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Monsieur Béliveau öffnete Madeleine die Autotür.

»Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich dich nach Hause fahre?«

»Nein, nein, kein Problem. Ich bin schon wieder ruhiger«, log sie. Ihr Herz hämmerte noch immer in ihrer Brust, und sie war müde. »Jetzt kann ja nichts mehr passieren, nachdem du mich sicher zum Auto gebracht hast. Kein Bär kann mir was tun.«

Er nahm ihre Hand. Seine fühlte sich wie Reispapier an, trocken und zerbrechlich, und doch war sein Griff fest. »Sie tun dir nichts. Sie werden nur gefährlich, wenn du zwischen eine Mutter und ihr Junges gerätst. Davor musst du dich in Acht nehmen.«

»Ich werde es mir aufschreiben. ›Ich darf keine Bären ärgern.‹ Versprochen.«

Monsieur Béliveau lachte. Madeleine mochte sein Lachen. Sie mochte den Mann. Sie fragte sich, ob sie ihm ihr Geheimnis anvertrauen sollte. Es würde sie erleichtern. Sie hatte den Mund bereits geöffnet, schloss ihn jedoch wieder. Er hatte noch so viel Traurigkeit in sich. So viel Sanftmut. Das durfte sie ihm nicht nehmen. Noch nicht.

»Möchtest du auf einen Kaffee hereinkommen? Ich werde auch aufpassen, dass er koffeinfrei ist.«

Sie zog ihre Hand zurück.

»Ich muss nach Hause, danke für den schönen Tag«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Nur ohne Gespenster.« Es klang fast, als bedauerte er es. Und das tat er tatsächlich.

Er sah den roten Rücklichtern nach, die auf der Rue du Moulin an dem alten Hadley-Haus vorbeifuhren und hinter der Kurve verschwanden, dann machte er kehrt und ging zu seiner Haustür. Sein Gang war fast beschwingt. Etwas sehr Zartes war in ihm zum Leben erwacht. Etwas, von dem er überzeugt gewesen war, dass er es mit seiner Frau zu Grabe getragen hatte.

Myrna warf ein paar Scheite in den schmiedeeisernen Ofen und schloss die Tür. Dann schlurfte sie mit müden Schritten durch ihre Wohnung, wobei sie sich instinktiv von Flickenteppich zu Flickenteppich bewegte wie ein Schwimmer von Insel zu Insel, und knipste dabei nacheinander die Lampen aus. Die Wohnung mit den Ziegelwänden und den alten Balken versank langsam in Dunkelheit, bis auf das eine Licht neben ihrem großen, einladenden Bett. Myrna stellte den Becher mit heißer Schokolade und den Teller mit Schokoladenkeksen auf das alte Nachttischchen und nahm ihr Buch. Sie hatte sich wieder einmal die Klassiker vorgenommen. Zum Glück war der Vorrat an Büchern in ihrem Antiquariat unerschöpflich. Sie selbst war ihre beste Kundin. Gut, sie und Clara, von der der größte Teil gebrauchter Krimis stammte. Sie fing an zu lesen, eine Wärmflasche an den Füßen, die Bettdecke bis unters Kinn gezogen. Sie nippte an dem Kakao und knabberte Kekse, bis sie merkte, dass sie seit zehn Minuten immer wieder dieselbe Seite las.

Sie war mit den Gedanken woanders, sie waren irgendwo in der Dunkelheit zwischen den Lichtern von Three Pines und den Sternen hängen geblieben.

Odile schob die CD in die Anlage und setzte den Kopfhörer auf.

Endlich war es so weit. Sechs Tage lang wartete sie sehnsüchtig auf diesen Moment, von Tag zu Tag mit wachsender Ungeduld. Nicht dass sie ihren Alltag nicht genoss. Im Gegenteil, sie war erstaunt, wie viel Glück sie hatte. Dass Gilles sich ihr zugewandt hatte, nachdem seine Ehe in die Brüche gegangen war, erstaunte sie immer noch. Sie war schon in der Highschool in ihn verknallt gewesen. Irgendwann hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und ihn zu dem alljährlichen Tanzfest mit Damenwahl eingeladen, und sie hatte einen Korb bekommen. Aber er war nicht gemein gewesen. Einige der Jungen waren gemein, besonders zu Mädchen wie Odile. Aber Gilles nicht. Er war immer freundlich gewesen. Hatte immer gelächelt und im Treppenhaus bonjour gesagt, selbst wenn seine Freunde es hören konnten.

Odile hatte ihn damals angebetet, und sie betete ihn noch immer an.

Dennoch sehnte sie sich jede Woche nach diesem Moment. Freitagabend ging Gilles immer früh ins Bett, und sie zog sich in das kleine Wohnzimmer in dem Haus in St-Rémy zurück.

Sobald sie die ersten Töne des ersten Liedes vernahm, entspannten sich ihre Schultern und sanken nach unten. Sie spürte, wie ihre Wachsamkeit nachließ. Der Zwang, auf jedes Wort zu achten, jede Bewegung. Sie schloss die Augen und nahm einen großen Schluck Wein, so wie eine Ertrinkende nach Luft schnappte. Die Flasche war schon halb leer, und Odile sorgte sich, dass ihr der Wein ausgehen könnte, bevor sich der magische Moment einstellte. Die Verwandlung.

Ein paar Minuten später hatte sich Odile erhoben – ihre Augen waren geschlossen – und lief über eine blumengeschmückte Bühne. In Oslo. Es war doch Oslo, oder nicht? Egal.

Das elegante Publikum in Frack und Abendkleid war auf die Füße gesprungen. Klatschte. Nein, weinte.

Odile blieb auf halbem Weg stehen, um der jubelnden Menge zuzuwinken. Sie legte ihre Hand auf die Brust und verbeugte sich mit einem Ausdruck größter Bescheidenheit und Würde.

Dann legte ihr der König die Seidenschärpe um. Auch er hatte Tränen in den Augen.

»Es ist mir ein großes Vergnügen, Madame Montmagny, Ihnen den Nobelpreis für Literatur verleihen zu dürfen.«

Aber an diesem Abend rührte sie der donnernde Applaus nicht, er hüllte sie nicht ein und schützte sie nicht vor der Angst, dass man entdeckt haben könnte, was für eine jämmerliche Gestalt sie eigentlich war. Vor dem Versuch, sich in einer Welt zurechtzufinden, deren geheimen Code alle verstanden, nur sie nicht.

Aber Odile wusste etwas, was sonst niemand wusste, es war ihr kleines Geheimnis. Alle Leute bei der Séance hatten vor bösen Geistern Angst gehabt, aber sie wusste, dass das Monster nicht aus der anderen Welt kam, sondern aus dieser. Odile Montmagny wusste auch, wer es war.

Bei ihrer Rückkehr fand Madeleine eine nervöse und unruhige Hazel vor.

»Konnte nicht schlafen«, sagte Hazel und schenkte ihnen beiden eine Tasse Tee ein. »Wahrscheinlich bin ich aufgeregt, weil Sophie nach Hause kommt.«

Madeleine rührte ihren Tee um und nickte. Hazel war immer ein wenig nervös, wenn Sophie nach Hause kam. Es brachte das ruhige Gleichmaß ihres Lebens durcheinander. Nicht dass Sophie ständig Party machen wollte oder auch nur besonders laut war. Nein, es war etwas anderes. Eine gewisse Spannung, die plötzlich ihr gemütliches Zuhause erfasste.

»Ich habe der armen Mrs Bellows etwas zum Abendessen gebracht.«

»Wie geht es ihr?«, fragte Mad.

»Besser, aber sie hat immer noch Rückenschmerzen.«

»Findest du nicht, dass ihr Mann und ihre Kinder sich mehr um sie kümmern sollten?«

»Aber das tun sie nicht«, sagte Hazel. Manchmal kam eine überraschende Härte an Madeleine zum Vorschein. Sie hatte dann fast den Eindruck, als würde Madeleine sich nicht für andere Menschen interessieren.

»Du bist eine gute Seele, Hazel. Ich hoffe, sie hat es dir gedankt.«

»Ich werde meinen Lohn im Himmel bekommen«, sagte Hazel und legte mit einer dramatischen Geste die Hand an die Stirn. Die beiden lachten. Das gehörte zu den Dingen, die Madeleine an Hazel mochte. Dass sie nicht nur ein herzensguter Mensch war, sondern sich selbst auch nicht allzu ernst nahm.

»Wir werden noch eine Séance abhalten.« Mad stippte ihren Keks in den Tee und schaffte es gerade noch rechtzeitig, die aufgeweichte und tropfende Masse in den Mund zu stecken. »Sonntagabend.«

»Waren für das eine Mal zu viele Gespenster da? Müsst ihr sie schichtweise abarbeiten?«

»Zu wenige. Das Medium meinte, die Atmosphäre im Bistro sei zu günstig.«

»Sie hat sicher nicht gesagt, zu tuntig?«

»Möglich.« Mad lächelte. Sie wusste, dass Hazel und Gabri miteinander befreundet waren und seit Jahren im Verein anglikanischer Frauen zusammenarbeiteten. »Trotzdem kamen keine Gespenster. Deshalb wollen wir ins alte Hadley-Haus.«

Sie beobachtete Hazel über den Rand ihrer Teetasse. Diese starrte sie überrascht an. Es dauerte einen Moment, bis sie die Sprache wiederfand.

»Bist du sicher, dass das klug ist?«

»Warst du hier drin?«, rief Clara aus ihrem Atelier.

Peters Hand erstarrte in der Luft, er war gerade dabei gewesen, Lucy ihr Betthupferl zu geben. Lucys Schwanz schlug immer heftiger hin und her, sie hatte den Kopf zur Seite gelegt, die Augen gebannt auf den leckeren Hundekeks gerichtet, so als könne der Wunsch allein Dinge in Bewegung versetzen. Aber wenn das funktionieren würde, dann ginge auch die Kühlschranktür ständig auf und zu.

Clara streckte den Kopf aus ihrem Atelier und sah Peter neugierig an. Er fühlte sich sofort angeklagt. Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung, wobei er genau wusste, dass er sie sowieso nicht anlügen konnte. Nicht, was das anging zumindest.

»Ich bin reingegangen, als du bei der Séance warst. Macht dir das etwas aus?«

»Etwas ausmachen? Ganz im Gegenteil. Hast du etwas Bestimmtes gewollt?«

Sollte er sagen, dass er etwas Kadmiumgelb gebraucht hatte? Einen breiteren Pinsel? Ein Lineal?

»Ja.« Er ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Taille. »Ich wollte einen Blick auf dein Bild werfen. Es tut mir leid. Ich hätte warten sollen, bis du zurück bist, und dich fragen sollen.«

Er wartete auf ihre Reaktion. Das Herz wurde ihm schwer. Sie sah lächelnd zu ihm auf.

»Du wolltest es wirklich sehen? Peter, das freut mich.«

Er zog die Schultern ein.

»Komm rein.« Sie nahm seine Hand und führte ihn zu dem Ding in der Mitte des Raums. »Sag mir, was du davon hältst.«

Sie zog das Laken von der Staffelei, und da war es wieder.

Das schönste Bild, das er jemals gesehen hatte.

Es war so schön, dass es schmerzte. Ja. Das war es. Der Schmerz, den er empfand, kam von außen. Nicht von innen. Nein.

»Es ist erstaunlich, Clara.« Er nahm ihre Hand und sah ihr in ihre leuchtenden, blauen Augen. »Das ist das beste Bild, das du je gemalt hast. Ich bin so stolz auf dich.«

Clara öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus. Sie hatte ihr gesamtes Künstlerinnenleben darauf gewartet, dass Peter eines ihrer Werke verstehen würde, wirklich erfassen. Mehr sah als nur Farbe auf Leinwand. Es tatsächlich empfand. Sie wusste, ihr sollte nicht so viel daran liegen. Wusste, dass es eine Schwäche von ihr war. Wusste, dass andere Künstler, auch Peter, sagten, dass man seine Werke für sich selbst schaffen musste und sich nicht darum kümmern sollte, was andere dachten.

Sie kümmerte sich auch nicht um die anderen, nur um diesen einen. Sie wollte, dass der Mann, mit dem sie ihr Leben teilte, auch ihre künstlerischen Ideen teilte. Wenigstens ein Mal. Ein einziges Mal. Und jetzt war es geschehen. Das Schönste war, dass es bei dem Bild passierte, das wichtiger als jedes andere war. Dasjenige, das sie in wenigen Tagen dem bedeutendsten Galeristen von Québec zeigen würde. Dasjenige, in das sie alles gesteckt hatte.

»Glaubst du wirklich, die Farben stimmen?« Peter beugte sich vor, dann machte er einen Schritt zurück, sah sie nicht an. »Doch, bestimmt. Ich bin sicher, du weißt genau, was du tust.«

Er küsste sie und flüsterte »Glückwunsch« in ihr Ohr. Dann ging er.

Clara trat einen Schritt zurück und starrte die Leinwand an. Peter war einer der anerkanntesten und erfolgreichsten Künstler Kanadas. Vielleicht hatte er recht. Das Bild war gut, aber irgendetwas …

»Was tust du da?«, fragte Olivier Gabri. Es war mitten in der Nacht, und sie standen in ihrem Wohnzimmer in der Pension. Olivier hatte seinen Arm ausgestreckt und gemerkt, dass Gabris Seite im Bett leer und kalt war. Jetzt zog Olivier den Gürtel seines seidenen Bademantels enger und betrachtete seinen Lebensgefährten verschlafen.

Gabri stand in ausgebeulten Schlafanzughosen und Schlappen da und schien im Begriff zu sein, mit dem Croissant in der Hand eine Runde im Wohnzimmer zu drehen.

»Ich versuche, alle bösen Gespenster, die mich von der Séance hierher verfolgt haben könnten, zu bannen.«

»Mit einem Croissant?«

»Na ja, wir haben kein Kreuz im Haus, da schien es mir das Nächstbeste zu sein. Ist der Halbmond nicht das Symbol des Islams?«

Gabri versetzte Olivier immer wieder in Erstaunen. Seine unerwartete Tiefsinnigkeit und seine intellektuellen Abgründe. Olivier schüttelte den Kopf und ging wieder ins Bett, in der sicheren Gewissheit, dass am nächsten Morgen sämtliche bösen Gespenster und Croissants verschwunden wären.

Das verlassene Haus

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