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Der graue Morgenhimmel am Ostersonntag verhieß nichts Gutes, aber es bestand die Hoffnung, dass der Regen warten würde, bis die Eiersuche vorbei war. Während des gesamten Gottesdienstes achteten die Eltern nicht auf die Predigt, sondern lauschten nur darauf, ob es auf das Dach von St. Thomas zu trommeln begann.

Die Kirche roch nach frühen Maiglöckchen. An jeder Bankreihe waren kleine Sträuße aus den weißen Blüten und den kräftig grünen Blättern angebracht. Es sah bezaubernd aus.

Bis Paulette Legault mit einem solchen Sträußchen nach Timmy Benson warf. Dann brach die Hölle los. Der Pfarrer ignorierte sie natürlich.

Kinder rannten den kurzen Gang rauf und runter, und die Eltern versuchten, sie entweder aufzuhalten oder so zu tun, als wäre nichts. Das Ergebnis war dasselbe. Der Pfarrer sprach eine Fürbitte. Die Gemeinde sagte Amen, und alle verließen eilig die Kapelle.

Die anglikanischen Frauen hatten im Keller unter der Leitung von Gabri ein Mittagessen vorbereitet und auf dem Dorfanger waren Klapptische mit rot karierten Tischtüchern gedeckt.

»Fröhliche Eiersuche«, rief der Pfarrer und winkte, als er in seinem Auto die Rue du Moulin hochtuckerte, auf dem Weg zur nächsten Kirche in der nächsten Gemeinde. Er war sich ziemlich sicher, dass seine kleine Predigt niemanden gerettet hatte. Allerdings war auch keine Seele verloren, und das reichte ihm.

Ruth stand auf der obersten Stufe der Kirche und hielt mit beiden Händen einen Teller, auf dem sich ein riesiges Schinkensandwich mit knusprigem Brot aus Sarahs Bäckerei, hausgemachter Kartoffelsalat mit Ei und Mayonnaise und ein großes Stück Osterzopf türmten. Myrna trat neben sie, auf dem Kopf ein Tablett mit Büchern, Blumen und Schokolade. Die Dorfbewohner wanderten auf dem Dorfanger herum oder saßen an Klapptischen, Frauen mit ausladenden, bunt geschmückten Strohhüten, und Männer, die so taten, als bemerkten sie sie nicht. Myrna war neben Ruth stehen geblieben, auch ihr Teller begraben unter einem Berg Essen, und sie schauten gemeinsam bei der Ostereiersuche zu. Kinder flitzten durchs Dorf, kreischten und johlten vor Freude, wenn sie eines der Holzeier fanden. Die kleine Rose Tremblay wurde von einem ihrer Brüder in den Teich geschubst, und Timmy Benson blieb stehen, um sie herauszuziehen. Während Madame Tremblay ihren Sohn ausschimpfte, gab Paulette Legault Timmy eine Ohrfeige. Sie musste ihn lieben, dachte Myrna und war froh, dass sie nicht mehr zehn war.

»Wollen wir uns zusammen einen Platz suchen?«, fragte Myrna.

»Nein, wollen wir nicht«, sagte Ruth. »Ich muss nach Hause.«

»Wie geht’s den Hühnchen?« Myrna war nicht beleidigt wegen Ruths Antwort, sonst hätte sie ständig beleidigt sein müssen.

»Es sind keine Hühnchen, es sind Enten. Besser gesagt, Entchen.«

»Wo kriegen wir die richtigen Eier?« Rose Tremblay stand so unschuldig vor Ruth wie Rotkäppchen vor dem bösen Wolf und hielt drei wunderhübsche Holzeier in ihren molligen rosa Händchen. Aus irgendeinem Grund liefen die Kinder von Three Pines wie die Lemminge immer zu Ruth.

»Woher soll ich das wissen?«

»Du bist die Eierfrau«, sagte Rose, die in eine Decke gewickelt war und tropfte. Sie sah ein bisschen aus, dachte Myrna, wie eines von Ruths in Flanell gewickelten Enteneiern.

»Also, meine Eier liegen zu Hause im Warmen, und du solltest auch zu Hause im Warmen sein. Aber wenn du unbedingt deine Dummheit unter Beweis stellen willst, frag sie nach den Schokoladeneiern.« Ruth fuchtelte mit ihrem Stock wie mit einem krummen Zauberstab in Richtung Clara, die gerade versuchte, sich zu einem der Tische vorzukämpfen.

»Aber Clara ist doch gar nicht diejenige, die den Kindern die Schokoladeneier gibt«, sagte Myrna, als Rose davonschoss und die anderen Kinder rief, sodass es im nächsten Augenblick aussah, als würde ein Tornado auf Clara zurasen.

»Ich weiß«, sagte Ruth grinsend und humpelte die Treppe hinunter. Unten angekommen, drehte sie sich um und sah die dicke schwarze Frau an, die sich gerade ein Sandwich in den Mund stopfte. »Kommst du heute Abend?«

»Du meinst, zu dem Abendessen bei Clara und Peter? Kommt irgendjemand nicht?«

»Das meine ich nicht, und das weißt du auch.« Die alte Dichterin drehte sich nicht zu dem alten Hadley-Haus um, aber Myrna wusste auch so, was sie meinte. »Tu es nicht.«

»Warum nicht? Ich veranstalte schließlich selbst Rituale. Erinnerst du dich an damals, als Jane starb? Alle Frauen kamen, du auch, und wir nahmen zusammen eine rituelle Reinigung vor.«

Myrna würde niemals vergessen, wie sie mit den Frauen und einem Zweig rauchendem Salbei um den Dorfanger gegangen war, um die Angst und das Misstrauen zu vertreiben, die das ganze Dorf nach dem Mord an Jane ergriffen hatten.

»Das ist etwas anderes, Myrna Landers.«

Myrna war verblüfft, dass Ruth ihren Vornamen und sogar ihren Nachnamen wusste. Meistens deutete sie nur mit dem Zeigefinger auf die Leute und kommandierte sie herum.

»Das ist kein Ritual. Hier geht es darum, willentlich das Böse aufzustören. Hier geht es nicht um Gott oder irgendeine Göttin oder Geister oder Spiritualität. Hier geht es um Rache.

Weil ich alleine lebte, hängte man mich auf,

nur weil ich blaue Augen hab und dunkle Haut,

wegen abgetragner Röcke, abgerissner Knöpfe,

einem kargen Hof, der meinen Namen trägt,

und ’nem todsichren Mittel gegen Warzen.

Oh ja, und wegen Brüsten

und einer süßen, tief im Leib verborgnen Frucht.

Denn immer, wenn man von Dämonen spricht,

Dann kommen jene sehr gelegen.

Tu es nicht, Myrna Landers. Du kennst den Unterschied zwischen Ritual und Rache. Und den kennt das, was in diesem Haus ist, auch.«

»Meinst du wirklich, es geht um Rache?«, fragte Myrna.

»Aber natürlich. Lass es in Ruhe. Was sich auch in diesem Haus verbirgt, lass es in Ruhe.«

Sie fuchtelte mit ihrem Stock in Richtung des Hauses. Wenn er ein Zauberstab gewesen wäre, davon war Myrna überzeugt, dann wäre ein Blitz herausgeschossen und hätte das finstere Haus auf dem Hügel in Brand gesetzt. Ruth drehte sich um und humpelte nach Hause. Zu ihren Eiern. Zu ihrem Leben. Und ließ Myrna mit der Erinnerung an Ruths eindringliche blaue Augen, ihre stets gebräunte Haut, den abgetragenen Rock mit den fehlenden Knöpfen zurück. Sie sah der alten Frau nach, wie sie zu ihrem Haus mit den wuchernden Worten und dem Unkraut ging.

Der Regen blieb aus, und die Zeit flog schneller dahin als ein Schwarm Gänse. Timmy Benson fand die meisten Eier und erhielt zur Belohnung den riesigen, mit Spielzeug gefüllten Schokoladenhasen. Paulette Legault klaute ihm den Hasen, aber Monsieur Béliveau brachte sie dazu, ihn zurückzugeben und sich zu entschuldigen. Timmy, der in die Zukunft sehen konnte, brach die massiven Ohren ab und gab Paulette den Rest, die ihn zum Dank knuffte.

An diesem Abend fand bei Peter und Clara das traditionelle Ostersonntagsessen statt. Gilles und Odile kamen mit Baguette und Käse. Myrna brachte ein ausgefallenes Blumengesteck mit, das sie auf dem Tisch in der Küche platzierte. Jeanne Chauvet, das Medium, hatte auf einem Spaziergang einen kleinen Strauß Wiesenblumen gepflückt.

Sophie Smyth kam mit ihrer Mutter Hazel und Madeleine. Sie war tags zuvor zu Hause eingetroffen, ihr kleines blaues Auto bis unters Dach mit Schmutzwäsche gefüllt. Jetzt plauderte sie mit den anderen Gästen, während Hazel und Madeleine eine Platte mit Shrimps herumreichten.

»Sie sind also das Medium.« Sophie nahm ein paar Shrimps und stippte sie in die Soße.

»Ich heiße Jeanne.«

»Wie Jeanne d’Arc.« Sophie lachte. »Die heilige Johanna.« In ihre Stimme hatte sich ein höhnischer Unterton geschlichen. »Passen Sie auf sich auf. Sie wissen, wie sie endete.«

Sophie war groß und schlank und hielt sich gut, wenn sie ihre Nase auch ein bisschen zu hoch trug. Ihre schulterlangen Haare waren von einem dunklen Aschblond. Eigentlich war sie recht hübsch. Aber irgendetwas stimmte nicht mit Sophie. Etwas, das Jeanne veranlasste, sofort in Deckung zu gehen.

In diesem Augenblick traf Monsieur Béliveau mit Blaubeertörtchen aus Sarahs Bäckerei ein.

In der Wohnküche wurden Kerzen angezündet und Weinflaschen geöffnet. Das Haus roch nach Lammbraten mit Knoblauch und Rosmarin, nach neuen Kartoffeln und Lauch mit Sahnesoße und noch etwas anderem.

»Um Himmels willen, Dosenerbsen?« Clara sah in den Topf, den Gabri und Olivier hereingetragen hatten.

»Wir haben sie doch aus der Dose rausgenommen«, sagte Olivier. »Wo ist das Problem?«

»Sieh sie dir an. Sie sind ekelhaft.«

»An Ihrer Stelle würde ich das als persönliche Beleidigung auffassen«, sagte Gabri zu Monsieur Béliveau, der mit einem Glas Wein und einer Scheibe Baguette mit cremigem Brie in der Hand zu ihnen geschlendert war. »Wir haben sie immerhin in Ihrem Laden gekauft.«

»Madame«, sagte der Händler mit ernster Miene. »Das sind die besten Dosenerbsen, die man für Geld bekommt. Le Sieur. Ich glaube, sie wachsen schon in Dosen. Das Militär ist für die Züchtung dieser scheußlichen Hybridformen verantwortlich. Erbsen aus der Schote. Das ist kaum zu glauben. Ekelerregend.« Das sagte Monsieur Béliveau mit einer Ernsthaftigkeit, dass Clara ihm beinahe aufgesessen wäre, wenn da nicht dieses Blitzen in seinen Augen gewesen wäre.

Bald waren ihre Teller mit Lammbraten, Minzsoße und Gemüse beladen. Frisch gebackene Brötchen dampften in Körben, die zusammen mit Butter und Käse über den Tisch verteilt standen. Der Tisch seufzte unter dem angenehmen Gewicht, genau wie die Gäste. Myrnas Gesteck stand in der Mitte des Tischs, die knospenden Zweige reckten sich zur Decke. Sie hatte Apfelbaumzweige, Weidenkätzchen, Forsythien, deren gelbe Blüten gerade hervorzuspitzen begannen, und Tulpen in einem leuchtenden Pink zusammengebunden.

»Und«, sagte Myrna und wedelte wie ein Zauberer mit ihrer Serviette, »voilà.« Sie griff in das Gesteck und holte ein Schokoladenei heraus. »Das reicht für uns alle.«

»Wiedergeburt«, sagte Clara.

»Aber dazu muss es zuerst einen Toten geben«, stellte Sophie fest und sah sich mit gespielter Unschuld um. »Stimmt doch, oder?«

Sie saß neben Madeleine, gerade in dem Moment, als Monsieur Béliveau dort Platz nehmen wollte, hatte sie sich auf den Stuhl fallen lassen. Sophie packte das Schokoladenei und legte es vor sich.

»Geburt, Tod, Wiedergeburt«, sagte sie weise, als würde sie die Runde mit einem völlig neuen Gedanken bekannt machen, den sie frisch von der Universität mitgebracht hatte.

Sophie Smyth hatte etwas von einer Verwandlungskünstlerin an sich, dachte Clara. Das war schon immer so gewesen. Manchmal tauchte sie als Blondine auf, manchmal als Rotschopf, mal mollig oder schlank, manchmal gepierct und manchmal ohne jeden Schmuck. Man wusste nie, was einen erwartete. Aber eines blieb immer gleich, dachte Clara, während sie das Mädchen mit dem Ei vor sich betrachtete. Sie bekam stets, was sie wollte. Nur, was wollte sie?, fragte sich Clara und wusste, dass es vermutlich mehr als ein Osterei war.

Eine Stunde später sahen Peter, Ruth und Olivier den anderen hinterher, die in der Dunkelheit verschwanden, bis man von ihnen nur noch die hüpfenden Lichtkegel ihrer Taschenlampen sah. Zuerst blieben sie dicht beieinander, aber nach und nach lösten sich die Lichter voneinander, verteilten sich, bis jeder für sich allein auf das dunkle Haus auf dem Hügel zustapfte, das sie schon zu erwarten schien.

Jetzt mach dir nicht in die Hosen, sagte Peter zu sich selbst. Es ist doch nur ein dummes Haus. Was soll dort schon passieren?

Aber Peter Morrow erkannte berühmte letzte Worte.

Clara hatte sich nicht mehr so gefühlt, seit sie ein Kind gewesen war und sich absichtlich in Angst und Schrecken versetzt hatte, indem sie sich den Exorzisten ansah oder die Achterbahn mit dem Doppellooping in La Ronde bestieg, schlotternd und kreischend, einmal hatte sie sich sogar beinahe in die Hose gemacht.

Es war gleichzeitig aufregend, beängstigend und unheimlich. Je mehr sie sich dem Haus näherten, desto deutlicher hatte Clara das Gefühl, dass das Haus auf sie zukam und nicht umgekehrt. Sie erinnerte sich nicht einmal mehr daran, weshalb sie es machten.

Hinter sich hörte sie ein Rascheln und dann Stimmen. Zum Glück fiel ihr ein, dass Madeleine und Odile hinter ihr gingen, die Nachzügler. Dann fiel ihr noch ein, dass es in Horrorfilmen die Nachzügler immer zuerst erwischte, und sie verspürte Erleichterung. Nur wäre danach sie die Letzte. Sie beschleunigte ihren Schritt. Gleich darauf ging sie wieder langsamer, rang mit sich, ob sie lieber überleben oder belauschen wollte, was die beiden Frauen einander zu sagen hatten. Nach dem, was sie während des Ostereierversteckens zufällig mitbekommen hatte, war sie davon ausgegangen, dass Odile Mad nicht mochte. Worüber redeten sie also?

»Das ist einfach nicht gerecht«, sagte Odile gerade. Madeleine erwiderte etwas, das Clara nicht verstand, und wenn sie noch langsamer ging, dann würde der Lichtkegel von Madeleines Taschenlampe sie erfassen, was kein günstiges Licht auf sie werfen würde.

»Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, um das zu sagen.« Odile sprach jetzt lauter.

»Ach, Odile, das ist doch lächerlich!«, sagte Madeleine klar und deutlich und nicht besonders freundlich. Mit dieser Seite von Madeleine hatte Clara bisher noch keine Bekanntschaft gemacht.

Claras Aufmerksamkeit war so sehr darauf gerichtet, den beiden zu lauschen, dass sie unvermittelt mit einer dunklen Gestalt zusammenstieß. Gilles. Sie hob ihren Blick.

Sie waren da.

Das verlassene Haus

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