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Madame Isadore Blavatsky war an diesem Abend nicht ganz sie selbst. Genau genommen war sie überhaupt nicht Madame Isadore Blavatsky.

»Nennen Sie mich doch bitte Jeanne.« Die unscheinbare Frau stand im Hinterzimmer des Bistros und streckte ihre Hand aus. »Jeanne Chauvet.«

»Guten Tag, Madame Chauvet.« Clara lächelte und schüttelte die schlaffe Hand. »Bitte entschuldigen Sie.«

»Jeanne«, erinnerte die Frau sie mit kaum vernehmbarer Stimme.

Clara ging zu Gabri, der eine Platte mit Räucherlachs herumreichte. Das Zimmer begann sich langsam zu füllen. »Lachs?« Er hielt Clara die Platte hin.

»Wer ist das?«, fragte Clara.

»Madame Blavatsky, das berühmte ungarische Medium. Spürst du ihre Aura etwa nicht?«

Madeleine und Monsieur Béliveau winkten ihr zu. Clara winkte zurück, dann sah sie zu Jeanne, die so aussah, als würde sie in Ohnmacht fallen, wenn jemand auch nur Buh machte. »Aber sicher spüre ich etwas, junger Freund, und das ist Ärger.«

Gabri Dubeau schwankte zwischen der Freude darüber, »junger Freund« genannt zu werden, und Rechtfertigungsdruck.

»Das ist nicht Madame Blavatsky. Sie tut nicht einmal so. Sie heißt Jeanne Soundso«, sagte Clara, nahm sich geistesabwesend ein Stück Lachs und legte es auf eine Scheibe Pumpernickel. »Du hast uns Madame Blavatsky versprochen.«

»Du weißt nicht einmal, wer Madame Blavatsky ist.«

»Jedenfalls weiß ich, wer sie nicht ist.« Clara nickte und lächelte der kleinen Frau mittleren Alters zu, die etwas verwundert zwischen ihnen stand.

»Und, wärst du gekommen, wenn du gewusst hättest, dass sie das Medium ist?« Gabri deutete mit der Platte auf Jeanne. Eine Kaper rollte herunter und ging für immer auf dem bunt gemusterten Perserteppich verloren.

Warum ziehen wir eigentlich nie unsere Lehren, überlegte Clara seufzend. Jedes Mal, wenn Gabri einen Gast hat, lädt er zu irgendeiner merkwürdigen Veranstaltung ein, wie das eine Mal, als der Poker-Profi da war und uns unser Geld abknöpfte, oder diese Sängerin, im Vergleich zu der sogar Ruth wie Maria Callas klingt. So schrecklich diese von Gabri organisierten Zusammenkünfte allerdings auch für die Bewohner von Three Pines waren, noch schlimmer mussten sie für die nichts ahnenden Gäste sein, die dazu verdonnert waren, ein ganzes Dorf zu unterhalten, wo sie doch nur ein paar ruhige Tage auf dem Land verbringen wollten.

Sie beobachtete Jeanne Chauvet, die sich im Raum umsah, sich die Hände an ihrer Polyesterhose abwischte und das Porträt über dem prasselnden Kaminfeuer anlächelte. Sie schien vor Claras Augen zu verschwinden. Es war fast wie ein Zaubertrick, wenn auch keiner, der für ihre Qualitäten als Medium sprach. Clara empfand Mitgefühl für die Frau. Also wirklich, was dachte sich Gabri eigentlich dabei?

»Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«

»Warum? Sie ist ein Medium. Das hat sie mir gesagt, als sie ihr Zimmer bezogen hat. Gut, sie heißt nicht Madame Blavatsky. Und stammt auch nicht aus Ungarn. Aber sie hält spiritistische Sitzungen ab.«

»Moment mal.« Clara beschlich ein Verdacht. »Weiß sie überhaupt von deiner Planung für diesen Abend?«

»Ach, das hat sie bestimmt vorhergesehen.«

»Nachdem die ersten Leute eingetroffen waren, vielleicht. Gabri, wie kannst du ihr das antun? Und uns?«

»Es macht ihr Spaß. Sieh sie dir an. Sie wirkt doch schon viel entspannter.«

Myrna hatte ihr ein Glas Weißwein geholt, und Jeanne Chauvet trank ihn, als wäre er das Wasser vor der Verwandlung. Myrna sah zu Clara herüber und zog die Augenbrauen in die Höhe. Noch mehr davon und Myrna müsste die Séance abhalten.

»Séance?«, fragte Jeanne eine Minute später, als Myrna sich erkundigte, was sie erwarten würde. »Hält hier jemand eine Séance ab?«

Alle Blicke wanderten zu Gabri, der die Lachsplatte behutsam auf einem Tisch abstellte und neben Jeanne trat. Gabris riesenhafte Erscheinung schien die unscheinbare Frau noch mehr schrumpfen zu lassen, bis man nur noch ihre Kleider zu sehen meinte. Clara schätzte sie auf Anfang vierzig. Ihre stumpfen braunen Haare sahen aus wie selbst geschnitten. Ihre Augen waren von einem wässrigen Blau und ihre Kleidung stammte vom Wühltisch. Clara hatte den größten Teil ihres Künstlerinnenlebens in Armut verbracht und kannte die Zeichen. Sie fragte sich kurz, warum Jeanne nach Three Pines gekommen war und sich einen Aufenthalt in Gabris Pension leistete, der zwar keine astronomisch hohen Preise verlangte, aber auch nicht gerade billig war.

Jeanne machte mittlerweile keinen verängstigten Eindruck mehr, sondern nur noch einen verwirrten. Clara wäre am liebsten zu ihr gegangen, hätte den Arm um die Schultern der zierlichen Frau gelegt und sie vor dem, was auf sie zukam, beschützt. Sie hätte ihr am liebsten ein gutes, warmes Abendessen bereitet und dann ein warmes Bad eingelassen, und mithilfe einiger freundlicher Worte hätte sie vielleicht ein wenig Farbe in die Frau gezaubert.

Auch Clara sah sich in dem Raum um. Peter hatte es kategorisch abgelehnt, sich ihnen anzuschließen, und das Ganze als dummen Hokuspokus bezeichnet. Aber als sie gegangen war, hatte er ihre Hand einen Moment länger als sonst gehalten und gesagt, sie solle auf sich aufpassen. Clara hatte gelächelt, als sie unter dem Sternenhimmel um den Dorfanger zum hell erleuchteten Bistro gegangen war. Peter war streng anglikanisch erzogen worden. Solche Sachen riefen tiefe Abneigung in ihm hervor. Und machten ihm Angst.

Während des Abendessens hatten sie sich in eine kleine Debatte verstrickt, bei der Peter natürlich den Standpunkt vertreten hatte, dass das Ganze bekloppt war.

»Du nennst mich also bekloppt?«, hatte Clara gefragt, wohl wissend, dass er das nicht getan hatte, aber sie wollte sehen, wie er sich wand. Er hatte seinen grau gelockten Kopf gehoben und ihr einen wütenden Blick zugeworfen. Der große, schlanke Mann wirkte mit seiner Adlernase und den intelligenten Augen eher wie ein Bankdirektor als der Künstler, der er war. Ein Künstler allerdings, der keine Verbindung zu seinem Herzen zu haben schien. Er lebte in einer ganz und gar rationalen Welt, in der alles Unerklärliche »bekloppt« oder »Hokuspokus« oder »verrückt« war. Gefühle waren verrückt. Bis auf seine aufrichtige und bedingungslose Liebe zu Clara.

»Nein, ich habe dieses Medium gemeint. Das ist doch Scharlatanerie. Verbindung zu den Toten aufnehmen, die Zukunft voraussagen. Blödsinn. Der Trick ist so alt wie Methusalem.«

»Meinst du den aus der Bibel?«

»Fang bloß keinen Streit an«, hatte Peter warnend gesagt.

»Nein, will ich ja gar nicht. Aber wo geht es denn ständig um Verwandlungen? Von Wasser in Wein. Brot in Fleisch. Und um Magie. Auf dem Wasser wandeln, das Meer teilen, die Blinden sehend machen und die Lahmen gehend.«

»Das waren Wunder, keine Magie.«

»Ah, verstehe.« Clara hatte genickt und gelächelt und sich wieder ihrem Essen zugewandt.

So kam es, dass Clara sich in Begleitung von Myrna wiederfand. Madeleine und Monsieur Béliveau waren auch schon da und standen zwar nicht händchenhaltend herum, aber doch beinahe. Sein Arm in der Strickjacke berührte ihren, und sie zog ihn nicht zurück. Erneut stellte Clara ohne jeden Neid fest, wie attraktiv Madeleine war. Sie gehörte zu den Frauen, die andere Frauen zur Freundin und Männer zur Ehefrau haben wollten.

Clara lächelte Monsieur Béliveau an und errötete. Weil sie ihn in einem intimen Moment erwischt hatte, Zeuge von Empfindungen geworden war, die nicht für fremde Augen bestimmt waren. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, aber dann wurde ihr klar, dass ihr Erröten mehr mit ihr selbst als mit ihm zu tun hatte. Nach dem Gespräch, das sie an diesem Nachmittag belauscht hatte, sah sie Monsieur Béliveau in einem neuen Licht. Der sanftmütige Gemischtwarenhändler war nicht mehr nur ein freundlicher, angenehmer Zeitgenosse, er war zu einem Geheimnis geworden. Clara behagte diese Verwandlung nicht. Sie mochte sich selbst nicht dafür, dass sie so empfänglich dafür war, was andere redeten.

Gilles Sandon stand vor dem Kamin und rieb sich über seine klammen Oberschenkel, die in einer riesigen Jeans steckten. Der Kamin verschwand praktisch hinter seinem enormen Körper. Odile Montmagny brachte ihm ein Glas Wein, das er entgegennahm, ohne den Blick von Monsieur Béliveau abzuwenden, der sich dessen allerdings nicht bewusst zu sein schien.

Clara hatte Odile immer gemocht. Sie waren ungefähr gleich alt und beide künstlerisch tätig, Clara malte, und Odile schrieb. Sie behauptete, sie arbeite an einem Versepos, einer Ode an die Anglos von Québec, was etwas merkwürdig war, da sie selbst Frankokanadierin war. Ihre Lesung in der Royal Canadian Legion in St-Rémy würde Clara nie vergessen. Fast alle hiesigen Schriftsteller waren eingeladen worden, so auch Ruth und Odile. Ruth hatte zuerst aus ihrem bitterbösen Gedicht An die Gemeinde vorgetragen:

Ich beneide euer stetes Lodern,

Angeheizt von Gottesloben.

Ich beneide, das glaubt mir,

dass ihr zusammen eins seid: ihr.

Und ich sehe, ihr seht niemals ein,

ich muss für mich alleine sein.

Dann war Odile an der Reihe gewesen. Sie war aufgesprungen und hatte, ohne zwischendurch Luft zu holen, ihr Gedicht heruntergerasselt.

Frühling kommt mit aller Macht,

Der Schnee, er schmilzt, das Eis, es kracht,

Und aus der Erde bricht,

Getaucht in sanftes Sonnenlicht,

Ein duftend zartes kleines Schlicht.

»Bezauberndes Gedicht«, log Clara, als die Lesung zu Ende war und sich alle um die Bar drängten, sie hatten jetzt einen Drink nötig. »Nur aus Neugier: Was ist ein Schlicht?«

»Das habe ich erfunden«, sagte Odile fröhlich. »Ich brauchte ein Wort, das sich auf bricht und Licht reimt.«

»Wie Wicht?«, schlug Ruth vor. Clara warf ihr einen warnenden Blick zu, während Odile darüber nachzudenken schien.

»Zu abgedroschen, leider.«

»Gegen den Wicht ist das Schlicht natürlich eine Wucht«, sagte Ruth zu Clara, bevor sie sich wieder an Odile wandte. »Nun, ich fühle mich jedenfalls bereichert, wenn nicht gar befruchtet. Die einzige Dichterin, mit der man dich vergleichen möchte, ist die große Sarah Binks.«

Odile hatte noch nie etwas von Sarah Binks gehört, wusste allerdings auch, dass sie eher in der französischen Literatur bewandert war. Sarah Binks musste eine sehr bedeutende englischsprachige Dichterin sein. Dieses Kompliment aus Ruth Zardos Mund hatte Odile Montmagnys Schaffenskraft neuen Schwung verliehen, und wenn es ruhig in ihrem Laden war, dem Maison Biologique in St-Rémy, holte sie ihr abgegriffenes, eselsohriges Schulheft hervor und dichtete drauflos, wobei sie manchmal nicht einmal auf eine Inspiration wartete.

Clara rang selbst oft genug mit ihrer Arbeit, sie identifizierte sich daher mit Odile und ermutigte sie. Peter hielt Odile natürlich für bekloppt. Aber Clara wusste es besser, sie wusste, dass sich große Künstler oft nicht durch Genie auszeichneten, sondern durch Beharrlichkeit, und Odile war beharrlich.

Acht Leute hatten sich an diesem Karfreitag in dem gemütlichen Hinterzimmer des Bistros eingefunden, um die Toten auferstehen zu lassen, nur die Frage, wer es tun würde, war noch nicht geklärt.

»Ich nicht«, sagte Jeanne. »Ich dachte, einer von Ihnen wäre das Medium.«

»Gabri?« Gilles Sandon wandte sich an den Gastgeber.

»Aber Sie haben mir doch erzählt, dass Sie spiritistische Sitzungen abhalten«, sagte Gabri in bettelndem Ton zu Jeanne.

»Das tue ich auch. Mit Tarotkarten, Runen und Ähnlichem. Ich nehme aber keine Verbindung mit Toten auf. Jedenfalls nicht oft.«

Es ist komisch, dachte Clara, wenn man nur lange genug wartete und ruhig blieb, sagten die Leute die merkwürdigsten Dinge.

»Nicht oft?«, fragte sie Jeanne.

»Manchmal«, gab diese zu und wich einen kleinen Schritt zurück, so als wäre sie angegriffen worden. Clara zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht und versuchte weniger forsch zu wirken, wobei gegenüber dieser Frau selbst ein Schokoladenhase einen forschen Eindruck gemacht hätte.

»Könnten Sie es nicht heute Abend machen? Bitte!«, sagte Gabri. Er sah seine kleine Party schon den Bach runtergehen.

Winzig, farblos und unscheinbar stand Jeanne in ihrer Mitte. Da sah Clara etwas über das Gesicht der mausgrauen Frau huschen. Ein Lächeln. Nein. Ein Grinsen.

Das verlassene Haus

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