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Chief Inspector Armand Gamache warf über den Rand der Zeitung einen verstohlenen Blick auf seine kleine Enkelin. Sie saß am Ufer des Beaver Lake im Matsch und steckte ihren schmutzigen großen Zeh in den Mund. Ihr Gesicht war mit Matsch oder Schokolade oder etwas ganz anderem, was er sich lieber gar nicht erst vorstellen wollte, beschmiert.

Es war Ostermontag, und sämtliche Einwohner Montréals schienen dieselbe Idee gehabt zu haben. Einen Morgenspaziergang um den Mont Royal zum Beaver Lake auf dem Gipfel. Gamache und Reine-Marie sonnten sich auf einer der Bänke und sahen zu, wie ihr Sohn und seine Familie ihren letzten Tag in Montréal genossen, bevor sie nach Paris zurückflogen.

Laut quietschend wankte die kleine Florence ins Wasser, Gamache ließ die Zeitung fallen und war schon halb aufgesprungen, als er spürte, dass ihn eine Hand zurückhielt.

»Daniel ist da, mon cher. Das ist jetzt seine Aufgabe.«

Armand lehnte sich wieder zurück und sah immer noch sprungbereit zu. Neben ihm erhob sich sein junger deutscher Schäferhund Henri, der den plötzlichen Stimmungswechsel spürte. Aber da lachte Daniel auch schon und fing seine winzige, tropfnasse Tochter in seinen kräftigen, schützenden Armen auf und drückte sein Gesicht in ihren Bauch, was sie dazu brachte, zu lachen und den Kopf ihres Vaters zu umarmen. Gamache atmete tief durch, beugte sich zu Reine-Marie, küsste sie und flüsterte ein »Danke« in ihr ergrauendes Haar. Dann streckte er seine Hand aus, strich über Henris Flanke und gab auch ihm einen Kuss auf den Kopf.

»Braver Junge.«

Jetzt konnte sich Henri endgültig nicht mehr beherrschen, er sprang auf und machte Anstalten, die Pfoten auf Gamaches Schultern zu legen.

»Nein«, befahl Gamache. »Sitz.«

Henri ließ sich sofort zurücksinken.

»Platz.«

Henri legte sich zerknirscht hin. Es gab keinen Zweifel, wer hier das Alphatier war.

»Braver Junge«, sagte Gamache und gab Henri einen Hundekeks zur Belohnung.

»Braver Junge«, sagte Reine-Marie zu Gamache.

»Und wo ist meine Belohnung?«

»Monsieur l’inspecteur! In einem öffentlichen Park?« Sie warf einen Blick zu den anderen Familien, die durch den Parc Mont Royal spazierten, den wunderschönen, hügeligen Park, der sich mitten in Montréal erhob. »Wobei es wahrscheinlich nicht das erste Mal wäre.«

»Für mich schon.« Gamache lächelte und wurde ein wenig rot, froh, dass Daniel und seine Familie nicht zuhörten.

»Du bist auf eine etwas ungeschlachte Art bezaubernd.« Reine-Marie gab ihm einen Kuss. Gamache hörte ein Rascheln und sah, wie der Feuilletonteil seiner Zeitung davonflog, ein Blatt nach dem anderen. Er sprang auf, rannte hierhin und dorthin, versuchte, auf die Blätter zu treten, bevor sie ganz wegflogen. Florence, die mittlerweile in eine Decke gewickelt war, sah ihm zu, deutete mit ihrem Finger auf ihn und lachte. Daniel stellte sie auf den Boden, und sie stampfte auch mit den Füßen. Gamache stampfte kräftiger, bis Daniel, seine Frau Roslyn und die kleine Florence alle herumstampften und eingebildeten, frech herumflatternden Zeitungsseiten hinterherjagten. Gamache als Einziger den echten.

»Gut, dass Liebe blind macht«, sagte Reine-Marie lachend, nachdem Gamache zu ihrer Bank zurückgekehrt war.

»Und nicht gerade schlau«, stimmte Gamache ihr zu und drückte ihre Hände. »Ist dir warm genug? Möchtest du einen Kaffee?«

»Ja, gern.« Seine Frau sah von ihrer Zeitung, La Presse, auf.

»Warte, Dad, ich helfe dir.« Daniel übergab Florence seiner Frau, und die beiden Männer machten sich auf den Weg zu dem Pavillon im Wald, unweit des Sees. Jogger liefen keuchend die Pfade auf dem Mont Royal entlang. Hier und da erschien ein Reiter auf einem der Reitwege und verschwand wieder. Es war ein strahlender Frühlingstag, die Luft war angenehm warm.

Reine-Marie sah ihnen hinterher, zwei in der Menge auf und ab hüpfende Köpfe. Sie waren sich so ähnlich. Groß und kräftig wie Eichen, Daniels braune Haare fingen gerade an, sich zu lichten, während die von Armand oben schon fast verschwunden waren. Die Seiten, kurz und dunkel, wurden langsam grau. Mit seinen Mitte fünfzig hielt sich Armand Gamache sehr aufrecht, genau wie sein Sohn, der schon unglaubliche dreißig war.

»Vermisst du ihn sehr?« Roslyn setzte sich neben ihre Schwiegermutter und sah in das freundliche, von feinen Fältchen durchzogene Gesicht. Sie mochte Reine-Marie sehr, und zwar von ihrer ersten Begegnung an, als sie bei den Gamaches zum Essen eingeladen gewesen war. Daniel und sie kannten sich damals noch nicht lange, und er wollte sie seiner Familie vorstellen. Sie war wie vom Donner gerührt. Zum einen wusste sie damals schon, dass sie Daniel liebte, zum anderen sollte sie nun auch noch den berühmten Chief Inspector Armand Gamache kennenlernen. Er hatte die schwierigsten Mordfälle gelöst, unbestechlich und ohne sich je aus der Ruhe bringen zu lassen, das hatte ihn in Québec geradezu zu einer Legende werden lassen. Sie war mit seinem Gesicht aufgewachsen, das sie von der anderen Seite des Frühstückstischs ansah, wenn ihr Vater die Berichte über Gamaches Großtaten las. Gamache war auf diesen Bildern über die Jahre gealtert, die Haare waren ihm ausgegangen und ergraut, das Gesicht ein wenig breiter geworden. Ein gestutzter Schnurrbart war aufgetaucht und Falten, die nicht vom Zeitungspapier stammten, stellten sich ein.

Jetzt sollte sie diesem Mann leibhaftig begegnen, unglaublich.

»Herzlich willkommen.« Er hatte sie angelächelt und mit einer kleinen Verbeugung begrüßt, als er die Tür der Wohnung in Outremont öffnete. »Ich bin Daniels Vater. Treten Sie ein.«

Er trug für das sonntägliche Mittagessen graue Flanellhosen, eine bequeme Kaschmirjacke mit Hemd und Krawatte. Er roch nach Sandelholz, und seine Hand fühlte sich warm und fest an, vertraut. Sie kannte diese Hand. Die von Daniel fühlte sich genauso an.

Das war vor fünf Jahren gewesen, seither war vieles passiert. Sie hatten geheiratet und Florence bekommen, und eines Tages war Daniel in die Wohnung gestürzt und hatte ihr erzählt, dass eine Managementfirma ihm eine Stelle in Paris angeboten hätte. Nur einen Zwei-Jahres-Vertrag, aber immerhin, was sie davon hielte?

Sie musste nicht lange nachdenken. Zwei Jahre Paris? Eines davon war mittlerweile vergangen, und sie waren nach wie vor begeistert. Aber gleichzeitig vermissten sie ihre Familien und wussten, wie schwer den beiden Großelternpaaren der Abschied von Florence am Flughafen gefallen war. Ihre ersten Schritte und Worte nicht mitzubekommen, den ersten Zahn und die niedlichen Grimassen und wechselnden Launen. Roslyn hatte erwartet, dass es ihre Mutter am härtesten anging, aber stattdessen schien es Papa Armand am schlimmsten zu treffen. Als sie durch den verglasten Korridor zu ihrem Flugzeug ging und sah, wie er die Hände gegen die Scheibe im Warteraum presste, brach ihr fast das Herz.

Aber er hatte nichts gesagt. Er war froh für sie, und das hatte er ihnen auch zu verstehen gegeben. Er hatte sie gehen lassen.

»Wir werden euch alle vermissen.« Reine-Marie nahm ihre Hand und lächelte sie an.

Jetzt war ein zweites Kind unterwegs. Sie hatten es den Eltern Karfreitag beim Abendessen gesagt, sie waren völlig aus dem Häuschen gewesen. Ihr Vater hatte Champagner aufgemacht, und Armand war rasch losgelaufen, um eine Flasche mit alkoholfreiem Cidre zu kaufen, damit sie alle anstoßen konnten.

Während sie auf den bestellten Kaffee warteten, nahm Armand seinen Sohn am Arm und führte ihn ein Stück in den Pavillon hinein, weg von den neugierigen Blicken anderer. Er griff in seine Barbour-Jacke und reichte Daniel einen Umschlag.

»Dad, das brauche ich nicht«, flüsterte Daniel.

»Bitte nimm es.«

Daniel ließ den Umschlag in seiner Tasche verschwinden. »Danke.«

Der Sohn umarmte den Vater, und es sah aus, als träfen zwei Megalithen von der Osterinsel aufeinander.

Aber Gamache hatte sich nicht weit genug mit Daniel zurückgezogen. Jemand hatte sie gesehen.

Roslyn und Florence hatten sich zu einer anderen jungen Familie gesellt, und Daniel ging zu ihnen, während Gamache sich wieder auf der Bank niederließ, seiner Frau ihren Kaffee gab und erneut die Zeitung in die Hand nahm. Reine-Marie hatte sich in den politischen Teil von La Presse vertieft. Es fiel ihm auf, dass sie nicht einmal davon aufsah, er wusste, dass sie genau wie er beim Lesen manchmal alles andere vergaß. Henri schlief in der Sonne zu seinen Füßen, und er betrachtete die Leute, die vorbeigingen, während er an seinem Kaffee nippte.

Es war ein wunderbarer Tag.

Nach einigen Minuten ließ Reine-Marie die Zeitung sinken. Sie sah beunruhigt aus. Fast verängstigt.

»Was ist los?« Gamache legte seine große Hand auf ihren Unterarm, suchte ihren Blick.

»Hast du die Zeitung gelesen?«

»Bislang nur das Feuilleton, warum?«

»Ist es möglich, dass man zu Tode erschrickt?«

»Warum fragst du?«

»Offenbar ist das jemand. Zu Tode erschrocken.«

»Das ist ja schrecklich.«

»In Three Pines.« Reine-Marie sah ihm prüfend ins Gesicht. »Im alten Hadley-Haus.«

Armand Gamache erbleichte.

Das verlassene Haus

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