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Das Sträßchen, das nach Three Pines führte, war landschaftlich reizvoll, aber auch tückisch, wie Gamache wusste. Das Auto holperte, schlingerte und hüpfte von Schlagloch zu Schlagloch, bis Beauvoir und Gamache sich wie gut durchgeschüttelte Milchshakes vorkamen.

»Vorsicht.« Gamache deutete auf ein riesiges Schlagloch in der unbefestigten Straße. Bei dem Versuch, ihm auszuweichen, rumpelte Beauvoir in ein noch größeres, anschließend schaukelte der fast neue Volvo über eine Reihe Rillen, die sich tief in die Erde gegraben hatten.

»Noch mehr Ratschläge?«, knurrte Beauvoir, den Blick starr auf die Straße gerichtet.

»Ich habe lediglich vor, alle paar Sekunden ›Vorsicht‹ zu rufen«, sagte Gamache. »Vorsicht.«

Vor ihnen tat sich etwas auf, das wie das Einschlagloch eines Meteoriten aussah.

»Mist.« Beauvoir riss das Lenkrad herum und schlitterte haarscharf daran vorbei. »Das ist ja gerade so, als wollte das Haus nicht, dass wir kommen.«

»Und deshalb hat es den Straßen befohlen, sich zu öffnen?« Selbst Gamache, der sich leidenschaftlich gern mit Seinsfragen beschäftigte, war überrascht. »Glauben Sie nicht, es könnte vielleicht am Tauwetter liegen?«

»Na ja, schon möglich. Vorsicht.« Sie rumpelten in ein Schlagloch und wurden nach vorne geworfen. Schlingernd und fluchend drangen sie langsam immer tiefer in die Wälder vor. Die unbefestigte Straße wand sich durch Kiefern- und Ahornwälder, Täler entlang und kleine Berge hinauf. Sie führte an rauschenden Flüssen vorbei, wie in jedem Frühling vom Schmelzwasser angeschwollen, und an grauen Seen, die erst seit Kurzem von ihrer winterlichen Eisdecke befreit waren.

Dann waren sie am Ziel.

Gamache bot sich der vertraute und seltsam tröstliche Anblick der Fahrzeuge der Spurensicherung, die am Straßenrand abgestellt waren. Das alte Hadley-Haus konnte er noch nicht sehen.

Beauvoir stellte den Volvo vor der stillgelegten Sägemühle gegenüber dem Haus ab. Als Gamache die Tür öffnete, empfing ihn ein intensiver Geruch, er hielt kurz inne und schloss die Augen.

Er sog den Geruch tief ein und wusste sofort, was es war. Kiefern. Der kräftige Geruch frischer neuer Triebe. Er tauschte seine Schuhe gegen Gummistiefel, zog seine Barbour-Jacke über sein Jackett und setzte seine Tweedkappe auf.

Ohne einen Blick auf das alte Hadley-Haus zu werfen, stapfte er zur Kuppe des Hügels. Beauvoir zog seine italienische Lederjacke über seinen Rollkragenpullover aus Merinowolle und musterte sich im Spiegel. Nach einem zufriedenen Blick ging er zu Gamache und stellte sich neben ihn, Schulter an Schulter standen die beiden Männer da und blickten über das Tal.

Armand Gamache liebte diese Aussicht. Auf der anderen Seite erhoben sich einer nach dem anderen die Berge, die Hänge von dem hellen Grün unzähliger Triebe überzogen. Unter den Geruch der Kiefern mischten sich jetzt der von Erde und einige andere Düfte. Der kräftige moschusartige Geruch vertrockneter Herbstblätter, der Rauch von Holzfeuer, der aus den Kaminen stieg, und noch etwas. Er hob den Kopf und atmete noch einmal tief ein, ganz langsam. Hinter den herben Gerüchen verbarg sich ein zarter Duft. Die ersten Frühlingsblumen. Die ersten und mutigsten von ihnen. Gamache musste an die würdevolle, schlichte Holzkirche mit dem weißen Turm denken. Sie lag rechts von ihm zu seinen Füßen. Er war schon oft in St. Thomas gewesen und wusste, dass an einem klaren Morgen wie diesem durch das alte bemalte Fenster buntes Licht auf die glatt polierten Bänke und den Dielenboden fiel. Auf diesem Fenster waren nicht Christus oder das Leben Heiliger und der Märtyrertod von Heiligen dargestellt, sondern drei junge Männer aus dem Ersten Weltkrieg. Zwei waren im Profil abgebildet und marschierten vorwärts. Der dritte jedoch blickte die Gemeinde direkt an. Nicht anklagend, nicht besorgt oder ängstlich. Sondern fast zärtlich, als wollte er sagen, dies sei sein Geschenk an sie. Nutzt es gut.

Darunter standen die Namen derer, die in den beiden Kriegen gefallen waren, und ganz zum Schluss noch eine Zeile.

Sie waren unsere Kinder.

Als Gamache jetzt auf der Hügelkuppe stand und auf das hübscheste und freundlichste Dorf hinuntersah, das er kannte, den Duft der tapferen jungen Blumen roch, da fragte er sich, ob immer die Jungen die Tapferen waren. Während die Alten ängstlich und feige wurden.

War er es? Auf jeden Fall hatte er Angst davor, diesen riesigen Kasten zu betreten, dessen Atem er in seinem Nacken spürte. Vielleicht war das aber auch Beauvoir. Es gab allerdings noch etwas, das ihm Angst machte.

Arnot. Dieser verfluchte Arnot. Und das, wozu dieser Mann selbst aus dem Gefängnis heraus noch imstande war. Vor allem aus dem Gefängnis heraus, wohin Gamache ihn gebracht hatte.

Doch selbst diese düsteren Gedanken verflogen bei dem Bild, das sich ihm bot. Wie konnte er mit diesem Anblick vor Augen Angst haben?

Three Pines duckte sich in das kleine Tal. Aus den Schornsteinen stieg der Rauch von Holzfeuern, Ahorn-, Kirsch- und Apfelbäume standen voller Knospen, es würde nicht mehr lange dauern, bis sie aufblühten. Hier und da sah man Leute, einige arbeiteten in ihren Gärten, andere hängten frisch gewaschene Wäsche auf, wieder andere fegten ihre hübschen breiten Veranden. Frühjahrsputz. Dorfbewohner gingen über den grünen Dorfanger, beladen mit Taschen voller Baguettes und anderen Lebensmitteln, die Gamache zwar nicht sehen, sich aber vorstellen konnte. Käse und Pasteten hier aus der Gegend, frische Eier und aromatische Kaffeebohnen aus den Läden da unten.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Fast Mittag.

Gamache hatte schon früher Ermittlungen in Three Pines durchgeführt und dabei jedes Mal das Gefühl gehabt, dass er dazugehörte. Es war ein starkes Gefühl. Aber was wollten die Menschen letzten Endes auch anderes als dazugehören?

Am liebsten wäre er den matschigen Hügel hinuntergegangen, hätte den Dorfanger überquert und die Tür zu Oliviers Bistro geöffnet. Dort würde er sich die Hände am Kaminfeuer wärmen, Lakritzpfeifen und einen Martini bestellen. Und vielleicht eine dicke Erbsensuppe. Er würde alte Ausgaben des Times Literary Supplement lesen und sich mit Olivier und Gabri über das Wetter unterhalten.

Wie kam es, dass der Ort, den er auf Erden am liebsten mochte, so nahe bei demjenigen lag, den er am wenigsten mochte?

»Was ist das?« Jean Guy Beauvoir legte ihm die Hand auf den Arm. »Hören Sie das?«

Gamache lauschte. Er hörte Vögel. Er hörte die verwelkten Blätter zu seinen Füßen in der leichten Brise rascheln. Und er hörte noch etwas.

Ein Rumpeln. Nein, mehr als das. Ein gedämpftes Grollen. War das alte Hadley-Haus hinter ihnen zum Leben erwacht? Streckte es sich seufzend und stöhnend?

Er riss sich vom Anblick des friedlichen Dorfes los und drehte sich langsam um, bis sein Blick schließlich auf dem Haus ruhte.

Es starrte zurück, kalt, trotzig.

»Es ist der Fluss, Sir«, sagte Beauvoir und grinste verlegen. »Der Bella Bella. Schmelzwasser. Das ist alles.« Er beobachtete den Chief Inspector, wie er das Haus anstarrte, schließlich blinzelte Gamache und drehte sich mit einem Lächeln zu Beauvoir um.

»Sind, Sie sicher, dass es nicht das Haus war, das gestöhnt hat?«

»Ziemlich sicher.«

»Ich glaube Ihnen.« Gamache lachte. Er legte dem jüngeren Mann die Hand auf die Schulter unter der weichen Lederjacke, dann ging er auf das alte Hadley-Haus zu.

Beim Näherkommen sah er zu seiner Verwunderung, dass die Farbe abblätterte und mehrere Fensterscheiben zerbrochen waren. Das Schild mit der Aufschrift »Zu verkaufen« war umgefallen, auf dem Dach fehlten Ziegel, und selbst aus dem Schornstein waren einige Steine herausgebrochen. Es machte fast den Eindruck, als würde das Haus Teile von sich wegwerfen.

Hör auf damit, rief er sich zur Ordnung.

»Womit?«, fragte Beauvoir, der beinahe rennen musste, um mit dem Chef mitzuhalten, dessen Schritte immer größer und schneller wurden, je weiter sie sich dem Haus näherten.

»Habe ich etwa laut gesprochen?« Gamache blieb abrupt stehen. »Jean Guy«, setzte er an, aber dann wusste er nicht weiter. Während Beauvoir wartete, wechselte der Ausdruck auf seinem Gesicht von respektvoll und aufmerksam zu fragend, stellte Gamache fest.

Was will ich ihm eigentlich sagen? Dass er vorsichtig sein soll? Dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen? Nicht das Hadley-Haus, nicht dieser Fall, nicht einmal ihr eigenes Team.

Am liebsten hätte er den jungen Mann von dem Haus weggeschickt. Weg von der Ermittlung. Weg von ihm. So weit weg von ihm wie nur möglich.

Die Dinge waren nicht so, wie sie schienen. Die Welt, wie er sie kannte, veränderte sich, entstand neu. Alles, was er bisher als gegeben betrachtet hatte, als Tatsache, als real und unbestritten, war zusammengebrochen.

Aber er würde den Teufel tun und ebenfalls zusammenbrechen. Oder zulassen, dass jemand, der ihm nahestand, Schaden erlitt.

»Das Haus bricht zusammen«, sagte Gamache. »Seien Sie vorsichtig.«

Beauvoir nickte. »Sie auch.«

Drinnen im Haus war Gamache überrascht, wie normal alles aussah. Überhaupt nicht böse. Wenn es überhaupt etwas war, dann irgendwie armselig.

»Hier oben, Chef«, rief Agent Isabelle Lacoste, und die braunen Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie sich über das dunkle Holzgeländer beugte. »Sie ist in dem Zimmer da gestorben.« Lacoste deutete hinter sich und verschwand wieder.

»Frohe Ostern«, sagte sie wenig später, als Gamache die Treppe hinaufgestiegen war und ins Zimmer trat. Agent Lacostes Kleidung war von einem lässigen Chic, wie die der meisten Québecerinnen. Mit Ende zwanzig hatte sie bereits zwei Kinder und sich nicht die Mühe gemacht, die überflüssigen Pfunde wieder loszuwerden. Stattdessen zog sie sich gut an und war mit dem Ergebnis durchaus zufrieden.

Gamache sah sich um. An der einen Wand stand ein gewaltiges Himmelbett. Gegenüber befand sich ein offener Kamin mit einem ausladenden viktorianischen Sims. Auf dem Fußboden lag ein riesiger indianischer Teppich in kräftigen Blau- und Rottönen. Die Wände waren mit einer gemusterten William-Morris-Tapete beklebt, und die Lampen, sowohl die auf den Tischen als auch die Stehlampen, waren mit Quasten verziert. Über die Lampe auf dem Frisiertisch war kunstvoll ein bunter Schal drapiert.

Er fühlte sich hundert Jahre zurückversetzt. Nur die im Kreis aufgestellten Stühle in der Mitte des Zimmers passten nicht ins Bild. Er zählte sie. Zehn. Drei davon waren umgefallen.

»Vorsicht, wir sind noch nicht fertig«, sagte Lacoste, als Gamache einen Schritt auf die Stühle zu machte.

»Was ist das?« Beauvoir deutete auf den Teppich, auf dem etwas lag, das wie Eiskörnchen aussah.

»Wahrscheinlich Salz. Zuerst dachten wir, es könnte Crystal Meth oder Kokain sein, aber es ist einfach nur Steinsalz.«

»Warum streut jemand Salz auf einen Teppich?«, fragte Beauvoir, ohne eine Antwort zu erwarten.

»Um den Raum zu reinigen, denke ich«, kam es zu seiner Überraschung zurück. Lacoste schien nicht bewusst zu sein, wie merkwürdig ihre Antwort klang.

»Verzeihung?«, fragte Gamache.

»Hier fand eine Séance statt, richtig?«

»Das hat man uns gesagt«, bestätigte Gamache.

»Was hat das mit dem Salz zu tun?«, fragte Beauvoir.

»Nur Geduld, Sie werden alles erfahren.« Lacoste lächelte. »Es gibt verschiedene Arten, eine Séance abzuhalten, aber nur eine, zu der ein Kreis aus Salz und vier Kerzen gehören.«

Sie deutete auf die Kerzen, die innerhalb des Kreises auf dem Teppich standen. Gamache hatte sie bis zu diesem Moment noch gar nicht bemerkt. Eine davon war umgefallen; als er sich darüberbeugte, meinte er einen Wachsfleck auf dem Teppich zu sehen.

»Sie stehen in den vier Himmelsrichtungen«, fuhr Lacoste fort. »Norden, Süden, Osten und Westen.«

»Ich kenne die Himmelsrichtungen«, sagte Beauvoir. Das alles behagte ihm überhaupt nicht.

»Sie sagten, es gäbe nur eine Art von Séance, zu der Kerzen und Salz gehören«, sagte Gamache mit ruhiger Stimme und wachsamem Blick.

»Bei den Wiccan«, sagte Lacoste. »Hexenkult.«

Das verlassene Haus

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