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»Dann ist sie tot umgefallen«, sagte Gabri. In dem Moment trat Olivier hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. Gabri stieß einen Schrei aus.

»Tabernacle. Willst du mich umbringen?«

Der Bann war gebrochen. Im Raum wurde es wieder hell, und Gamache stellte fest, dass auf dem Sofatisch auf einmal ein großes Tablett mit Sandwiches stand.

»Was ist danach passiert?«, fragte Gamache und nahm sich ein aufgeschnittenes warmes Baguette mit geschmolzenem Ziegenkäse und Rucola.

»Monsieur Béliveau hat sie nach unten getragen, während Gilles sein Auto holte«, sagte Myrna und griff nach einem Croissant mit gegrilltem Hähnchen und Mango.

»Gilles?«, fragte Gamache.

»Sandon. Er arbeitet in den Wäldern. Er und seine Freundin Odile waren auch dabei.«

Gamache erinnerte sich, dass sie auf der Liste der Zeugen in seiner Tasche standen.

»Gilles fuhr. Hazel und Sophie sind mitgefahren«, sagte Clara. »Wir anderen haben Hazels Auto genommen.«

»Mein Gott, Hazel«, sagte Myrna. »Hat heute schon jemand mit ihr gesprochen?«

»Ich habe sie angerufen«, sagte Clara und musterte das Tablett, verspürte jedoch keinen rechten Appetit. »Ich habe mit Sophie gesprochen. Hazel war zu mitgenommen.«

»Hazel und Madeleine standen sich nah?«, fragte Gamache.

»Sie waren beste Freundinnen«, sagte Olivier. »Seit der Highschool. Sie haben zusammengelebt.«

»Nicht als Liebespaar«, sagte Gabri. »Na ja, jedenfalls nicht, soweit ich weiß.«

»Sei nicht albern, natürlich waren sie kein Liebespaar«, sagte Myrna. »Männer. Ihr meint immer, wenn zwei erwachsene Frauen zusammenleben und ihre Zuneigung füreinander zeigen, dann sind sie Lesben.«

»Stimmt«, sagte Gabri, »bei uns nimmt auch jeder an, wir sind Schwule.« Er tätschelte Oliviers Knie. »Aber wir vergeben euch.«

»Hatte Madeleine Favreau jemals Übergewicht?«

Gamaches Frage kam so unerwartet, dass ihn alle nur verständnislos anstarrten, so als hätte er russisch gesprochen.

»Ob sie einmal dick war, meinen Sie?«, fragte Gabri. »Ich glaube nicht.«

Die anderen schüttelten die Köpfe.

»Sie hat allerdings noch nicht so lange hier gelebt«, sagte Peter. »Was würdet ihr sagen, fünf Jahre?«

»Ungefähr«, sagte Clara. »Aber sie hat sofort dazugehört. Sie trat mit Hazel zusammen dem Verein anglikanischer Frauen bei …«

Gabri stöhnte auf. »Mist. Sie sollte in diesem Sommer die Leitung übernehmen. Was soll ich denn jetzt machen?«

Es hatte ihn böse erwischt, wenn auch nicht so schlimm wie Madeleine, wie er zugeben musste.

»Armer Gabri«, sagte Olivier. »Eine echte Tragödie für dich.«

»Na, dann versuch du doch mal, den Verein zu leiten. Wo wir gerade von Mord reden«, sagte er mit einem Blick zu Gamache. »Vielleicht wäre Hazel dazu bereit? Was glaubst du?«

»Ich ›klaue‹ nichts«, sagte Olivier. »Und im Moment solltest du sie besser nicht darauf ansprechen.«

»Ist es möglich, dass sonst noch jemand in dem Haus war?«, fragte Gamache. »Die meisten von Ihnen haben Geräusche gehört.«

Clara, Myrna und Gabri schwiegen und dachten an die unheimlichen Geräusche.

»Was glaube Sie, Clara?«, fragte Gamache.

Was glaube ich?, fragte sie sich selbst. Dass der Teufel Madeleine umgebracht hat? Dass in diesem Haus das Böse wohnt, dass wir es womöglich sogar selbst dorthin gebracht haben? Vielleicht hatte das Medium recht, und jeder unfreundliche, jeder böse Gedanke, den einer von ihnen jemals gedacht hatte, war aus ihrem Dorf verbannt und von diesem Monster verschlungen worden. Und es war gierig. Vielleicht machten finstere Gedanken süchtig. Wenn man sie einmal gekostet hatte, wollte man immer mehr davon.

Aber hatte wirklich jeder alle seine finsteren Gedanken losgelassen? War es möglich, dass einer an ihnen festhielt, sie hortete? Sie verschlang, sie schluckte, bis er vor Verbitterung ganz aufgebläht war und zu einer lebenden, atmenden Version des Hauses auf dem Hügel geworden war?

Gab es eine menschliche Version dieses unglückseligen Orts, die sich mitten unter ihnen bewegte?

Was glaube ich?, fragte sie sich noch einmal. Sie wusste keine Antwort darauf.

Gamache wartete noch einen Moment, dann erhob er sich. »Wo finde ich Madame Chauvet, das Medium?«, fragte er. Er griff in seine Tasche, um das Essen und die Getränke zu bezahlen.

»Sie ist in der Pension abgestiegen«, sagte Olivier. »Soll ich sie holen?«

»Nein, wir gehen hinüber. Danke, patron

»Ich bin nicht hingegangen«, flüsterte Olivier Gamache zu, als er ihm an der Kasse auf der langen Holztheke das Wechselgeld gab, »weil ich zu viel Angst hatte.«

»Das kann ich Ihnen nicht verübeln. Mit diesem Haus stimmt etwas nicht.«

»Und mit dieser Frau.«

»Madeleine Favreau?« Gamache stellte fest, dass er jetzt ebenfalls flüsterte.

»Nein. Jeanne Chauvet, das Medium. Wissen Sie, was sie gleich nach ihrer Ankunft zu Gabri gesagt hat?«

Gamache wartete.

»Sie sagte: ›Bei Ihnen wird bald nichts mehr laufen. Sie kommen nicht zusammen.‹«

Gamache ließ diese seltsame Bemerkung auf sich wirken.

»Sind Sie sicher? Wundert mich, dass sich ein Medium über so etwas Gedanken macht. Es ist nicht …«

»Wahr? Natürlich nicht. Genau genommen – na ja, egal.«

Gamache trat durch die Tür hinaus in den strahlend hellen Tag, Oliviers letzte geflüsterte Warnung im Ohr.

»Sie ist eine Hexe, wissen Sie.«

Die drei Männer gingen die Straße entlang, die um den Dorfanger herumführte.

»Ich verstehe das nicht«, sagte Agent Lemieux und schritt weit aus, um mit Gamache Schritt zu halten. »War es Mord?«

»Ich verstehe das auch nicht, junger Mann«, sagte Gamache und blieb stehen, um ihn anzusehen. »Was machen Sie hier? Ich habe Sie nicht gerufen.«

Die Frage machte Lemieux verlegen. Er hatte erwartet, dass der Chief Inspector sich freuen würde, ihm sogar dankbar wäre. Stattdessen sah Gamache ihn geduldig und ein wenig erstaunt an.

»Er besucht über Ostern seine Eltern, die nicht weit von hier wohnen«, sagte Beauvoir. »Ein Freund von der örtlichen Sûreté hat ihm von dem Fall erzählt.«

»Ich bin einfach von selbst hergekommen. Tut mir leid, war das falsch?«

»Nein, nicht falsch. Ich will die Ermittlung nur so diskret wie möglich führen, bis wir wissen, ob es sich um Mord handelt.« Gamache lächelte. Seine Leute mussten Eigeninitiative zeigen, wenn vielleicht auch nicht ganz so viel wie dieser junge Polizist. Aber das würde er sich noch früh genug abgewöhnen, und Gamache war sich nicht sicher, ob das dann gut wäre.

»Wir wissen es also noch nicht genau?«, fragte Lemieux und beeilte sich, Gamache einzuholen, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und auf das große Haus an der Ecke zuging.

»Ich will nicht, dass im Moment jemand davon erfährt, aber sie hatte Ephedrin im Blut«, erklärte Gamache. »Schon mal was davon gehört?«

Lemieux schüttelte den Kopf.

»Das überrascht mich. Sie interessieren sich doch für Sport, n’est-ce pas

Der junge Polizist nickte. Das war eines der Dinge, die ihn mit Beauvoir verbanden. Ihre Begeisterung für Eishockey und die Montréal Canadians.

»Jemals was von Terry Harris gehört?«

»Dem Outfielder?«

»Oder Seamus Regan?«

»Dem Runningback? Der für die Lions gespielt hat? Sie sind beide gestorben. Ich kann mich erinnern, in Allô Sport etwas darüber gelesen zu haben.«

»Sie haben Ephedra geschluckt. Das gibt es als Diätpillen.«

»Jetzt weiß ich es wieder. Harris ist beim Training zusammengebrochen und Regan mitten im Spiel. Es war ein heißer Tag, und alle dachten, er hätte einen Hitzschlag erlitten. Aber das war es nicht?«

»Ihre Trainer hatten ihnen gesagt, sie müssten rasch Gewicht verlieren, deshalb haben sie Diätpillen genommen.«

»Das war vor ein paar Jahren«, sagte Beauvoir. »Ephedra ist inzwischen verboten, richtig?«

»Soweit ich weiß, aber vielleicht täusche ich mich auch. Könnten Sie das überprüfen?«, fragte Gamache an Lemieux gewandt.

»Selbstverständlich.«

Gamache lächelte, während er auf die hübsche Pension zuging. Lemieux’ Begeisterung gefiel ihm. Das war einer der Gründe, warum er den jungen Mann damals in sein Team geholt hatte. Lemieux hatte auf dem Revier in Cowansville gearbeitet, als Gamache das letzte Mal hier gewesen war, um in einem Mordfall zu ermitteln, er hatte damals Eindruck auf ihn gemacht.

Das Opfer in diesem Fall hatte im alten Hadley-Haus gewohnt.

Sie betraten die ausladende Veranda der Pension. Das zweistöckige Ziegelgebäude war früher eine Kutschenstation auf der Strecke zwischen Williamsburg und St-Rémy gewesen und stand an der Old Stage Road, wie sie jetzt hieß. Olivier hatte Gamache einmal erzählt, Gabri hätte ihn dazu überredet, das Haus zu kaufen, damit er seinen englischsprachigen Freunden erzählen konnte, er stehe jetzt auf der Bühne, »on the stage«.

In der Pension empfingen ihn Holzparkett, dicke indianische Teppiche und vornehme, leicht verblichene Stoffe. Man hatte den Eindruck, ein altes Landhaus zu betreten, das einen einlud, es sich gemütlich zu machen.

Aber er war nicht hier, um es sich gemütlich zu machen. Er war hier, um herauszufinden, was Madeleine Favreau umgebracht hatte. War es einfach ein Herzanfall gewesen, verursacht durch Aufregung oder Angst? Hatte sie das Ephedra selbst eingenommen? Oder war hier etwas Schlimmeres am Werk, das sich hinter der freundlichen Fassade von Three Pines verbarg? Olivier hatte gesagt, Jeanne Chauvet wohne in dem kleinen Zimmer im ersten Stock.

»Sie bleiben hier«, wies Gamache Lemieux an, bevor er mit Beauvoir den kurzen Flur hinunterging.

»Glauben Sie, dass sie uns überwältigen könnte?«, flüsterte Beauvoir mit einem Lächeln.

»Ja, ich glaube, das könnte sie«, erwiderte Gamache ernst und klopfte an die Tür.

Das verlassene Haus

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