hatte, hatte sich gelegt. Er hatte ihn gelesen und gerade als er damit fertig gewesen war, hatte sein Handy geklingelt.

Es war sein Freund und Vorgesetzter bei der Sûreté du Québec, Michel Brébeuf.

»Ein neuer Fall«, hatte Brébeuf gesagt. »Ich weiß, dass Daniel mit seiner Familie zu Besuch ist, tut mir leid. Könnten wir uns trotzdem kurz im Büro sehen?«

Gamache wusste, es war reine Höflichkeit, dass sein Vorgesetzter fragte. Er hätte ihn auch einfach herzitieren können. Aber andererseits waren sie von früher Kindheit an miteinander befreundet und zur gleichen Zeit zur Sûreté gegangen. Sie hatten sich sogar zusammen um den Posten des Superintendent beworben. Brébeuf hatte ihn bekommen, aber das hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan.

»Sie fliegen heute Abend nach Paris zurück. Kein Problem. Wir haben die Zeit mit ihnen genossen, und wie immer war sie viel zu schnell vorbei. Ich bin gleich da.«

Er hatte sich von seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und Florence verabschiedet.

»Ich rufe dich später an«, sagte er zu Reine-Marie und gab ihr einen Kuss. Sie winkte und sah ihm nach, wie er mit zielstrebigen Schritten zum Parkplatz ging, der hinter einer Reihe von Bäumen verborgen war. Sie sah ihm nach, bis er aus ihrem Blickfeld verschwand. Und dann sah sie ihm immer noch nach.

»Hast du die Zeitung gelesen?«, fragte Brébeuf, zum Du wechselnd, wie immer, wenn sie allein waren, und ließ sich auf dem Drehsessel hinter seinem Schreibtisch nieder.

»Gejagt trifft es eher als gelesen.« Er erinnerte sich an seinen Versuch, die Zeitung mit seinem großen Fußabdruck quer darüber zu lesen. »Du sprichst nicht etwa von dem Fall in Three Pines?«

»Du hast sie also gelesen.«

»Reine-Marie hat mich darauf aufmerksam gemacht. Aber es hieß, es wäre ein natürlicher Tod. Makaber, aber natürlich. Wurde sie tatsächlich zu Tode erschreckt?«

»Das sagen zumindest die Ärzte im Krankenhaus von Cowansville. Herzversagen. Aber …«

»Sprich ruhig weiter.«

»Du musst es dir selbst ansehen, wie ich gehört habe, machte sie den Eindruck, als …« Brébeuf hielt inne, fast schien es ihm peinlich zu sein, es auszusprechen, »als hätte sie etwas gesehen.«

»In der Zeitung stand, sie hätte an einer Séance im alten Hadley-Haus teilgenommen.«

»Eine Séance«, Brébeuf schnaubte. »Unsinn. Na gut, wenn Jugendliche so etwas machen, aber Erwachsene? Ich begreife nicht, warum jemand seine Zeit mit einem solchen Unsinn verschwenden sollte.«

Gamache fragte sich, warum der Superintendent an seinem freien Tag ins Büro gekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Brébeuf schon einmal über einen Fall mit ihm gesprochen hätte, noch bevor feststand, dass es sich überhaupt um einen solchen handelte.

Warum also dieses Mal?

»Der Arzt kam erst heute Morgen auf die Idee, das Blut ins Labor zu schicken. Das hier kam zurück.«

Brébeuf reichte ihm ein Blatt Papier. Gamache setzte seine Lesebrille auf. Er hatte schon Hunderte solcher Berichte gelesen und wusste genau, wonach er suchen musste. Nach dem Ergebnis der toxikologischen Untersuchung nämlich.

Nach einer Minute ließ er das Blatt sinken und sah Brébeuf über seinen Brillenrand hinweg an.

»Ephedra.«

»C’est ça.«

»Aber muss es deshalb Mord sein?«, sagte Gamache. »Nehmen manche Leute nicht von sich aus Ephedra?«

»Ephedra beziehungsweise der Wirkstoff Ephedrin ist verboten«, sagte Brébeuf.

»Richtig, ja«, sagte Gamache geistesabwesend. Er überflog den Bericht ein zweites Mal. Gleich darauf sagte er: »Das ist interessant. Hör dir das an: Die Verstorbene ist 1,67 Meter groß und wiegt 61,1 Kilogramm«, las er vor. »Man sollte nicht denken, dass sie ein Diätmittel brauchte.« Er nahm seine Brille ab und klappte sie zusammen.

»Die wenigsten brauchen welche«, sagte Brébeuf. »Alles nur Einbildung.«

»Ich frage mich, was sie vor ein paar Monaten gewogen hat«, sagte Gamache. »Vielleicht ist sie ja damit auf 61 Kilogramm gekommen.« Er klopfte mit seiner Brille auf den Bericht. »Mithilfe von Ephedra.«

»Vielleicht«, sagte Brébeuf. »Es ist deine Aufgabe, das herauszufinden.«

»Mord oder unglücklicher Zufall?« Gamache wandte sich wieder dem Blatt Papier in seiner Hand zu, er fragte sich, was es sonst noch enthüllen würde. Allerdings wusste der Chief Inspector, dass auf Papier nur selten die Antworten auf seine Fragen zu finden waren. War es Mord? Wer war der Mörder? Warum hatte der Mörder diese Frau so sehr gehasst oder gefürchtet, dass er sie umbringen musste? Warum? Warum? Immer das Warum vor dem Wer.

Nein, die Antworten fanden sich in etwas, das aus Fleisch und Blut war, nicht in einem Buch und nicht in einem Bericht. Oft nicht einmal in etwas Greifbarem, sondern in irgendetwas, das man nicht fassen und festhalten konnte. Die Antworten auf seine Fragen fanden sich in der dunklen Vergangenheit und den Gefühlen, die dort verborgen waren.

Das Blatt Papier in seiner Hand mochte die Fakten aufzeigen, aber nicht die Wahrheit. Um die zu enthüllen, musste er nach Three Pines. Um die zu enthüllen, musste er ein weiteres Mal in das alte Hadley-Haus.

»Wer soll in dein Team?« Die Frage brachte Gamache wieder in das Büro seines Freundes zurück. Brébeuf hatte sich um einen beiläufigen Ton bemüht, aber der konnte nicht kaschieren, wie seltsam seine Frage war. Noch nie zuvor hatte er Armand Gamache, den Leiter der Mordkommission, nach seiner Vorgehensweise gefragt, und erst recht nicht nach etwas so Banalem wie der Auswahl seiner Mitarbeiter.

»Warum fragst du?«

Brébeuf nahm einen Stift und klopfte damit auf einen Stapel mit unerledigtem Papierkram.

»Du weißt ganz genau, warum ich frage. Du selbst hast mich auf ihr Verhalten aufmerksam gemacht. Hast du vor, Agent Yvette Nichol bei diesem Fall einzusetzen?«

Da war sie. Die Frage, die Gamache auf der Fahrt von Mont Royal hierher gequält hatte. Sollte er Nichol in sein Team holen? War es an der Zeit? Er hatte auf dem nahezu leeren Parkplatz des Präsidiums in seinem Volvo gesessen und versucht, eine Entscheidung zu treffen. Trotzdem überraschte es ihn, dass sein Freund sich danach erkundigte.

»Was rätst du mir?«

»Hast du deine Entscheidung schon getroffen, oder gestehst du mir einen gewissen Einfluss darauf zu?«

Gamache lachte. Sie kannten einander einfach zu gut.

»Lass es mich so sagen, Michel, ich habe mich praktisch schon entschieden. Aber du weißt, wie sehr ich deine Meinung schätze.«

»Was wäre dir im Augenblick lieber, meine Meinung oder eine Brioche?«

»Eine Brioche«, gab Gamache mit einem Lächeln zu. »Genau wie dir.«

»Das ist wahr. Hör zu.« Brébeuf erhob sich, kam um den Schreibtisch herum, setzte sich auf die Kante und beugte sich zu seinem Chief Inspector herunter. »Sie mitzunehmen, nun ja, das wäre dumm. Ich kenne dich. Du willst sie retten, sie rehabilitieren. Eine gute und loyale Polizistin aus ihr machen. Habe ich recht?«

Von Michel Brébeufs Gesicht war das Lächeln verschwunden.

Gamache öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann jedoch anders. Stattdessen gab er seinem Freund Gelegenheit, sich Luft zu machen. Und der machte sich Luft.

»Eines Tages wird dein Ego dich umbringen. Mehr ist es nämlich nicht, weißt du. Du tust so, als wärst du selbstlos, du tust so, als wärst du der große Meister, der kluge und geduldige Armand Gamache, aber du und ich, wir beide wissen, dass es dein Ego ist. Stolz. Sei vorsichtig, mein Freund. Sie ist gefährlich. Das hast du selbst gesagt.«

Gamache spürte Ärger in sich aufsteigen, und er atmete ein paarmal tief durch, um ruhig zu bleiben. Um Zorn nicht mit Zorn zu begegnen. Er wusste, Michel Brébeuf sagte das, weil er der Superintendent war, aber auch, weil sie Freunde waren.

»Es ist an der Zeit, dass der Fall Arnot ein Ende findet«, sagte Gamache mit Nachdruck.

So. Jetzt hatte er es laut ausgesprochen.

Dieser verfluchte Arnot. Er schmorte im Gefängnis vor sich hin, und trotzdem verfolgte er ihn immer noch.

»Das dachte ich mir«, sagte Brébeuf und kehrte zu seinem Sessel zurück.

»Warum bist du hier, Michel?«

»In meinem eigenen Büro?«

Gamache schwieg und beobachtete seinen Freund. Schließlich beugte Brébeuf sich nach vorne, die Ellbogen auf seinen breiten Schreibtisch gestützt, als wollte er darüberkriechen und Gamache am Kopf packen.

»Ich weiß, was damals in dem alten Hadley-Haus passiert ist. Du wärst dort beinahe ums Leben gekommen …«

»So schlimm war es auch wieder nicht.«

»Lüg mich nicht an, Armand«, sagte Brébeuf warnend. »Ich wollte der Erste sein, der dir von diesem Fall berichtet, und sehen, wie es dir damit geht.«

Gamache schwieg, er war gerührt.

»Dieses Haus hat irgendetwas an sich«, gab er schließlich zu. »Du bist nie dort gewesen, oder?«

Brébeuf schüttelte den Kopf.

»Irgendetwas ist in diesem Haus. Eine Art Hunger, ein Bedürfnis, das gestillt werden muss. Das klingt bestimmt verrückt.«

»Ich glaube, dass in dir ein Bedürfnis steckt, das genauso zerstörerisch ist«, sagte Brébeuf. »Dein Bedürfnis, anderen zu helfen. Wie Agent Nichol.«

»Ich will ihr nicht helfen. Ich will sie und ihre Hintermänner bloßstellen. Ich glaube, dass sie für die Fraktion arbeitet, die Arnot unterstützt. Das habe ich dir schon gesagt.«

»Dann feuer sie«, stieß Brébeuf gereizt hervor. »Der einzige Grund, warum ich es noch nicht getan habe, ist der, dass du mich höchstpersönlich darum gebeten hast. Hör zu, der Fall Arnot wird niemals vorbei sein. Er durchdringt das ganze System. Jeder Beamte der Sûreté ist auf die eine oder andere Weise darin verwickelt. Die meisten stehen hinter dir, das weißt du. Aber diejenigen, die es nicht tun«, Brébeuf hob die Hände zu einer vielsagenden Geste der Kapitulation, »sie verfügen über Macht, und Nichol ersetzt ihnen Augen und Ohren. Solange sie in deiner Nähe ist, bist du in Gefahr. Sie werden dich zu Fall bringen.«

»Dazu gehören immer zwei, Michel«, sagte Gamache müde. Über den früheren Superintendent Arnot zu sprechen strengte ihn jedes Mal an. Er hatte gedacht, der Fall wäre abgeschlossen. Seit Langem tot und begraben. Aber jetzt fing er wieder von vorne an. Auferstanden von den Toten. »Solange sie in meiner Nähe ist, kann ich sie beobachten, kontrollieren, was sie sieht und tut.«

»Verrückter Kerl.« Brébeuf schüttelte den Kopf.

»Stolzer, sturer, eingebildeter Kerl«, stimmte Gamache ihm zu und ging zur Tür.

»Du sollst deine Nichol haben«, sagte Brébeuf, wandte ihm den Rücken zu und sah aus dem Fenster.

»Danke.«

Gamache schloss die Tür und ging in sein Büro, um ein paar Anrufe zu erledigen.

Sobald Superintendent Brébeuf allein war, griff er zum Telefon und tätigte seinerseits einen Anruf.

»Superintendent Brébeuf hier. Sie werden in Kürze einen Anruf von Chief Inspector Gamache erhalten. Nein, er hegt keinen Verdacht. Er hält Nichol für das Problem.«

Brébeuf holte ein paarmal tief Luft. Er hatte ein Stadium erreicht, in dem ihm allein beim Anblick von Armand Gamache übel wurde.

Inspector Jean Guy Beauvoir saß am Steuer des Volvo und fuhr auf der Pont Champlain über den St.-Lorenz-Strom und anschließend auf der Autobahn in die Eastern Townships weiter nach Süden in Richtung amerikanische Grenze. Als der letzte Volvo des Chefs vor einem Jahr endgültig den Geist aufgegeben hatte, hatte Beauvoir ihm vorgeschlagen, sich einen MG zuzulegen, aber aus irgendeinem Grund hatte der Chef das für einen Scherz gehalten.

»Also, worum geht es?«

»Gestern Nacht wurde in Three Pines eine Frau zu Tode erschreckt«, sagte Gamache und betrachtete die vorbeiflitzende Landschaft.

»Sacré. Das heißt, wir suchen wonach? Nach einem Gespenst?«

»Das kommt der Sache vielleicht näher, als Sie denken. Es passierte während einer Séance. Im alten Hadley-Haus.«

Gamache drehte sich um und musterte das schmale, attraktive Gesicht seines jungen Inspectors. Es wurde noch schmaler, und er presste die Lippen so fest aufeinander, dass alle Farbe aus ihnen wich.

»Dieses verfluchte Haus«, sagte Beauvoir schließlich. »Man sollte es abreißen.«

»Meinen Sie, das Haus ist schuld daran?«

»Sie nicht?«

Das war ein erstaunliches Geständnis für Beauvoir. Normalerweise war er immer so sachlich, völlig rational, er vertraute ausschließlich den Fakten und gab nichts auf Dinge, die man nicht sehen konnte, wie Gefühle beispielsweise. Er war die perfekte Ergänzung zu seinem Chef, der Beauvoirs Meinung nach viel zu viel Zeit damit verbrachte, in die Köpfe und Herzen anderer Leute zu kriechen. Da drin herrschte nur Chaos, und dafür hatte Beauvoir nicht sehr viel übrig.

Aber falls es jemals so etwas wie einen Beweis für das Böse gegeben hatte, dann war es Beauvoirs Erfahrung nach das alte Hadley-Haus. Er rutschte unbehaglich auf dem Fahrersitz hin und her und warf einen Blick zum Chef. Gamache betrachtete ihn nachdenklich. Sie sahen sich in die Augen, die von Gamache wirkten ruhig und gelassen und waren von einem sehr dunklen Braun, die von Beauvoir beinahe grau.

»Wer ist das Opfer?«

Das verlassene Haus

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